Ort: OM, Seraing
Vorband: L4U

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Die Bilder auf Google Streetview zeigen eine verlassene Industriebaracke mit holzverschlagenen Fenstern. Oh ha, hier soll das OM sein? Das Haus steht doch leer. Die weiteren Gebäude entlang der Straße stehen ebenso sehr verlassen im gefühlten Nirgendwo. Nur gefühlt, weil dann doch 100 Meter weiter eine Bahnstation ist und sich auf der anderen Seite der Bahngleise die Ausläufer der belgischen Stadt Seraing anschließen. Ich streetview-e mich durch die Gegend südlich der Maas auf Höhe des Standard Lüttich Stadions. In wenigen Stunden werde ich hier Thundercat sehen und da mein Auto kein Navi hat, merke ich mir die Straßen und notiere die Anfahrtroute. Hier ist doch nichts. Oder besser: hier war nichts. Die Google Aufnahmen zeigen das Aufnahmedatum 2013. Okay, vor 10 Jahren sah es hier so aus.
Und heute? Heute steht an der Ecke zur Hauptstraße zumindest ein Konzertsaal, eingerichtet im ehemaligen Firmenfestsaal des Unternehmens Cockerill. Im Oktober letzten Jahres wurde das OM, so der Name des Konzertvenues, eröffnet. Es ist ein brandneuer Konzertsaal in einem alten Gemäuer. Drinnen sieht man davon nicht mehr viel, der Eingangsbereich und das Interieur wirken sehr modern. Einzig das im Art Deco gehaltene Geländer der Treppe zur Galerie und die hohen Fenster der beiden Säle zeigen etwas vom Charme des ehemaligen Festsaalgebäudes.

Ein nigelnagelneuer Konzertort in einem lost place. Das lost place ist das ehemalige Industriegelände Cockerill-Sambre S.A., im 19./20. Jahrhundert eine der größten Eisengießereien und Maschinenfabriken Europas, liegt brach. Seraing war einer der Ausgangspunkte der industriellen Revolution auf dem europäischen Kontinent und entwickelte sich zu einem der zentralen Industriestandorte Belgiens. Schon im Jahre 1816 betrieb die Familie Cockerill in Seraing mehrere Hochöfen, ein Stahl- und Walzwerk, eine Maschinenfabrik, zwei Steinkohlegruben, eine Erzgrube und eine Kesselschmiede. Seraing wurde zu einem der Brennpunkte der belgischen Industrie und die Firma Cockerill der erste Hersteller von Eisenbahnmaterial auf dem europäischen Kontinent. Sie lieferte das Gleisbaumaterial für die erste Eisenbahn auf dem europäischen Festland, die Strecke von Brüssel nach Mechelen, und auch deren erste Lokomotive.

Aktuell ist das Gelände eine große Ruine und von starkem Vandalismus geprägt. Nach und nach werden die Gebäude und Hallen abgerissen, lese ich. Was dann hier entstehen soll, keine Ahnung. Bisher entstanden ist zumindest das OM. Der große Saal fasst 1700 Leute und das OM möchte so etwas sein wie ein Bindeglied zwischen dem Brüsseler AB und den Kölner Konzertsälen. ‘Man möchte die Leute nicht mehr zwingen, nach Köln oder Brüssel fahren zu müssen, um Bands wie die Pretenders, dEUS oder Ghinzou zu sehen’, lese ich auf einer Infoseite im Internet. In diesem Jahr finden hier einige interessante Konzerte statt. Oder aber man möchte Leute nach Seraing einladen, um z. B. Thundercat zu sehen. Einige deutsche und luxemburgische Nummernschilder erblicke ich auf dem Parkplatz. Klar, für beide ist es die nächstgelegene Gelegenheit, den Musiker zu sehen, nachdem alle Deutschlandtermine seiner Tour gecancelt worden sind.

An diesem Abend ist der große Saal jedoch etwas zu groß. Die Türen zur Galerie bleiben versperrt, der Oberrang bleibt an diesem Abend geschlossen. Und auch unten ist es – ich sag mal – gut gefüllt.

Thundercat.
Über Kamasi Washington und Flying Lotus, mit denen er einige Alben/Songs zusammen machte, kam ich irgendwann auf Thundercat. Ich kaufte mir sein drittes Album Drunk, fand das überragend schön und kaufte mir alsbald sein viertes und bisher letztes Album It is what it is. Was ich allerdings erst die letzten Tage las ist die Information, dass Stephen Bruner, so sein nicht-Künstlername, von 2002 bis 2011 auch Mitglied der Suicidal Tendencies war. Ich könnte ihn in den frühen 2000er Jahren also schon einmal live gesehen haben, denn ich glaube, ich habe die Suicidal Tendencies seinerzeit auf irgendeinem Festival gesehen. Das könnte aber auch schon in den 1990er Jahren gewesen sein, und dann hätte ich ihn noch nicht gesehen. Viele Konjunktive, keine Festlegungen. Fest steht aber, dass der aktuelle Thundercat Sound jedoch sehr, sehr wenig mit dem Crossover der kalifornischen Band gemein hat. Fusion, oder auch Jazzrock oder Rockjazz genannt, ist eher sein Ding. Unter Fusion, so das Musikportal Wikipedia, versteht man einen Musikstil, der sich seit Beginn der 1960er-Jahre ausgebildet hat und in dem sich die Raffinesse des Jazz mit der rhythmischen Intensität des Funk und der Kraft der Rockmusik verbindet. Liest sich blöd, klingt aber gut. Also zumindest bei Thundercat.

Als wir den Saal betreten, läuft der schöne Tame Impala Song „The less I know the better“. ‘Na das passt ja‘, denke ich, hat doch Thundercat erst kürzlich mit Tame Impala’s Kevin Parker einen Song aufgenommen. L4U aka Laura Violi dj-t eine gute Stunde lang. Ihr Mix umfasst vieles, ist hörenswert und durchaus kurzweilig.
Da im Anschluss nur das DJ-Pult von der Bühne geschoben werden muss, ist die Pause eher kurz. Pünktlich um 20.30 Uhr und damit exakt im angegebenen Zeitplan betreten Stephen Bruner, Justin Brown und Dennis Hamm die Bühne. Das Intro vor dem ersten Song ist irre lang, der erste Song dann nochmal irre länger. „Great Scott / Innerstellar Love“ bringt einen ersten Vorgeschmack auf das, was uns in den nächsten gut zwei Stunden erwartet: ausufernden Gitarrensoli und Improvisationen aller drei Musiker. Freejazz würde man im Jazz sagen, hier ist es dann eher Freefusion.

Thundercat ist guter Dinge. Er scherzt mit seinem Keyboarder, begrüßt bekannte Gesichter im Publikum und erzählt einiges über seine Songs und Menschen, die sein Künstlerleben beeinflusst haben. Ehrlich gesagt, hatte ich das so nicht erwartet. In meinen Gedanken hatte ich mich auf einen eher missmutigen US-amerikanischen Supermusiker eingestellt, der dieses – auch bei weitem nicht ausverkaufte- Konzert in der europäischen Provinz kurz und schmerzlos abreißt. Ich meine, da hast du zuvor vier ausverkaufte Abende in London und zwei ausverkaufte Abende in Amsterdam gespielt und dann kommst du nach Seraing, die Halle im Nirgendwo und das Wetter usselig, da wäre es nur zu verständlich, wenn die Stimmung nicht top ist.

Doch denkste, Thundercat und Band sind in Spiellaune. Gut so!

Das Bühnenbild ziert eine im Manga Stil gezeichnete Katze mit leuchtenden Augen. Thundercat ist großer Manga Fan, im Laufe des Abends widmet er dem erst kürzlich verstorbenen Dragon Ball Erfinder Akira Toriyama ein paar Songs und gibt überdies noch ein paar Mal seine starke Japan Affinität zum Ausdruck.
Die Band jammt sich durch den Abend, Thundercat spielt Songs aus seinen letzten drei Alben und seinen Kollaborationen. „Isn’t it strange“, ein Pedro Martins Cover inklusive einer umfangreichen Erklärung, wer denn dieser Pedro Martins sei oder „What’s the use?“, entstanden aus der Zusammenarbeit mit dem bereits verstorbenen Mac Miller. Auch ein kleines Snippet von Kendrick Lamars „These Walls“ – bei dem Thundercat auch seine Finger im Spiel hatte –  darf nicht fehlen. A propos Lamar. Gossip-Geschichten von der West Coast und vom Coachella gibt es obendrauf. Worüber man halt so spricht in Los Angeles.

Wer es wie ich nicht weiß: Pedro Martins ist ein brasilianischer Jazzmusiker (Gitarre, auch Gesang, Klavier, Bass und Schlagzeug) und Komponist.

Unermüdlich spielt Thundercat seinen sechssaitigen Bass. Auf YouTube gibt es einige Videos, die sein markantes Bassspiel erläutern und die Eigenheiten seiner Bassgitarre erklären. Ich nehme da folgendes mit: Thundercat betreibt kein slapping, er spielt den Bass mehr wie eine Gitarre. Deswegen klingt der Bass auch nicht wie ein typischer Bass. Er klingt viel melodiöser. Wenn ich es nicht wüsste, ich würde nicht behaupten, dass er einen Bass spielt.

Nach all dem ausufernden Fusion Gedöns wird es zum Abschluss des Konzertes swing-lich: „Funny thing“, „Black qualls“ (das auch Jamiroquai gut zu Gesicht gestanden hätte), „Them changes“ und „Dragonball durag“ verweigert Thundercat ausufernde Gitarrensoli. Die Songs sind nun radiotauglich kurz und die Band bringt so intensiver die Disco in den Saal. Es ist ein guter Abschluss eines überragend unterhaltsamen Konzertes.
Und das OM ist ein durchaus interessanter Konzertort, der gerade mal 90 Autominuten entfernt liegt. Kann man öfter hinfahren.

Kontextkonzerte:
Thundercat – Primavera Sound Festival Barcelona, 29.05. – 02.06.2018

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