Ort: Tivoli Vredenburg, Janskerk, Utrecht
Bands: Hildur Gudnadottir, Julia Holter, The Notwist, Faust, Ought
20 Bands in vier Tagen bzw. an vier Abenden. Wenn ein Festival eine so große Anzahl an schönen und für mich interessanten Bands im Angebot hat, dann muss es ein tolles Festival sein. Und in der Tat, das Le Guess Who, das ich zum ersten Mal besuchte, ist ein tolles Festival. Wie Festival? Im November? Diese Fragen können eigentlich nur Konzertlaien stellen, aber sie wurde mir gestellt. Sachen gibt’s.
Das Le Guess Who ist ein Klubfestival, eine Ansammlung von Konzerten in unterschiedlichen Clubs und Sälen über das gesamte Stadtgebiet Utrechts verteilt. Hauptaustragungsort ist das das Tivoli Vredenburg, ein Traum von einem Konzertgebäude. Das vor 2 Jahren erbaute Gebäude beinhaltet sieben (!) Konzertsäle unterschiedlicher Größe auf 6 Etagen. Verbunden sind die Etagen über Rolltreppen. Ich kam mir vor wie in einem Kaufhaus für Konzerte. E-Musik im Erdgeschoß, Shoegaze in der obersten Etage. Ungefähr so, aber nicht ganz so.
In Deutschland gibt es sowas nicht, und das ist eine Schande. In Holland – wo die Kulturförderung besser organisiert scheint – hat fast jede Mittel- und Großstadt ein sogenanntes Muziekcentrum, ein Konzertgebäude in perfekter Ausstattung. Das in Utrecht ist sicherlich eines der schönsten und größten.
Der Tivoli Vredenburg ist also top. Unser Le Guess Who begann allerdings woanders, ein paar Straßenzüge weiter in der Janskerk. Hier eröffneten im Rahmen der ‘Sunn O))) presents‘ Reihe (die amerikanische Doom-Metal Band Sunn O))) kuratierte eine Reihe von Bands, quasi ein kleines thematisches Festival im Festival) Hildur Gudnadottir und Julia Holter das 2015er Le Guess Who. Beide Namen klingen nicht nach Metal und sind es auch nicht. Sunn O))) suchten sich mit Bedacht Bands und Namen aus, die – wie ich finde –thematisch sehr gut zusammenpassten, allerdings aus ganz unterschiedlichen Musikrichtungen kamen. Natürlich gab es auch Metal (mehr oder weniger), die Konzertreihe am Samstagabend in einem der Klubs schenkten wir uns jedoch. Wir sahen stattdessen und lieber die ebenso wie Hildur Gudnadottir und Julia Holter präsentierten Marissa Nadler (Singersongwriter), John Doran (Lesung), Keiji Haino (japanischer Klangkünstler) und Bennie Maupin (Jazz). Alle auf ihre Art großartig!
Die Janskerk ist noch nicht voll, als wir eine gute halbe Stunde vor Beginn unsere Plätze einnehmen. Wir waren uns nicht sicher, wie viel früher man da sein muss, um noch in die Konzertsäle zu gelangen. Denn zwei Dinge waren uns schon klar: in einen 200 Personenraum passt kein gesamtes Festivalbesucheraufkommen, und die daraus ableitbare ‘wenn voll, dann voll‘ Politik ist zwangsläufig.
Wir saßen also in der Janskerk und ließen uns vom gleißend roten Altarraumlicht anstrahlen. Die Isländerin Hildur Gudnadottir spielte ihr Cello leise, so dass das knacken Dosenverschlüsse an der kircheneigenen Getränketheke durch die Bank laut und gut zu hören war. Der Festivalbesucher hat halt schon zu diesem frühen Zeitpunkt Durst. Hildur Gudnadottir brachte das nicht aus der Ruhe, mich auch nicht. Die sanften aber auch dunklen und mitunter traurigen Cellotöne waren eine gute Einstimmung und passten sehr schön zur gesamten Kirchenatmosphäre. Drei Songs spielte die junge Frau, loopte ihr Cello und verzauberte die gesamte 975 Jahre alte Janskerk spätestens mit ihrem letzten, rund 20 minütigen Song.
Julia Holter spielt mit ihrer dreiköpfigen Band im Anschluss. Wir blieben direkt auf unseren Plätzen sitzen, um uns herum war es mittlerweile voll und auch der Mittelgang wurde sitzend beschlagnahmt. Die Songwriterin aus Los Angeles war sicherlich ein erster Höhepunkt des diesjährigen Le Guess Who, nicht nur für mich. Ich freute mich sehr auf das Konzert, seit ich sie vor zwei Jahren bei ihrem atemberaubenden Auftritt im Auditori im Rahmen des Primavera Sound gesehen habe, bin ich Fan.
Es ist ein der Örtlichkeit angemessenes Konzert. Ruhig, wenig hektisch, lieb. Julia Holter spielt größtenteils Songs des jüngsten Albums Have you in my wilderness. Den Konzertbeginn überlässt sie allerdings einer Coverversion, dessen Text sie vom Blatt abliest: „My love, my love“ von Karen Dalton. „Vasquez“ in einer schieren Endlosversion bildet den Abschluss eines sehr schönen Konzertes.
Setlist Julia Holter:
01: My Love, my love
02: Horns surrounding me
03: Marienbad
04: Silhouette
05: Lucette stranded on the island
06: Have you in my wilderness
07: Feel you
08:Vasquez
Während Julia Holter kurz danach weiter nach Asien fliegt, um dort ihre Tournee zu beenden, gehen wir die Vredenburg Straat herunter zum Tivoli Vredenburg. Es regnet leicht, aber die Vorfreude auf den weiteren Abend und die nächsten Tage ist so groß, dass die Nässe und der starke Wind nicht stören. Schon jetzt war es eine gute Idee, dieses Le Guess Who zu besuchen.
The Notwist wurden erst sehr spät im Festivalaufgebot bestätigt. Das Lineup war nach meinem Geschmack schon perfekt, als die Weilheimer vor ein paar Wochen dazukamen. Nun war es perfekter, obwohl The Notwist wahrlich nicht der Hauptgrund und meine Hauptattraktion an diesem Donnerstag war. Dazu habe ich die Band schon zu oft gesehen, dazu sind sie mir zu bekannt. Dass ich sie trotzdem nicht links liegen lasse, kam aber überhaupt nicht in Frage. The Notwist kann und sollte man immer mitnehmen! Diese Band enttäuscht live eigentlich nie!
Der große Saal des Tivoli war gut gefüllt. Wir kamen zwar verspätet im Tivoli an, der Weg von der Kirche war länger als gedacht, aber wir blieben bis zum Schluss.
Täuschte mein Eindruck, oder werden The Notwist an ihren Songrandbereichen immer technoider? Das Doppel „Different cars and trains“ und „Pilots“, die sie nach wie vor noch sehr gerne ineinander verweben, kam mir noch eine Spur tanzbeatlastiger vor als beim letzten Konzert. Mich stört das nicht, denn die Band schafft es wie keine zweite, Elektro und Indiegitarren miteinander zu kombinieren. ‘We play our last song, „Gravity“‘, sagte Markus Acher nach einer guten Stunde. Allein dafür hätte sich der Besuch gelohnt.
Wie gesagt, The Notwist nehme ich immer gerne mit. Und „Gravity“, dafür kann und darf man mich auch gerne nachts um drei Uhr wecken.
Wir blieben im großen Konzertsaal und gingen ein paar verschlungene Treppenaufgänge weiter nach oben. Über fünf oder sechs Ebenen mit Sitzreihen in einer sehr verwinkelten Anordnung gestaltet sich der Zuschauerraum des Saales. Faust waren die nächsten, die hier auftreten sollten.
Auf der Bühne sitzen drei Mädchen und stricken. Um sie herum veranstalten vier ältere Männer ihre Musik. Wildes Schlagzeugspiel, französischer Gesang, Lärm und Geräusche mit leeren Gasflaschen. Ja, Faust sind Krautrock. Faust sind, wie es das Le Guess Who Handbuch sagt, die mystischste und radikalste Band der frühen 1970er Jahre und der Krautrock Ära. Mehr wusste ich im Vorfeld nicht, viel mehr weiß ich nach dem Konzert auch nicht. Auch nicht, ob die drei strickenden Mädchen nun Kinder oder gar Enkelkinder der Musiker sind. Faust spielen psychodelischen und oftmals instrumentalen Kram, im Hintergrund laufen dazu Videos, die mit ‚Max.wmf‘ oder ‚Ombre de soleil.wmv‘ betitelt sind. Sänger Jean-Hervé Péron sagte dazu so irre Sätze wie:
Meinst du, dass meine Gedanken dich erreichen. I don’t believe in words.
Gut, dass wir sitzen. Musikalisch ist das für mich nur bedingt interessant, aber nun kann ich wenigstens mal behaupten, ich habe eine der wichtigsten Krautrock Bands gesehen. Eine unterhaltsame Erfahrung.
We are not here and this is not music. (Faust)
In Deutschland kennt die wahrscheimnlich kaum einer. Hashtag der Prophet im eigenen Lande. Aber wenn der Wikipediaartikel einer deutschen Band in der englischen Fassung um einiges ausführlicher ist als in der deutschen Fassung, dann spricht das schon fast für sich. Dazu passt denn auch irgendwie, dass das dritte Faust Album The Faust Tapes in die Wireliste ‚100 Records that set the world on fire (while no one was listening)‘ aufgenommen wurde.
Als wir nach dem Konzert den Saal verlassen, sind wir orientierungslos. Alles sieht gleich aus. In welcher Ebene befinden wir uns? Wie kommen wir wieder zum Haupteingang zurück? Wo waren die Merchstände, eine oder zwei Treppensteigen tiefer? Oder höher? Das bauliche Labyrinth, das sich um den gr0ßen Saal des Tivoli herumschlängelt, ist enorm unübersichtlich. Draußen, also im Hauptgebäude, ist es übersichtlicher. Vier Rolltreppenfahrten später sind wir fast unter dem Dach des Gebäudes. In der Pandorabar – einem kleineren Saal mit einer großen Glasfront an der Rückseite der Bar, aus der man einen schönen Stadtblick genießen kann – spielen Ought.
Die Kanadier Ought waren neben Julia Holter der geplante Höhepunkt an diesem ersten Tag. Ought sind toll! Punkt. Bereits ihr Debütalbum More than any other day ist ein einziges Hitalbum.
Vor einigen Monaten veröffentlichten sie Sun coming down, ich finde es nicht weniger schön. Ought spielten in der knallvollen Pandorabar, und sie spielen für eine Donnerstagnacht famos. Leider hörten wir von More than any other day nur einen Song. Das empfand ich als etwas schade, kein „The weather song“, kein „Pleasant heart“ oder „Today more than any other day“. Es war der einzige kleine Makel an diesem ersten Le Guess Who Tag; aber hey, am Ende eines langen Tages nun wirklich vernachlässigbar klein.
Setlist Ought:
01: Sun’s coming down
02: Passionate turn
03: Men for miles
04: Beautiful blue sky
05: Clarity!
06: Around again
07: Never better
08: Waiting
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