Ort: Ancienne Belgique, Brüssel
Vorband: Lonny
In Belgien passieren schon merkwürdige Konzertsachen. Zum Beispiel die: Vor Jahren spielten dEUS an sieben aufeinanderfolgenden Abenden vor einem jeweils ausverkauften großen Saal im Ancienne Belgique ihr Album The ideal crash. Das AB, die große, alte Konzertinstitution Brüssels, war festlich geschmückt, ein Banner hang über dem Eingang, dEUS bekamen einen Stern auf dem Gehweg vor dem AB Café.
Als im Sommer die ersten Termine für das Girls in Hawaii Albumkonzert From here to there bekannt gegeben wurden, und aus einem Abend erst zwei, dann drei, dann vier und schlussendlich fünf Abende wurden, erwartete ich im und am Ancienne Belgique eine ähnliche feierliche Ausstattung wie seinerzeit bei dEUS. Doch als wir am Samstagabend am AB waren, ist nichts davon zu sehen. Kein Banner, keine Fahne an der Fassade. Im Dunkeln war es uns auch nicht möglich, nach einem Stern für Girls in Hawaii auf den Gehwegplatten zu suchen.
Girls in Hawaii sind für mich neben dEUS die zweite große belgische Indieband. Musikalisch sind beide Bands einiges voneinander entfernt. Während sich dEUS mehr aus dem Alternative Rock/ Indierock/ Experimental Rock kommen, sind Girls in Hawaii sowas wie die belgischen Coldplay. Positiv gemeint! Indiepop, fein, sanft, mitunter dramatisch, aber nicht wild.
Die Band gründete sich in den frühen 2000er Jahren. Damals fingen die beiden Sänger Antoine Wielemans und Lionel Vancauwenberge an, Musik zu machen und rekrutierten in der eigenen Familie (die Brüder Brice Vancauwenberge und Denis Wielemans, der 2010 verstarb) sowie im Freundeskreis die weiteren Bandmitglieder Daniel Offermann und am Christophe Léonard. Nach einigen Wechseln am Schlagzeug sind Girls in Hawaii heute Brüder Lionel und Brice Vancauwenberge, Antoine Wielemans, Daniel Offermann und Bryan Hayart.
An jedem Abend haben sich Girls in Hawaii andere opening Künstler*innen ausgesucht. An diesem Abend startet Lonny mit einem halbstündigen Akustikset. Lonny ist die französische Sängerin Louise Lhermitte. Funfact: Sie ist die Tochter des Schauspielers Thierry Lhermitte (Die Bestechlichen). Lonny singt chanson-esk klingende folkige Popsongs, oder wie sie es selbst nennt, ‘not-so-sad love songs’. Dazu loopt sie ihre Akustikgitarre das ein ums andere Mal und erzeugt so einen relativ dichten Gitarrensound.
In Belgien kommt man spät zu Konzerten, der Saal ist leider noch extrem leer, als sie die Bühne betritt. Die, die nicht zeitig vor Ort sind verpassen eine sehr unterhaltsame halbe Stunde. Freunde des Folk Pop sollten Lonny eine Chance geben.
Eine halbe Stunde später ist das AB dann brummevoll. Es ist der dritte Abend für die Band im AB. Abnutzungserscheinungen bemerke ich keine. Eine gewisse Routine allerdings schon. Die Sachen laufen wie geplant: in der Umbaupause muss nichts umgebaut werden, der Soundcheck steht auch bereits und das Zusammenspiel Band, Videoanimationen, Songs läuft in den nächsten knapp zwei Stunden wie geschnitten Brot. Die Band startet mit den Albumsongs. Um 20.45 Uhr ist der erste Song des Abends „9.00 AM“. Ich habe From here to there vor dem Konzert nicht mehr bewusst gehört, daher trifft mich der doch sehr rockige Beginn etwas auf dem falschen Fuß. War das Album echt so ‘krachig’? Also relativ krachig im Vergleich zu dem von mir sehr oft gehörten und sehr geliebten Everest Album.
Nach Everest, dem 10 Jahre alten und drittletzten Album der Belgier, stieg ich aus. Ich bin also kein up-to-date Girls in Hawaii Fan. Nichtsdestotrotz stand es für mich nie in Frage, eines dieser Konzerte anzusehen. Warum auch nicht. Ihr Debüt ist ein belgischer Klassiker, es ist das Album, mit dem Girls in Hawaii bekannt wurden. Und es ist ein sehr gutes Indiepopalbum. Einige Songs erinnern an z. B. Grandaddy oder Pavement. Diese beiden Bands definieren den Klang von From here to there, wie ich finde. Es gibt ein paar Schrammelnummern wie „Flavor“ und es gibt viele vertrackte Indie Folk Pop Songs wie „Catwalk“ oder „Short song for a short mind“.
Plattentests.de schreib vor langer Zeit über das Album:
Diese sechs Girls sind das Gitarre spielende Pendant zu Enzo Scifo. Zauberer, Spielmacher und Instinktmusiker, die eine schöne Melodie noch drei Meilen gegen den Wind riechen. Im kurzweiligen „Short song for a short mind“ fallen sie genau dann über ihre Orgeln her, wenn man gerade denkt, wie toll es wäre, wenn jetzt jemand auf die Hammond hauen würde. Dann ziehen sie dem schneesicheren „Time to forgive the winter“ mit der Gitarre einen ordentlichen Seitenscheitel. Werden durchgereicht zum breitbeinigen Männer-Rock des wellenbrechenden „Flavor.“ Und stellen am Ende auch noch die richtigen Fragen. ‘Am I drinking too much?‘ Man denkt natürlich ‘ja‘, während man nachschenkt.
Enzo Scifo kennt heute niemand mehr. Eine Schande!
Natürlich ist dieses Albumkonzert oder bestimmt auch die gesamte Konzertreihe ein stimmungsvoller Selbstläufer. Etwas anderes ist von vorne herein ausgeschlossen und bereits die ersten Minuten des Konzertes geben genau dieses wieder. Das Publikum ist frenetisch, der Applaus nach den Songs groß. Bassist/Keyboarder Daniel Offermann hat gar seine gesamte Familie eingeladen. Die zweite Tribünenreihe im hinteren Bereich des AB ist komplett reserviert. Es ist ein bisschen auch ein family and fans Event, an dem wir teilnehmen.
Obwohl es der dritte Abend in Folge ist, sehe ich bei der Band keine Abnutzungserscheinungen. Die Stimmen sind da, die Laune ist gut. Auf und der vor der Bühne. Alle genießen das Konzert sichtlich. Oder die Konzertreihe, denn einige sind sicherlich mehr als einmal vor Ort. Manchmal stehen die beiden Sänger Antoine Wielemans und Lionel Vancauwenberge nach einem Song einfach nur da und genießen die Ovationen des Publikums sekundenlang. Mit dem letzten Song des Albums endet dann auch das Konzert. „Joking about my life“ begleitet uns ruhig und etwas schwermütig in die, ja was genau, Unterbrechung bis zur Zugabe.
Zur Zugabe verlässt die Band die große Bühne. Zumindest anfangs. Ich hatte von den ersten Abenden gehört und gelesen, dass Girls in Hawaii die ersten Zugaben auf einer kleinen Innenraumbühne spielen. Und genau das passiert jetzt. Ich hatte die Bühne, eigentlich nur zwei längliche Aufbauten direkt vor dem Mischpult, bereits beim Hereinkommen gesehen und so ist mir klar, was sie jetzt machen. Sie gehen dahin und spielen „Words are in the woods“ und das tolle „Misses“ akustisch. Akustikgitarren, Blockflöte, Steel-Gitarre, Trommel. Mehr braucht es nicht.
Danach marschieren sie durch den Saal zurück zur großen Bühne und brettern das nicht minder schöne „Not dead“ ins AB. Beide Songs stammen von Everest und es macht mir großen Spaß, sie nach Jahren mal wieder live zu hören. Was mir hier wieder klar wird, ist, wie sehr Girls in Hawaii nach Grandaddy klingen können. Wenn Antoine Wielemans in seinen Telefonhörer singt und die Stimme dadurch verzerrt wird, wirkt der Song sehr Grandaddy-haft. Da ist es schon fast gar nicht mehr nötig, dass sie – so wie sie es vor einigen Jahren gemacht haben – einen Grandaddy Song covern.
Es folgen zwei neue Songs – die so mittelmäßig aufgenommen werden – bevor das Konzert um ziemlich genau 22.30 Uhr mit dem vielleicht größten Girls in Hawaii Song endet. Ich habe zwar andere Girls in Hawaii Lieblinge, aber bei „Rorschach“ denk‘ ich herrscht Konsens in Sachen Girls in Hawaii Hit. Der Jubel ist groß.
Mehr Songs wird es diesen Abend nicht geben. Der Saal leert sich langsam. Es dauert eine Zeit, bis sich alle durch die Flügeltür und den Gang entlang ins Foyer bewegt haben. Die Luft ist hier etwas stickig, von daher schnell die Jacke an und raus an die frische Luft. Draußen ist’s angenehmer. Wir gehen um die Ecke und stellen uns in die nächste Schlange. Es ist Zeit für Fritland. Gut, dass es hier bis ein Uhr nachts Frites gibt. Schlecht, dass viele andere auch noch einen Abendsnack brauchen. So oder so ähnlich hatte ich mir den Abend ausgemalt. Es war ein tolles Konzert, das alle meine Erwartungen erfüllt hat. Trotz der Malesse am Morgen ein sehr gelungener Kurztrip nach Brüssel.
Ach, das habe ich noch gar nicht erwähnt. Als wir im Zug nach Köln saßen, bemerkten wir nur durch einen zufälligen Blick in die Bahn App, dass unser ICE von Köln nach Brüssel gar nicht fährt. ‘Alle Halte entfallen’ stand dort in roten Lettern. Und der Hinweis, dass der Nachfolgezug zwei Stunden später bereits ausgebucht/überbucht sei. Was nun? Wir entschieden, kurzerhand umzudisponieren. Dann eben mit dem Auto. Aber nicht bis Brüssel, sondern nur bis nach Leuven. In Leuven liegt relativ verkehrsgünstig ein großes Parkhaus am Bahnhof, das leicht von der Autobahn aus zu erreichen ist. Und da die belgische Bahn ein Wochenendticket für 7,50 Euro anbietet, bzw. im Ticketkauf des Konzertes – so wie bei allen Ancienne Belgique Konzerten – eine vergünstigte Bahnanreise und eine kostenlose Nutzung der Metro enthalten ist, fiel die Wahl auf eine 20-minütige Zugfahrt von Leuven nach Brüssel nicht schwer. Das klappte dann auch gut und ich denke, dass ist ein gutes Modell, zukünftig Konzerte in Brüssel auf diese Art und Weise anzufahren. Vertrauen in die DB fällt aktuell etwas schwer.Girls in Hawaii sind in Belgien eine große Nummer. Warum eigentlich nicht bei uns?
Setlist:
01: 9.00 AM
02: Short song for a short mind
03: Time to forgive the winter
04: Casper
05: Found in the ground
06: The ship on the sea
07: The fog
08: Fontanelle
09: Flavor
10: Organeum
11: Bees & Butterflies
12: Catwalk
13: Joking about my life
Zugabe:
14: Words are in the woods
15: Misses
16: Not dead
17: Goddess
18: I.H.R.N.
19: This farm will end up in fire
20: Rorschach
Kontextkonzerte:
Girls in Hawaii – Köln, 16.02.2018 / Gebäude 9
Girls in Hawaii – Köln, 23.01.2014 / Gebäude 9
Girls in Hawaii – PIAS Nites Festival, Brüssel 15.03.2014