Ort: Ancienne Belgique, Brüssel
Vorband: Farida Amadou

Brüssel hat die Autos verdrängt. Nach diversen Zwischenlösungen wie Betonblöcken und Fahrbahnsperrungen ist es nun endlich geschafft. Der Boulevard Anspach ist rund um die Börse und dem AB autofrei. Seit wann das so ist, weiß ich nicht, ich war länger nicht da. Ich kann mich allerdings noch gut an die ersten provisorischen Absperrungen erinnern. Die kamen zu der Zeit, als in Paris und anderswo Terroranschläge passierten und andere Städte in Sorge waren, dass auch sie betroffen werden könnten. Zum Schutz wurden damals in Brüssel wichtige Punkte bestmöglich geschützt. Die Börse, direkt am Boulevard Anspach gelegen, gehörte dazu. Da war es immer sehr unübersichtlich und wuselig, und die Ausgrenzung des Autoverkehrs sorgte für mehr Sicherheit und Überschaubarkeit. Diese Provisorien von damals sind mittlerweile ersetzt worden. Es gibt einen neuen Bodenbelag, Bäume, Bänke und Ruheinseln. Der Boulevard Anspach ist eine Fußgängermeile geworden, die ollen Cafés und Restaurant, die sonst nicht wussten wohin mit ihrer Aussengastronomie, sind neben Fußgängern und Radfahrern eindeutig die Gewinner dieser städtebaulichen Erneuerung. Das AB natürlich auch. Seit Anfang des Jahres gilt in Brüssel überdies eine Höchstmarke von 30 km/h innerhalb des Stadtrings. Dies tut ihr Übriges dazu, dass das Miteinander von Autos, Fahrrädern und Fußgängern entspannt abläuft. Einige Ampeln sind abgeschaltet, der langsamer fliesende verkehr reguliert sich wie es scheint von selbst, es ist merklich leiser und ruhiger im Stadtkern. Das ist zumindest mein Eindruck nach einem kleinen nachmittäglichen Spaziergang.

Als wir abends am AB ankommen, läuft das mittlerweile altvertraute Verfahren: in der einen Hand das Smartphone mit geöffneter CovPass haltend und in der anderen Hand den Personalausweis zum Datenabgleich geht es zur Ticketkontrolle. Es ist beinahe schon Routine. Es läuft so, als wäre es schon immer so gewesen. Es stört nicht und lästig ist es erst recht nicht.
Nach und nach hat sich der Saal im AB gefüllt. Das Konzert wurde geupgradet, aus der kleineren Box, die ich bisher noch nicht von innen gesehen habe, hin zum großen Saal mit abgehängten Seiten und abgetrenntem hinteren Saalbereich, so dass ca. ein Drittel des normalen AB Saals übrig bleibt. Ich bin überrascht, wie viele sich für ein Thurston Moore Konzert interessieren. Vor Jahren spielte er ein Solokonzert im King Georg (da ist nicht so viel Platz) und auch das Konzert auf dem Sonic City Festival vor zwei Jahren war jetzt nicht enthusiastisch stark besucht. Aber es gab lange keine Konzerte, die Leute haben Nachholbedarf.

Bevor Thurston Moore und Kollegen um 21 Uhr die Bühne betreten, hören wir eine andere Art von Gitarrenmusik. Farida Amadou aus Belgien ist zu Gast und bespielt solo mit ihrer Bassgitarre das AB. Ihr Auftritt ist starker Konzerttobak, die gute halbe Stunde ist schwer in Worte zu fassen. Anstrengend empfinde ich sie nicht, das Adjektiv experimentell erscheint mir aber für das, was Farida Amadou macht, zu schwach. Es ist eine Monotonie des Gitarrenspiels. Es fällt mir schwer, konzentriert zu bleiben. Das geht nicht nur mir so. Nach dreißig Minuten wird es merklich unruhiger im Publikum, die Gespräche nehmen zu. Es passt, dass da das Konzert so gut wie vorbei ist.

Thurston Moore sieht zwei Jahre älter aus. Bei Menschen über 60 Jahren fällt mir das bewusster auf. Vor ziemlich genau zwei Jahren sah ich Thurston Moore zum letzten Mal live. In Kortrijk. Damals – wenn ich richtig zurückdenke – spielte er als Thurston Moore Group zusammen mit Debbie Googe, James Sedwards (‚the first person who’s not a footballer that I’ve been jealous of‘ – John Peel) und Jem Doulton. Damals schrieb ich in meinen Beobachtungen:

Ich für mich habe entschieden, dass ich das Moore’sche Gitarren Verliebtsein oft genug gesehen und gehört habe und nicht mehr jedes seiner Konzerte brauche. Ab und an, so wie jetzt in Kortrijk, ist es okay. Sehr okay. Mehr muss nicht. Vier oder fünf Songs spielt die Band, Klatschpausen gibt es vielleicht drei. Ich bin froh, dass sie nicht ihr aktuelles Album Spirit Counsel in Gänze gespielt haben.

Okay, ich brauche nicht mehr jedes seiner Konzerte. Eine interessante Aussage. Nichtsdestotrotz haben wir die erstbeste Gelegenheit, Thurston Moore wiederzusehen, wahrgenommen und sind ins AB gefahren. Konsequent inkonsequent. Na ja, ich bin auch nur ein Mensch.

Erneut hat er seine alten Gefährten um sich geschart. Die Band ist komplett und spielt dieses Mal zwar immer noch gitarrenlastig (was okay ist), aber abwechslungsreicher. Will sagen, es gibt keine gesanglosen 90 Minuten mit Gitarrenfeedbacks und -dissonanzen. Es gibt an diesem Abend eigentlich nur in der Zugabe „Venus“ Gitarrenyoga für Fortgeschrittene. Davor höre ich zum Beispiel in „Cantalope“ gleich zu Beginn Metalgitarren, die mich an AC/DC oder van Halen denken lassen. In „Hashish“ höre ich diese liebenswerten Dissonanzen, diese typischen Sonic Youth Gitarren, die niemand auch nur annäherungsweise erreicht. Sekündlich warte ich auf den einsetzenden Gesang von Kim Gordon, der aber bekanntlich nicht kommt. „Hashish“ erinnert mich ein bisschen an „Sunday“. Beides sind Songs des aktuellen Thurston Moore Albums By the fire. Die Songs vom siebten Solo/Gruppen-Albums des ex-Sonic Youthers bilden den Schwerpunkt des Programms. Insgesamt spielt die Band fünf Songs aus dem Album.

Alle, die hier auf der Bühne stehen, haben bei den Albumaufnahmen mitgewirkt. Man könnte also bei By the fire von einem Thurston Moore Group Album sprechen, ähnlich wie ich das ab und an auch über das vorletzte Album Spirit Counsel lese. Da fällt mir ein, ich bin mir gerade gar nicht sicher, wie das Konzert offiziell betitelt ist: Thurston Moore Group, Thurston Moore and Band oder nur Thurston Moore. Ist aber auch egal, weil alle Varianten auf das Gleiche hinauslaufen. Seit Jahren scharrt Thurston Moore diese Musiker*innen um sich: James Sedwards an der Gitarre, Debbie Googe am Bass und anfangs Steve Shelley und in den letzten Jahren Jem Doulton am Schlagzeug. Gemeinsam haben sie das Album By the fire eingespielt, gemeinsam auch die letzten Thurston Moore Platten. Auch die beiden älteren Songs „Aphrodite“ – vom 2017er Album Rock’n’Roll Consciousness – und „Speak to the wild“ (von The best day) wurden mit diesem Personal eingespielt.

„Venus“ beschließt als einziger Song der Zugabe das Konzert. Sie spielen es in voller Länge, 20 Minuten. Pünktlich um 22.30 Uhr verklingen die letzten Gitarrendissonanzen. Das war es. 22.30 Uhr ist bekanntlich Auskehrzeitpunkt im AB. Alle sollen noch ihre Züge nach ganz Belgien bekommen. Nicht umsonst beinhalten AB Konzerttickets für einen kleinen Zuschlag freie Fahrten am Konzerttag in allen SNCB Zügen. 

Der Untertitel des Konzerts lautet A live recording. Nicht ohne Grund: tags drauf steht das Konzert bei YouTube und angeblich ist auch ein Livealbum angedacht.

Hopefully you had a chance to attend the Thurston Moore Group concert yesterday. The magical evening was actually recorded with a view to later releasing a live album. We love you @thurstonmoore58. (AB Facebook)

(AB Facebook Post)

Wenn dem so sein sollte, wird es eine gute Platte.

Setlist:
01: Locomotives
02: Siren
03: Hashish
04: Cantaloupe
05: Aphrodite
06: Speak to the wild
07: Temptation inside your heart
Zugabe:
08: Venus

Kontextkonzerte:
Thurston Moore Group – Sonic City Festival Kortrijk, 10.11.2019
Thurston Moore – Paris, 11.03.2017 / La Maroquinerie
Thurston Moore – Köln, 16.11.2014 / Gebäude 9
Thurston Moore – Köln, 31.03.2014 / King Georg
Chelsea Light Moving – Frankfurt, 03.07.2013 / Zoom

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