Ort: TivoliVredenburg / Janskerk, Utrecht
Bands: Myriam Gendron, Maria BC, Lewsberg, Sarathy Korwar, Divide and Dissolve, The Notwist, Personal Trainer, They hate change, Dry Cleaning, Zs, clipping., Muriel Großmann Quartet, Lucrecia Dalt, Cate Le Bon, Liv.e, Marina Herlop, Supersilent, Horse Lords, Panda Bear & Sonic Boom

TivoliVredenburg

TivoliVredenburg is a unique contemporary music complex for all kinds of music and entertainment.

So lapidar steht es auf der Homepage des Veranstaltungscenters. Was sich dahinter verbirgt, ist allerdings enorm und beeindruckend. Fünf Hallen bzw. Konzerträume, vom Grote Zaal bis hin zum kleinen Club Nine bietet die TivoliVredenburg Veranstaltern die Möglichkeit, nahezu jede Kategorie an Raumart und -größe anzubieten. 2014 feierte die ‘Shopping Mall of concert venues’, wie das Gebäude vom clipping. Mann Daveed Diggs respektvoll genannt wird, ihre Eröffnung. Es ist so ein Gebäude, das man kennen sollte. Zumindest, wenn man Musik- und Konzertliebhaber ist. Die Basis der Tivoli Vredenburg ist der alte Utrechter Symphoniesaal, um den das 45 Meter hohe Gebäude herum gebaut wurde. Der alte Symphoniesaal ist auch heute noch in Nutzung, es ist der größte Saal in der Tivoli Vredenburg. Daneben gibt es die weiteren vier Konzertsäle Ronda, Pandora, Hertz und Cloud Nine.

Vom 10. bis 13. November findet hier und in weiteren Spielorten Utrechts das Le Guess Who Festival statt. Das Le Guess Who ist ein Festival der besonderen Art. Im Lineup findet man nicht die üblichen Verdächtigen als Headliner; es schart nicht einfach die aktuell auf Tour befindlichen Musiker*innen zusammen, sondern es bietet eine breite Auswahl an Musik unterschiedlichster Arten und Herkünfte. Von Jazz über Minimal Music, Soul, Indiepop und Avantgarde ist alles dabei. Das fordert natürlich den Besucher. Und der sollte ein gewisses Maß an Aufgeschlossenheit und Neugierde auf neue Musik mitbringen. Macht er das nicht, sondern setzt man nur auf bekannte Namen, kann es schnell langweilig und uninteressant werden. Neugierde und Entdeckerlust sind zwei unabdingbare Eigenschaften, die ein Le Guess Who Besucher mitbringen sollte. Mehr als bei anderen Festivals gilt es, sich bereits im Vorfeld die Künstler*innen des Festivals zu erarbeiten, Songs zu hören, Informationen einholen und sich grundsätzlich schlau zu machen. Sonst steht man schnell auf verlorenem Posten, weiß im TivoliVredenburg nicht wohin und ist komplett überfordert und verloren.

Le Guess Who? Festival - Utrecht, 10.11 - 13.11.2022

Auch ich brauche im Vorfeld ein wenig Vorbereitungszeit, um die mir meist unbekannten Musiker*innen kennenzulernen und mir einen Plan zurechtzulegen. Dry Cleaning, The Notwist oder Cate Le Bon kenne ich. Klar, die kennt jeder. Aber Muriel Grossmann, Liv.e oder Myriam Gendron kenne ich nicht. Jazz, Hiphop und Folk machen die drei Musikerinnen und was hätte ich für schöne Auftritte verpasst, wenn ich mich vorher nicht informiert hätte. Das sind zwei Konjunktive in einem Satz und ich kann nur jedem, der das Le Guess Who Festival besucht, empfehlen, diese Konjunktive zu minimieren. ‘Ach hätte ich bloß, …’ man kann das nach dem Festival sehr oft sagen, oder ein, zwei Jahre später, wenn Bands auf einmal in den Mainstream drängen oder man im Nachgang von einem dieser schönen Konzerte beim Le Guess Who liest, dass man selber aus Unwissenheit verpasst hat.

In den vier Konzerttagen gibt es viel zu entdecken und auch vieles, was man nicht sehen kann. Natürlich sind die Konzerte parallel angesetzt und natürlich verpasst man auch das ein oder andere Konzert, weil man von Location zu Location wandert oder in den ein oder anderen Saal nicht mehr hineinkommt.

Ich konzentrierte mich bei meiner Konzertplanung auf das TivoliVredenburg. Bis auf den Auftritt von Myriam Gendron in der Janskerk finden in den vier Sälen des Mutterschiffs des Le Guess Who alle meine Konzerte statt. Das erleichterte die Planungen ungemein und ich hatte keinerlei Probleme, die Konzerte, die ich sehen wollte, auch zu sehen. Sprich, ich fand in jedem Saal Einlass. So gelang es mir, durchschnittlich fünf Konzerte pro Abend zu sehen. Nur am Samstag hatte ich einen kleinen Durchhänger, da konnte ich mich nur zu drei Konzertbesuchen aufraffen.

Den Anfang macht am Donnerstag Myriam Gendron in der Janskerk, ich starte also mit meinem einzigen nicht-Tivoli Konzert.

Myriam Gendron kommt aus Kanada und macht Singersongwriter-Folk. Der passt natürlich sehr gut in eine Kirche, hier ist es ruhig, das Publikum andächtig. Die Sängerin bedient sich der Loop Technik, um ihren Songs mehr Tiefe zu geben. Das ist nichts neues, klingt aber toll. Dazu singt sie in französischer, öfter jedoch in englischer Sprache Songs über die Welt und das Leben. Im letzten Song covert sie Michael Hurleys „Werewolf“. Das passt wie der Deckel auf den Topf.

Dann geht’s für mich zum TivoliVredenburg. Im zweitkleinsten Saal des Tivoli, im Hertz, komme ich gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Auftritts der Amerikanerin Maria BC. Die 23-Jährige macht Folkmusik, allerdings unterscheidet sie sich klar von dem Folk der Myriam Gendron. Maria BC klingt nach Kate Bush oder Mazzy Star, ihre Stimme klingt todtraurig, ihre Sounds wirken ein leichtes Unbehagen hervor. Dazu laufen auf einer Leinwand schöne, dystopische Visuals. Immer wird sampelt sie Sounds in ihr Gitarrenspiel, das sie ebenso loopt wie Myriam Gendron. Maria BC ist das erste Mal in Europa, ihr Konzert in Utrecht ihr Europadebüt. Hyaline heißt ihre erste Platte, die im Frühjahr veröffentlicht wurde. Ein echter Kauftipp und der Auftritt von Maria BC ein erster Festivalhöhepunkt.

Maria BC. Le Guess Who Festival 2022.

Danach folgt schon der zweite Höhepunkt. Ein paar Treppenstufen tiefer spielt die niederländische Band Lewsberg ein verdammt schönes Indiepopkonzert. Arty, knarzige Gitarren, stoischer Sprechgesang und immer diese gewisse kühle, die Post-Punk Songs benötigen, so klingen Lewsberg. Ich habe bereits einige schöne Dinge über Lewsberg gehört, gesehen habe ich den Fünfer bisher allerdings nicht. Lewsberg noch nicht kennen sollte: Die Band kommt aus Rotterdam und besteht ausArie van Vliet, Michiel Klein, Shalita Dietrich und Joris Frowein. Mir gefällt ihr Konzert sehr, ein bisschen erinnert mich ihr Auftritt an ein The Fall Konzert.

Lewsberg. Le Guess Who Festival 2022.

Zwei Rolltreppenfahrten tiefer spielen anschließend im Ronda Saal Divide and Dissolve und The Notwist. Ich könnte während der Umbaupause eigentlich hierbleiben und dem DJ zuhören, der viel von Low (die eigentlich auch auf dem Le Guess Who auftreten sollten) und anderen Indiekram spielt, aber es zieht mich kurz in den Grote Zaal im Untergeschoss der TivoliVredenburg zum Konzert des Künstlers Sarathy Korwar. In einem Satz zusammengefasst: Jazz in afrikanischen Klängen. Nicht wirklich was für mich und ich beschließe, mir den Lärm von Divide and Dissolve in Gänze anzuhören. Die Band war mit Low auf Tour und die Gitarristin Takiaya Reed hat die ein oder andere Geschichte zu erzählen. Man merkt es ihr an, es ist ihr ein Bedürfnis, über die verstorbene Mimi Parker zu reden und ihre Eindrücke zu teilen. Das führt dazu, dass beinahe mehr gesprochen als musiziert wird; für mich wird es dadurch ein eher bedrückendes Konzert. Ich spüre die Emotionalität, die Takiaya Reed mit sich trägt.

Divide and Disslove. Le Guess Who Festival 2022.

Musikalisch sind Divide and Dissolve, oder namentlich Die Amerikanerin Takiaya Reed und die Australierin Sylvie Nehill eine krude Mischung aus Mogwai und SunnO))) und in den seichten Momenten an Japandroids ohne Gesang. Schlagzeug und Gitarre, manchmal loopen sie ein Saxophon in ihre Songintros. Das ist ihr Setting und mehr braucht die Wucht ihrer Musik auch nicht. Das Schlagzeug klingt hart, die Gitarre mehr wütend als freundschaftlich. Mir gefällt das, auch wenn sie im Laufe ihres Konzertes den Ronda Saal annähernd leer spielen.

Während der Umbaupause läuft Low. Natürlich, möchte ich sagen. Ursprünglich sollte die Band an diesem Abend in der Ronda auftreten. The Notwist standen dagegen ursprünglich nicht im Booking des Le Guess Who Festivals; sie sind erst nach dem Wegfall von Low hinzugefügt worden.

Über The Notwist muss ich nichts mehr erzählen, das wäre wie Eulen nach Athen tragen. Wie oft habe ich die Band schon live gesehen? Das Konzert in der Ronda gehört zu meinen besseren Liveerlebnissen mit The Notwist. Und dass, obwohl so weder „Gravity“, „Kong“ noch „Gloomy Planets“ an diesem Abend gespielt haben. Bemerkenswert, da jeder der Songs zu meinen Lieblingsliedern gehört und ein Konzert ohne mindestens einen dieser Songs eine Enttäuschung ist. Aber, und das möchte ich positiv anmerken, sie spielen dieses „Different cars and trains“ Ding nicht. Wie oft habe ich das auf den letzten Konzerten gehört? Zu oft, fürchte ich. Vor jedem The Notwist Konzert in den – ich sag mal letzten 10 Jahren –  war mir klar, sie spielen „Different cars and trains“ in Kombination mit „Pilot“. Das war so vorhersehbar wie ein neues Jahr nach dem 31.12.. An diesem Abend spielen sie es nicht und ich finde es gut. Das sie „Gloomy planets“ nicht spielen, finde ich weniger gut, aber egal. Dafür höre ich viel anderes.„Puzzles“ zum Beispiel habe ich lange nicht mehr live gehört; „0-4“ glaube ich noch nie, genauso wie „Stars“. Das Set ist in vielerlei Hinsicht unberechenbar gut und es macht mir großen Spaß. The Notwist haben mal wieder abgeliefert.

Am Freitag beginnt der Tag im Kino. Erstmals sind auch Kinofilme in das Programm des Le Guess Who Festivals integriert. Dreaming Walls: Inside the Chelsea Hotel im Slachtstraat Filmtheater. Ein Film über, na ja, das Chelsea Hotel. Allerdings nicht über die ehemaligen Bewohner und deren Eskapaden, sondern über aktuelle Wohnungsbesitzer und Eigentümer, die während der Komplettrenovierung des Gebäudes vor einigen Jahren aus verschiedenen Gründen nicht ausziehen wollten und in diesem Film ihre Geschichten mit den Handwerkern, der Hausverwaltung und über ihr Leben im Chelsea Hotel erzählen. Das ist interessant und unterhaltsam. Wer die Möglichkeit hat, Dreaming Walls: Inside the Chelsea Hotel im Kinoprogramm ausfindig zu machen, sollte die Gelegenheit nutzen und sich den Film ansehen. Es lohnt sich. Läuft auch bestimmt bald auf arte.

Musikalisch ist der Tag unbewusst Hip-Hop lastig. Nachdem mich die niederländische Band Personal Trainer noch entspannt mit ihrem Slacker Indiepop im Ronda Saal abgeholt hat, steigt eine Etage erst die Sprechgesangsparty des amerikanischen Duos They hate change und später dann der umjubelte clipping. Auftritt.
Doch der Reihe nach.

They hate change. Le Guess Who Festival 2022.

They hate change sind Vonne Parks und Andre Gainey aus Florida. Vier Alben haben die beiden seit 2015 veröffentlicht. Wenn ich dem Internet glauben darf, und wann darf man das nicht, stehen sie mit ihrer aktuellen Scheibe Finally, now vor dem großen Durchbruch. Na, schauen wir mal. Ihre Mischung aus Hip-Hop, Grime, Drum’n’Bass und Jungle klingt auf jeden Fall spannend und nicht nur der Goldzahn von Vonne Parks lässt mich dabei an Goldie denken.

Dry Cleaning sind an diesem zweiten Tag die Band mit dem größten Namen. Wenn ich das so sagen darf; zumindest für uns ist der britische Vierer die Band, von der wir die meisten Songs kennen. Also, anders formuliert, es ist für uns die Band, die wir am genauesten zuordnen können. Wir sahen Dry Cleaning bereits zwei Mal in diesem Jahr, in Brüssel und in Barcelona. Doch dieses Set unterscheidet sich gänzlich von ihren beiden Auftritten im Frühjahr und im Sommer. Warum? Weil auf der Setlist mit „Magic of Meghan“ und „Her Hippo“ nur zwei Songs von ihrem Debütalbum stehen und die Band sonst nur Songs des aktuellen und im Herbst erschienenen Albums Stumpwork spielen. Da ich das neue Album vorher nicht gehört habe, ist quasi jeder Song unbekannt für mich. Das schöne Saxophonintro im letzten Song fällt mir auf und bleibt hängen. Bisher haben Dry Cleaning dieses Instrument eher nicht benutzt. Neu ist für mich auch und der vierte Mann an der Gitarre, der bei dem ein oder anderen Song dazukommt und die Stammbesetzung um Florence Shaw, Lewis Maynard, Tom Dowse und Nick Buxton zumindest live ergänzt. Ach ja, Tom Dowse geht übrigens immer noch wie ein Fußballer nach einem gewonnenen Match mit jubelnden Armen von der Bühne. Das hat er Gott sei Dank noch nicht abgelegt.

Dry Cleaning. Le Guess Who Festival 2022.

Setlist:
01: Kwenchy kups
02: Gary Ashby
03: Scratchcard Lanyard
04: Her Hippo
05: Hot Penny Day
06: Stumpwork
07: No decent shoes for rain
08: Don’t press me
09: Conservative hell
10: Driver’s story
11: Strong feelings
12: Magic of Meghan
13: Anna calls from the Arctic

Raus aus der Ronda und für knapp 45 Minuten unters Dach der Tivoli Vredenburg. Im Hertz spielen die Droner Zs und ich ergattere dieses Mal einen Sitzplatz in den vorderen Reihen.  Das Noise-Drone-Avantgarde Duo aus New York schart einen speziellen Fankreis um sich. Und das ist fast wörtlich zu nehmen, denn der Saal ist wie eine Arenabühne konzipiert. Am Abend zuvor lümmelte ich noch in einer der Sitzreihen der 3. Etage, um Maria BCs Visuals zu genießen, jetzt lasse ich mir den Avantgarde-Noise-Minimal Sound direkt ins Gesicht fegen.

Zs sind eigentlich eine vierköpfige Band, zumindest schließe ich das aus den Internetverweisen, die ich finde. In Utrecht sitzen jedoch nur Tenorsaxophonist Sam Hillmer und Gitarrist Patrick Higgins auf der Bühne. Greg Fox und Michael Beharie fehlen. Dafür sind die Eltern von Sam Hillmer im Zuschauerbereich zugegen, sie werden recht herzlich vom Sohnemann gegrüßt. Die beiden liefern ein irres Konzert. Das Saxophon pustet stakkatohaft Töne in den Saal, Patrick Higgins schlägt auf den Körper seiner E-Gitarre, dass ich regelmäßig kurz zusammenzucke. Melodien höre ich in den 30 Minuten eher wenige.

clipping. sind mein zweiter Hiphop-Act an diesem Abend. Das Trio um den Rapper Daveed Diggs feiert im Ronda Saal die größte Party an diesem Abend, wenn nicht sogar des gesamten Festivals. Der Saal ist knallvoll und scheinbar alle außer mir kennen diese Band, zu der noch die beiden Produzenten William Hutson und Jonathan Snipes gehören.

clipping. Le Guess Who Festival 2022.

Ich habe sie zugegebenermaßen mit einer anderen Band verwechselt. Warum, weiß ich nicht, die andere Band ist nämlich Scalping und hat so gar nichts mit clipping. zu tun. Na ja, der Bandname klingt ähnlich, das ist es dann aber auch. Denn Scalping haben Gitarren und ich bin überhaupt nicht richtig auf dieses Konzert vorbereitet. Doch nach kurzer Verwunderung – wieso steht nur ein DJ-Pult auf der Bühne? – holen mich clipping. enorm schnell ab und lassen mich eine gute Stunde lang nicht wieder los. Danach ist klar, clipping. sind definitiv meine Festivalentdeckung (Also neben Maria BC und Liv.e). Ich habe mir Tage später direkt ihre aktuelle Platte besorgt. Und so muss es doch sein, mehr kann ein Konzert nicht leisten. (Von Maria BC übrigens auch, Hyaline ist eine sehr schöne Platte; an Musik von Liv.e bin ich dran).

Samstag.
Der Kulturteil des Tagesbeginnt erneut mit Kino. Diesmal im Centraal Museum am Rand der Stadt. Es benötigt einen etwas längeren Spaziergang, um das Museum zu erreichen. Das Kino ist in einem kleinen Gebäude im Garten des Museums improvisiert eingerichtet. Ein Videoprojektor wirft die Dokumentation Everybody in The Place: An Incomplete History of Britain 1984-1992 an die Wand; davor stehen vielleicht 60 Stühle. Wow, was für ein großartiger und enorm lehrreicher Film vom britischen Regisseur Jeremy Deller. Grundsätzlich versucht die Dokumentation zu ergründen, wie der Rave und Detroiter House und Anfang der 1990er Jahre in die britische Popmusik kamen und das sanfte Popgedudel der Stock Aitken Waterman Produktionen langsam aber sicher in den Charts ablösten. Ein wirklich toll konstruierter Film, der mich nach einer Stunde um einiges schlauer zurücklässt. Der Film ist auf YouTube verfügbar, ich empfehle jedem, sich eine Stunde Zeit zu nehmen und ihn sich anzuschauen. (Link: https://www.frieze.com/video/jeremy-deller-everybody-place-incomplete-history-britain-1984-1992)

Konzerttechnisch ist der Abend für mich überschaubar. Das Muriel Großmann Quartet, Lucrecia Dalt und Cate Le Bon. Das ist es. Mehr schaffe ich nicht. Ich bin etwas kaputt von den Tagen zuvor und spüre eine gewisse Überforderung ob der Vielzahl an Konzerten. Das geht mir bei mehrtägigen Konzerten immer so. Irgendwann kommt ein Punkt, an dem ich nichts mehr aufnehmen kann und einfach Ruhe brauche.
Da ich an diesem Abend nicht mehr must-sees auf der Liste habe, passt das ganz gut. Ein Abend in der Hotellobby ist ja auch ganz schön.

Muriel Großmann Quartet. Le Guess Who Festival 2022.

Starbucks und Bill Cosby Jazz. Ich kann es nicht besser beschreiben, weil mir keine anderen Worte einfallen und ich diese sehr treffend finde. Ohne Ecken und Kanten spielt das Muriel Großmann Quartet ihren Jazz. Das ist schön und harmlos (im positiven Sinn) zugleich. Mir gefällt sowas, ich kann gut zuhören. Es ist so einfach und so leicht, auch wenn es sicherlich nicht leicht ist, diese Leichtigkeit zu komponieren. Das Muriel Großmann Quartet besteht neben der Österreicherin aus Radomir Milojkovic (Belgrad) an der Gitarre, Uros Stamenkovic am Schlagzeug sowie Abel Boquera am Keyboard. Zusammen spielen sie den für mich als Zuhörer unanstrengendsten Jazz beim diesjährigen Le Guess Who.

Danach mal wieder eine 180° Wendung. Allerdings sagt mir der Avantgardepop der Wahlberlinerin Lucrecia Dalt nicht so richtig zu. Mir ist das auf eine bestimmte Art und Weise zu experimentell, daher bleibe ich nicht lange und gehe zeitig in den Grote Zaal, um mich auf das Konzert von Cate Le Bon vorzubereiten.

Lucrecia Dalt. Le Guess Who Festival 2022.

Singt sie im zweiten Song über French Fries? Ich glaube, ich habe mir diese Frage schon einmal gestellt. Vor drei Jahren sah ich Cate Le Bon auf dem Sonic City Festival in Kortrijk, und wenn ich es richtig in Erinnerung, spielte Cate Le Bon dort auch „French boys“, also den Song, in dem es nicht um niederländische Kartoffelstäbchen, sondern um irgendetwas anderes geht. Es ist ein schönes Konzert im Grote Zaal. Das Saxophon hat 1980er Jahre Schmiss, die Gitarren klingen schön indiepoppig und sie spielt ihre Hits „Home to you“ und „Daylight matters“.

Cate le Bon. Le Guess Who Festival 2022.

Am Sonntag geht es frisch und ausgeruht in den letzten Abend. Tagsüber ist kein Kinoprogramm, so bleibt Zeit zum Nichtstun und einem kleinen Spaziergang in Utrecht. Wie die Abende zuvor auch, mache ich mich gegen 18 Uhr in die TivoliVredenburg auf. Ich schaue kurz bei Marina Herlop rein. Die Spanierin sah ich bereits im Frühjahr beim Little Waves Festival in Genk, daher wusste ich, was mich erwartet. Auch deswegen kniff ich mir einen Teil ihres Konzertes und gehe lieber in die Pandora, wo die Texanerin Liv.e ihr Konzert gibt.

Liv.e. Le Guess Who Festival 2022.

Liv.e (spricht man Liv) ist das derzeitige Überraschungsding im R’n’B, lese ich in der Konzertankündigung. Das machte mich natürlich neugierig, und ich wollte ihr Set unter keinen Umständen verpassen. So denke ich nicht alleine; der Saal füllt sich vor Konzertbeginn zügig sehr gut, so dass ich von einem ausverkauften Konzert sprechen würde. Liv.e kann alles von Jazzclub bis Stadion-R’n’B, von Sade bis Whitney Houston. Dabei baut sie in ihre Raps immer mal wieder ein paar Überraschungsmomente ein, samplet ihre Stimme mit dem Voicecoder in tiefste Tiefen oder schreit einfach mal ein paar Textzeilen in die ersten Reihen. Psychedelic Soul flagt Wikipedia ihr Debüt Couldn’t wait to tell you. Wikipedia muss es wissen. Aber was genau ist Psychedelic Soul? Ich lese im Lexikon weiter:

…is a music genre that emerged in the late 1960s and saw Black soul musicians embrace elements of psychedelic rock, including its production techniques, instrumentation, effects units (wah-wah pedal, phaser, etc.)

Das passt schon gut, wenn ich an die Effektgeräte denke, die die Texanerin auf der Bühne stehen hat. Liv.e macht keinen null acht fünfzehn R’n’B, das steht mal fest. Ich glaube, wir werden noch einiges von der jungen Frau hören. 

Nach diesem Konzert überbrücke ich die Zeit bis zu den Horse Lords mit Supersilent. Eben noch R’n’B und jetzt, ja was eigentlich? Noise, Drone, Nordpol-Klänge?

Supersilent. Le Guess Who Festival 2022.

Eine Etage tiefer im Ronda Saal ist es enorm leer. Die norwegische Band Supersilent scheint niemand so recht auf dem Zettel zu haben. Supersilent treiben ihren Bandnamen ad absurdum. Siesind nicht silent; sie dröhnen und röhren, dass meine Nasenhaare vibrieren und ich erstmals meine Ohrenstöpsel bemühen muss. Es ist ein monotoner Sound, der ab und an von motorsägenartigen Klängen durchschnitten wird. Vielen der Wenigen gefällt das nicht, während des Konzert leert sich der Saal doch ordentlich. Ich bleibe bis zum Ende. Mich fasziniert der minimalistische, eintönige Sound.

Ein bisschen bereue ich mein länger bleiben, als ich danach die beiden Rolltreppen hoch zurück in den Pandora Saal haste, um pünktlich bei den Horse Lords zu sein. Im Vorfeld hatte ich mir ein paar Songs der Baltimorean auf YouTube angehört, und die klangen allesamt großartig. Instrumentale Gitarrenmusik, auf eine gewisse Art und Weise Slint-esk. Als ich am Saal ankomme, ist der bereits fast voll; mir gelingt es so gerade noch, am Absperrgitter des Mischpultes entlang in die hintere Ecke zu quetschen.

Horse Lords. Le Guess Who Festival 2022.

Der Saal Pandora ist proppenvoll. Liegt’s an mangelnden Alternativen oder ist das die angesagteste Band an diesem Sonntag oder gar des Festivals? Es ist schwer für mich einzuschätzen, ich würde mal sagen, es ist von beiden etwas. Die Horse Lords liefern ein stimmungsvolles Konzert. Sie haben zwei Schlagzeuger und drei oder vier Gitarristen. Manchmal greift einer der Musiker zum Saxophon, ich glaube, es ist der zweite Gitarrist von rechts. So ganz genau kann ich das von hier hinten nicht erkennen. Leider leert sich der Saal während des Konzertes kaum, so schaffe ich es nicht, etwas weiter nach vorne zu kommen, um mehr zu sehen. Na ja, hören reicht ja eigentlich, denn außer Instrumente spielen passiert auf der Bühne nichts. 400 Follower auf Instagram, 6000 Likes auf Facebook. Das ist überschaubar für eine Band, die seit 2012 fünf Alben veröffentlicht hat. Nach dem Konzert frage ich mich wirklich, warum es nicht mehr Follower und Liker sind. Die Horse Lords sind großartig, wer etwas anderes behauptet, der lügt.

Panda Bear & Sonic Boom. Le Guess Who Festival 2022.

Dann mein Festivalabschluß mit Panda Bear & Sonic Boom. Es ist geschafft, vier Tage Le Guess Who Festival neigen sich dem Ende entgegen. Schade eigentlich, es waren in Summe doch schöne und abwechslungsreiche Abende. Wenn ich in Pension bin, möchte ich sowas am liebsten nicht nur vier Tage, sondern monatelang machen. Mit Panda Bear & Sonic Boom steht so etwas wie eine Supergroup auf der Bühne. Noah Lennox von Animal Collective, die eigentlich auch auf dem Le Guess Who Festival auftreten sollten, dann aber ihre gesamte Tour canceln mussten, und Peter Kember von Spacemen 3 haben nicht nur ein gemeinsames Album aufgenommen, sie spielen es auch live. Die Songs von Reset, so der Albumname, klingen luftig leicht. Popsongs und zweistimmigen Singsang. Das ist ganz unterhaltsam und macht Spaß. Allerdings hätte ich das Konzert fast nicht bis zum Ende erlebt. Die ersten Songs stehe ich mitten in der Schwenkrichtung eines hell-weißen Bühnenscheinwerfers der Kategorie Suchscheinwerfer. Alle fünf Sekunden werde ich geblendet. Und zwar nicht nur irgendwie leicht, sondern mit voller Wucht. Zack, da ist der Lichtstrahl wieder, zack. Ich mag sowas überhaupt nicht und versuche, nur auf den Boden zu schauen. Gott sei Dank ist das Nervenspiel nach dem dritten Song vorbei. Von nun an kann ich mich voll auf die Musik konzentrieren. Und gleich dieser dritte Song beeindruckt mich sehr. Er erinnert mich stark an die Beta Band, die ich sehr mag. Psychedelisch angehauchte, sanfte und ruhig dahin blubbernde Melodien mit einem feinen, nicht zu aufdringlichen Säuselgesang. Wunderschön und großartig, das Konzert ist ein sehr würdiger Festivalabschluß, wie finde ich.

Kontextkonzerte:
Le Guess Who? 2015 – Tag 4, Sonntag, 22.11.2015
Le Guess Who? 2015 – Tag 3, Samstag, 21.11.2015
Le Guess Who? 2015 – Tag 2, Freitag, 20.11.2015
Le Guess Who? 2015 – Tag 1, Donnerstag, 19.11.2015
The Notwist – Düsseldorf, 13.12.2021 / zak
The Notwist – Dortmund, 31.07.2021 / Westfalenpark
The Notwist – Düsseldorf, 12.12.2016 / zakk
The Notwist – Le Guess Who? Utrecht, 19.11.2015
The Notwist – Bochum, 15.08.2015 / Jahrhunderthalle
The Notwist – Köln, 25.03.2014 E-Werk
The Notwist – Lüften! Festival Frankfurt, 22.06.2012
The Notwist – Nijmegen, 22.01.2012 / Doornroosje
The Notwist – Rolling Stone Weekender Weissenhäuser Strand, 11.11.2011
The Notwist – Juicy Beats Dortmund, 30.07.2011
The Notwist & Andromeda Mega Express – Köln, 14.08.2009 / Philharmonie
The Notwist – Köln, 14.04.2009 / E-Werk
The Notwist – Melt!, 19.07.2008
Dry Cleaning – Primavera Sound Festival, Barcelona, 09.06.2022
Dry Cleaning – Brüssel, 17.04.2022 / Botanique
Cate Le Bon – Sonic City Festival Kortrijk, 09. u. 10.11.2019

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar