Ort: Parc del Fòrum, Barcelona
Bands: The Beths, Julia Jacklin, The Wedding Present, Sparks, Karate, Alvvays, Kendrick Lamar

Primavera Sound Festival – Barcelona, 02.06.2023

Natürlich gab es auch dieses Jahr lästige Überschneidungen. Aber im Gegensatz zu den Jahren davor mühte ich mich nicht, alles zu sehen, was ich sehen wollte. 10000 Schritte pro Tag sind zwar ein erstrebenswerter Bewegungswert, aber ich hatte keine Lust auf ein ewiges hin und her. Nein, ich wollte mich lieber auf die für mich wichtigen Konzerte konzentrieren, auch wenn ich dafür andere verpasse. Gestern fuhr ich mit diesem Ansatz ganz gut, ich sah Blur und New Order aus ordentlicher Entfernung zur Bühne, ich sah erstmals Come und ganz allgemein verlebte ich einen tollen, entspannten Tag.

Der Freitag steht für mich ganz im Zeichen von zwei Konzerten. Karate und Kendrick Lamar. Beide Auftritte wollte ich seit dem Augenblick sehen, seitdem die Namen im Lineup auftauchten. Ohne Wenn und Aber, ohne den Hauch eines Kompromisses.

Sparks - Primavera Sound Festival 2023

Der Zeitplan ergibt, dass das klappt. Und dass das sogar ohne größere Kopfschmerzen und Wehmut als zum Beispiel gestern bei den Überschneidungen Come/Built to Spill und Blur/Le Tigre klappt. Na ja, fast. Karate spielen zeitgleich mit den Moldy Peaches und Depeche Mode. Natürlich hätte ich auch gerne die Moldy Peaches gesehen. Ich denke, dass ich nie mehr die Gelegenheit bekomme, die Band um Adam Green – den ich Anfang der 2000er Jahre sehr gerne hörte – und Kimya Dawson live zu sehen. Und Depeche Mode, ach die sind mir seit Violator ziemlich egal. Da ist mir der verpasste Auftritt der Nation of Language schon ärgerlicher. Die Newcomer aus Brooklyn spielen parallel zu Kendrick Lamar. Aber sicher kommen sie im Herbst oder so nochmal nach Europa.

Der Tag beginnt früh. Um 17 Uhr spielen The Beths aus Neuseeland auf der vielleicht schönsten Bühne des Festivals. Die Dice Bühne (deren Name sich jetzt schon seit einigen Jahren hält) liegt direkt am kleinen Yachthafen. Julia Jacklin und Band hätten mit The Beths eine Fahrgemeinschaft bilden können. Was ich nicht wusste, aber während des Konzerts lernte, die Singersongwriterin stammt aus Australien. Als ich sie vor einigen Jahren hier erstmals live gesehen habe – damals am CCCB in der Innenstadt im Rahmen des Primavera Day Programms -, hätte ich darauf gewettet, dass sie aus dem mittleren Westen der USA stammt. Ihren Folk empfand ich doch arg country-esk, ihren Cowboyhut auch.

Nun ja. Beim Primavera sieht man sich zweimal. Mindestens. Oder wie Shellac sagen würden: man sieht sich immer. Musikalisch ist Julia Jacklin ein guter Start in den Tag. Ihre Songs sind überraschend gut, so gut hatte ich sie gar nicht in Erinnerung. Ob ich mir aber gleich alle drei bisher veröffentlichten Alben zulege, glaube ich eher nicht. Eventuell eins. „Love, try not to let go“ (erinnert mich an The Weather Station) und „I was neon“ gefallen mir sehr, und beide Songs sind auf ihrem aktuellen Album Pre Pleasure

Julia Jacklin - Primavera Sound Festival 2023

Nach Julia Jacklin wollte ich mir die The Delgados anschauen. Eigentlich, denn als ich in der Primavera App nochmal die Anfangszeiten checke, lese ich plötzlich, dass das für viel später geplante Kurzkonzert von The Wedding Present auf der kleinen The Vision Stage auf 19.30 Uhr vorgezogen wurde. Ich bekomme nichts mit, wie es scheint.

Es gibt an diesem Tag einige Planänderungen: Bleachers haben ihr Konzert abgesagt, dafür springen The Wedding Present um Mitternacht auf der Ron Brugal Bühne ein. Ursprünglich hätten sie zu diesem Zeitpunkt aber auf der The Vision Stages einen halbstündigen Slot gehabt. Und der wurde jetzt scheinbar vorverlegt. Was auch bedeutet, dass man The Wedding Present an diesem Tag zweimal sehen könnte; was ich jedoch nicht vorhatte. Okay, das hat Vorrang. Nichts wie hin. Es gibt zwar noch viel Zeit, aber ich wollte unbedingt zu den 100 Personen gehören, die auf die kleine Halbinsel zugelassen werden.

Die Vision Stage wird von einem der Hauptsponsoren des Festivals, Pull & Bear, unterstützt. Überall sehe ich die Hinweise, später erzählt David Gedge, dass sich alle sogar Pull & Bear Klamotten aussuchen durften. Oder war das ein Scherz? Na, ich glaube nicht. Ich mache mich also auf den Weg. Und siehe da, ich bin nicht der Erste, der vor der Vision Stage wartet. Vielleicht 15 Leute sind schon vor der Band da. Die kommt nämlich just in dem Augenblick in einem schwarzen Van vorgefahren, in dem ich über den Steg zur Bühne gehe. The Wedding Present sind überall. Gleich auf der kleinen Bühne, in der Nacht auf der großen Bühne, heute früh im Hotel.

The Wedding present - Primavera Sound Festival 2023

Soundchecking; und David Gedge macht gerne ein paar Selfies und scheint guter Laune. Er lässt sich noch schnell die Hosenbeine richten und dann verschwindet die Band zur finalen Konzertvorbereitung hinter der Bühne.
Der kleine Vorplatz füllt sich ziemlich schnell; einige aus dem The Beths Publikum erkenne ich wieder. Später laufen wir uns folgerichtig auch bei Alvvays über den Weg. Indiepublikum ist so berechenbar! Minuten vor Konzertbeginn von The Wedding Present ist die Plattform voll. Die Band, die bei den beiden Konzerten auf ihren Gitarristen Jon Stewart  verzichten musste, spielt bei diesem kleinen Auftritt neun Songs. Darunter der für mich schönste Song des Festivals: „Interstate 5!“ Was für ein Riesenhit. Der perfekte Indierocksong und das keinen Deut weniger.

Neben alten Gassenhauern – und sie spielen fast nur alte Gassenhauer – spielen sie auch einen neuen Song. „Astronomic“ ist eine der 12 Singles (24 songs), die die Band im letzten Jahr veröffentlicht hat. Und sie bringt gleich ein Dilemma: David Gedge hat den Text noch nicht 100%ig drauf, sein iPad mit allen Texten allerdings im Hotelzimmer vergessen. Ein Handy wird am Mikrofonständer installiert, es passt aber nicht in die Arretierung. Als sie schon die Setlist umstellen wollen, hilft ein Fan mit starkem Arm. Er hält David Gedge das Handy einen Song lang unter die Nase und alles ist gut.

Es sind wunderbare 30 Minuten, die wir auf der Vision Stage erleben. Auch sowas ist das Primavera Sound Festival.

Setlist:
01: Interstate 5
02: A Million Miles
03: You should always keep in touch with your friends
04: Astronomic
05: Crushed
06: My favourite dress
07: Make me smile (Come up and see me)
08: Kennedy
09: Brassneck

Auf dem Weg zum Karate Konzert komme ich bei den Sparks vorbei. Ein kurzer Zwischenstopp, mehr ist nicht drin. Die Boston Connection ist neben den Hauptbühnenkonzerten mein zweites großes Primavera Happening in diesem Jahr. Come gestern, Karate heute. Purer Indierock aus den 1990er Jahren. Ich mag sowas ja, und so stand es komplett außer Frage, die beiden Auftritte nicht zu sehen.

Karate - Primavera Sound Festival 2023

Als Karate die kleine Dice Bühne ganz hinten am Kaiende unter dem Solardach betreten, ist es davor voll. Mhh, die Band scheint bekannter als ich dachte.
Nach längerer Pause haben sich Geoff Farina, Jeff Goddard und Gavin McCarthy dazu entschieden, wieder gemeinsam Musik zu machen. Im letzten Jahr spielten sie eine kleine Europatour, unter anderem traten sie in Genk (ich wusste das nicht!!!) und anderswo in Belgien auf. Zu ihrer ersten aktiven Zeit – also zwischen 1993 und 2005 – hatte ich die Bostoner Band eher weniger auf meinem Schirm. Genauso wie bei Come wusste ich zwar, dass es die Band gibt, aber sie liefen eher so nebenher. Erneut und dann intensiver aufmerksam wurde ich erst vor einigen Jahren, als ihre Songs in irgendeiner Umbaupause aus den Boxen dröhnten. Ich dachte erst an Grandaddy oder Idaho, war dann aber mehr als überrascht, als Shazam mir „This day next year“ von Karate auswirft. Ich hatte die Band echt ein bisschen vergessen.

Karate spielen großartige Gitarrensoli. Irgendwo zwischen Emo-, Indie- Jazzrock ist ihr Sound zu verorten. Sie erinnern an Bands wie Tortoise, Slint, Idaho. Die elf Minuten von „This day next year“ gönnen sie sich und uns als letzten Song. Geoff Farina kannverdammt schön Geschichten erzählen. Das muss ich wirklich sagen. Es macht Spaß, ihm zuzuhören. Sein Sprechgesang klingt immer ruhig, immer ausgeglichen, seine sonore Stimmlage ist enorm unaufgeregt und drängt nie in den Vordergrund. Dagegen stehen oft die Gitarrensoli, die Karate manchmal etwas übertrieben zelebrieren. Dann wollen ihre Songs kein Ende nehmen, dann drehen sie noch eine Schleife, obwohl sie schon sieben oder so gedreht haben.

Nach Karate bleibe ich hinten unter dem Solarsegel, ich wechsle nur nach nebenan zur größeren Plenitude Bühne. Bis zum Beginn von Kendrick Lamar möchte ich mir Alvvays anschauen. Eine Band, deren Videos sehr oft in meine Timelines gespült werden.

Alvvays - Primavera Sound Festival 2023

Alvvays machen Dreampop. Soweit, so interessant. Leider fasziniert mich das nach den beiden Herausragkonzerte von Karate und The Wedding Present nicht stark genug, als dass ich aufmerksam und gespannt zuhören kann. Etwa zur Hälfte des Gigs setzt bei mir stärkere Langeweile ein, und ich entschließe mich dazu, etwas früher zu den beiden großen Bühnen zu gehen. Aus den Boxen dröhnt „Just can’t get enough“. Ich bin so früh am Gelände, dass ich von der entfernteren Bühne noch die komplette Depeche Mode Zugabe mitbekomme.

Zuvor unterlief mir der Lapsus des Festivals. Auf dem Weg über das Gelände kam ich wieder an der Vision Stage vorbei und just in dem Augenblick fiel mir ein, dass Japanese Breakfast dort gerade ihren Promo-Gig spielen. Ich höre ihre Ansage vor den letzten beiden Songs und sehe, wie auch jetzt noch Leute auf die Bühneninsel gelassen werden. ‘Mist’, denke ich, ‘so klein werde ich Michelle Zauner sicherlich nicht mehr sehen. Warum bloß bin ich nicht direkt am Ufer entlang gegangen. Bis ich jetzt wieder zurück und auf dem richtigen Weg bin, ist die Zugabe vorbei.’ Ich hatte das irgendwie falsch eingeschätzt. Ich dachte, der Auftritt von Japanese Breakfast wird so knackevoll, dass es wenig Sinn ergibt, spontan hier vorbeizuschauen. Deswegen zog ich es nach einem zähen Alvvays Beginn gar nicht erst in Betracht. Und eine Frage bleibt unbeantwortet: Bekam sie auch Kleidung geschenkt?

Stattdessen also Depeche Mode.

Dave Gahan sieht alt aus. Sein Bild springt mir von fünf Großleinwänden entgegen. Martin Gore auch. Ich beobachte das Konzert via Leinwand. Es wirkt merkwürdig auf mich. irgendwas scheint nicht zu passen. Ich komme aber nicht dahinter. Zu sehr bin ich auch damit beschäftigt, weiter nach vorne zu gehen, als mich auf die drei Zugaben und das Bühnengeschehen zu konzentrieren. Es bleibt aber das Gefühl, dass es richtig war, sich das Konzert nicht anzuschauen.

Setlist (Zugabe):
Just can’t get enough
Never let me down again
Personal Jesus

Auf der anderen, näheren Bühne tritt in einer halben Stunde Kendrick Lamar auf. Ich bin gespannt auf seine Bühnenshow. Als er im Frühjahr ein paar Europakonzerte spielte, war die phänomenal gut und ausschweifend. So etwas ähnliches erwarte ich auch beim Primavera, aber natürlich nicht mit schwebendem Glaskäfig und einem ewig langen Laufsteg. Das lässt sich ja gar nicht für einen Festivalauftritt umsetzen, wenn danach noch jemand dieselbe Bühne bespielt. Aber ein bisschen sowas in die Richtung dachte ich, ginge schon.
Doch Pustekuchen. Es gibt nichts dergleichen. Alleine steht Kendrick Lamar auf der Bühne, die von einem großen Vorhang bedeckt ist, und performt seine Songs. Aus der Entfernung sehe ich noch nicht einmal einen DJ und Turntables.

Kendrick Lamar - Primavera Sound Festival 2023

Der Rapper steht ganz alleine auf der Bühne. Erst ein paar Songs später, wenn sich der Vorhang leicht hebt und eine Lücke freigibt, kommen drei Tänzer hinzu. Später sind es sieben.
Kendrick Lamar weiß alleine zu beeindrucken. Alle. Das Konzert ist eines der besseren beim diesjährigen Primavera. Der Pulitzer-Preisträger (2018 für sein Album Damn) hat die Meute direkt auf seiner Seite und badet nahezu pausenlos in einem Handymeer. Zumindest sieht das aus meiner Position so aus. Ich sehe sehr oft nur Displays.

Das Konzert ist für einen gute Stunde angesetzt, Hauptact an diesem Freitag ist er nicht. Nach ihm werden noch nacheinander Fred again… und Skrillex auf den beiden großen Bühne antreten.

Für mich ist das okay. Nach der sehr langen Nacht gestern bedeutet das, dass es heute eher ins Hotel geht. Auf dem Weg zum Ausgang erhasche ich noch ein paar Minuten Bad Religion. Hätte ich auch gerne ganz gesehen, ebenso wie die Nation of Language. Aber für eins musste ich mich entscheiden. Und es ist gut, Kendrick Lamar einmal live gesehen zu haben.

Kontextkonzerte:
The Wedding Present – Berlin, 17.10.2016 / Privatclub
The Wedding Present – Köln, 15.10.2010 / Gebäude 9
Primavera Sound Festival – Barcelona, 01.06.2023
Primavera Sound Festival – Barcelona, 31.05.2023
Meine ersten 10 Jahre Primavera Sound Festival
Primavera Sound Festival – Barcelona, 11.06.2022
Primavera Sound Festival – Barcelona, 10.06.2022
Primavera Sound Festival – Barcelona, 09.06.2022
Primavera a la Ciutat – Barcelona, 05.06. bis 08.06.2022
Primavera Sound Festival – Barcelona, 04.06.2022
Primavera Sound Festival – Barcelona, 03.06.2022
Primavera Sound Festival – Barcelona, 02.06.2022
Primavera Sound Festival – Barcelona, 01.06.2019
Primavera Sound Festival – Barcelona, 31.05.2019
Primavera Sound Festival – Barcelona, 30.05.2019
Primavera Sound Festival – Barcelona, 29.05.2019
Primavera Sound Festival – Barcelona, 29.05. – 02.06.2018
Primavera Sound Festival 2017
Primavera Sound Festival – Barcelona, 04.06.2017
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Primavera Sound Festival – Barcelona, 01.06.2017
Primavera Sound Festival – Barcelona, 31.05.2017
Primavera Sound Festival Barcelona
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Primavera Sound Festival – Barcelona, 30.05.2015
Primavera Sound Festival – Barcelona, 29.05.2015
Primavera Sound Festival – Barcelona, 28.05.2015
Primavera Sound Festival – Barcelona, 27.05.2015
Primavera Sound Festival – Barcelona, 31.05.2014
Primavera Sound Festival – Barcelona, 30.05.2014
Primavera Sound Festival – Barcelona, 29.05.2014
Primavera Sound Festival – Barcelona, 28.05.2014
Primavera Sound Festival – Barcelona, 25.05.2013
Primavera Sound Festival – Barcelona, 24.05.2013
Primavera Sound Festival – Barcelona, 23.05.2013
Primavera Sound Festival – Barcelona, 01.06.2012
Primavera Sound Festival – Barcelona, 31.05.2012
Primavera Sound Festival – Barcelona, 31.05.2012
Primavera Sound – Barcelona, 28.05.2011
Primavera Sound – Barcelona, 27.05.2011
Primavera Sound – Barcelona, 26.05.2011
The Charlatans – Primavera, 29.05.2010
A sunny day in Glasgow, Condo Fucks – Primavera, 28.05.2010
Pavement, The xx – Primavera, 27.05.2010

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