Ort: Lanxess Arena, Köln
Vorband: Boukman Eksperyans
What an odd tour this is proving to be for Arcade Fire. Just before it began, Pitchfork, the online bible of US indie music, published testimony from three women and a gender-fluid person alleging episodes of sexual misconduct on the part of the band’s lead vocalist, Win Butler. Their support act, the singer-songwriter Feist, quit amid calls for the tour’s abandonment. True to the juggernaut character of their music, however, the Canadian-US ensemble have ploughed on…
Financial Times
…und stehen an diesem Abend in Köln auf der Bühne.
Eine Kurzzusammenfassung der Ereignisse für diejenigen, die es nicht mitbekommen haben. So wie ich. An mir ging die Win Butler Sache komplett vorbei. Ich las davon erst, als ich mir ein Ticket für die Hallenshow von Arcade Fire in der Kölner Lanxess Arena via Ticketswap gekauft hatte und anschließend nach ihren ersten Tourkonzerten googelte. Ey, was hast du gemacht? Und was ist mit Feist?
Ich lese weiter…
Am Wochenende wurden Vorwürfe gegen Win Butler erhoben: Der Sänger von Arcade Fire soll sich zwischen 2016 und 2020 des sexuellen Fehlverhaltens schuldig gemacht haben. Drei junge Frauen und eine non-binäre Personen schilderten anonym gegenüber „Pitchfork“ unter anderem, dass Butler ihnen gegen ihren Willen Dickpics geschickt habe und Sexting betrieb. Auch sei es bei Treffen zu sexuellen Handlungen gekommen, die die mutmaßlichen Opfer zum jeweiligen Zeitpunkt nicht explizit verneinten, sie ihnen im Nachhinein aber übergriffig vorkamen. Butler habe seine Macht als Sänger einer weltbekannten Indierockband missbraucht. Butler gab zu, dass es zu derartigen Textnachrichten und auch Videocalls gekommen sei. Auf beides sei er nicht stolz, ferner sei ihm nicht bewusst gewesen, dass sein Verhalten übergriffig erscheinen könnte. Dafür bat er um Entschuldigung. Er dementierte aber ausdrücklich, jemals eine dieser oder anderer Personen gegen ihren Willen berührt oder zu wie auch immer gearteten Handlungen genötigt zu haben. Alles Körperliche sei vollkommen einvernehmlich passiert. Seine Frau Régine Chassagne, ebenfalls Mitglied bei Arcade Fire, unterstützte ihren Mann: Er sei zeitweise an „dunklen Orten“ gewesen, ihm ging es nicht gut, aber sie liebe ihn, wisse, dass er ein guter Mensch sei und dass er niemals Frauen gegen ihren Willen auch nur berühren würde.
Rolling Stone
Das war letztes Wochenende. In den Tagen zuvor, als meine Idee, das Konzert zu besuchen, konkreter wurde, stand noch in jeder Facebook Werbung Feist als Support. Ich freute mich auf dieses kanadische Doppel, war aber gleichzeitig auch irritiert, dass es noch ausreichend Karten in allen Kategorien für das Konzert gab. Ab Montag war dann der Name Feist von allen Ankündigungen und der Facebook Veranstaltungsseite verschwunden. Kommentarlos, ohne einen Hinweis auf irgendwas. Am Abend sollten Arcade Fire in Antwerpen spielen. Für das Konzert gab es bei Ticketswap sagenhafte 252 Kartenverkaufsangebote, der günstigste Stehplatzpreis lag bei 25 Euro. Gruselig.
Mittlerweile hatte ich mich in die Situationslage eingelesen und arrghh, was für ein Mist das alles ist. Ich las und las und meine Vorfreude verringerte sich mit jedem Satz. Soll ich da noch hingehen? Ist es okay, mit diesem Wissen dahinzugehen? Ich war uneins, ich wusste wirklich nicht, was ich machen soll. Bis Mittwoch blieb das so. Erst nachmittags fasste ich den Entschluss, hinzufahren.
Es ist einfach Rockmusik. Nee, das ist es nicht.
Also alles merkwürdige Voraussetzungen für einen Konzertabend.
Als wir gegen halb acht die Kölnarena betreten, sind alle Vermutungen Wirklichkeit geworden. Es ist leer. Sehr leer. Die Oberränge sind abgedunkelt, die Unterränge kaum besetzt. Vor der Bühne stehen vielleicht 400 Leute; links und rechts ist noch so viel Freiraum, dass ich mich auch um kurz nach halb acht nicht beeilen muss, einen guten Stehplatz zu ergattern. Ich kann noch gemütlich durch die Halle schlendern, hin und her überlegen, ob ich und wo ich mich hinstellen soll.
Wird eigentlich eine Vorband spielen, nachdem Feist die Tour vor ein paar Tagen verlassen hat? Im Moment spielt ein DJ von der kleinen B-Stage Trios „Da, da, da” und versucht so etwas wie Stimmung in die Halle zu bekommen. Es gelingt ihm nicht. Um kurz vor acht betreten sechs bis sieben Musiker die Bühne. Haben Arcade Fire für die restlichen Termine noch einen Support gefunden? Es scheint so. Die Musiker entpuppten sich als die haitianische Band Boukman Eksperyans. Es ist bekannt, dass Arcade Fire eine besondere Beziehung zu dem Inselstaat haben.
Boukman Eksperyans spielen Rasin, einen haitianischen Crossover Musikstil, der Musik aus dem Voodoo-Kult mit Folk und Rock’n’Roll verbindet. Sagt Wikipedia. Und mindestens einmal spielt der Gitarrist Gerald Toto Alfred ein amtliches Rock Gitarrensolo. Gut, das ist phasenweise nett anzuhören, reißt mich aber nicht zu Begeisterungsstürmen hin. Es wäre auch okay gewesen, wenn der DJ bis halb neun weiter ein paar Platten aufgelegt hätte. Den Boukman Eksperyans Perkussionisten und Gitarristen Gerald Toto Alfred sehe ich später auch bei Arcade Fire auf der Bühne rumspringen, was ich ab und an als ein bisschen nervig empfand.
Umbaupause. Immerhin haben sich die Sitzplätze im Unterrang in Bühnennähe etwas gefüllt. Auch der Innenraum scheint bis zur B-Sage einigermaßen ausgefüllt zu sein. Zumindest im mittleren Drittel, an den Seiten ist es immer noch möglich, bis nach vorne vor die Bühne zu schlendern. Wenn die Band gleich auf der Bühne steht, sollte es beim Blick in den Saal nicht ganz zu desillusionierend aussehen. Es dürfte nur nicht das Hallenlicht angehen.
Das Konzert beginnt, wie es sich für ein Stadionkonzert gehört. Zu „On the sunny side of the street“ fährt ein Lichtbogen, der sich bis dahin über die Bühne spannte, nach links und rechts zurück. Das macht Eindruck. Dann starten Arcade Fire mit „Age of anxiety I“, dem ersten Song des aktuellen Albums We. Und auf einmal sind alle Gedanken an die merkwürdigen Voraussetzungen weg. Da wo ich stehe, ist die Stimmung von Song eins an gut. Ein Junge am Gitter springt wie wild in die Luft, neben mir tanzen zwei Mädchen. Es fühlt sich an wie ein Konzert, nicht wie ein merkwürdiger Abend. In einem halbleeren Sitzplatzblock mag das anders sein. Dass ich etwas Platz um mich herumhabe, empfinde ich als angenehm. Es folgt „Ready to start“ und die Stimmung wird euphorisch. Das bleibt so bei „Neighborhood #1“ und „Reflektor“, letzteres ist übrigens eines meiner Highlights des Konzertes. Zu diesem Zeitpunkt ist es ein gutes, stimmungsvolles Konzert. Zumindest vorne an der Bühne.
Das geht’s rüber zur sogenannten B-Stage, einer kleinen kreisförmigen Bühne im hinteren Drittel der Halle. Hier stehen Arcade Fire eng beieinander, so wie damals, als sie kaum auf die Bühne im Jugendpark beim Monsters of Spex (so hieß das Ding doch damals) passten und sich nach jedem Song beim Instrumentenwechsel gegenseitig umrannten. Ja damals, als Arcade Fire – die ich eigentlich bei dem zweitägigen Open Air nicht so richtig auf dem Schirm hatte – mich förmlich umhauten mit ihrer Energie, ihrem wuseligen Gehampel und ihren gefühlt hunderten Instrumenten, die nach jedem Song den Besitzer wechselten. Damals spielten sie ein alles überragendes „Rebellion (lies)”. Ein bisschen aus der Erinnerung heraus ist der Song mein zweites Highlight an diesem Abend. Auch wenn er hier und heute nicht ganz so überragend bei mir ankommt wie seinerzeit.
Zurück auf der Hauptbühne geht es weiter mit Songs aus den 2000er Jahren: „Wake up“, „Black mirror“, „The suburbs“ (beide) und „Haïti“. Dazwischen steht noch „Normal person“, dass mich immer an Robert Palmers „Addicted to love“ erinnert. Es entwickelt sich eine Art Best-of-Set, wobei natürlich nicht alle Hits Berücksichtigung finden können. Logisch. Zu „Here comes the night time“ werden vor der Bühne vier oder fünf Flatterfiguren, wie man sie vom Autohändler um die Ecke kennt, mit Ventilatoren in den Hallenhimmel geplustert. Das ist das Finale, „Here comes the night time“ ist der letzte Song vor der Zugabe.
In der Zugabe gibt es noch zwei gute Momente. Moment I zeigt Régine Chassagne allein durch den Innenraum wirbeln und auf einem Klavier tanzend „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)“ auf der kleinen Bühne mitten im Saal singen. Eine würdige Zugabe für ein Stadionkonzert. Doch würde sie zu weit nach links blicken oder in die Sitzplatzränge, sie würde keinen Menschen sehen. Das macht sie aber natürlich nicht, Régine Chassagne singt in Richtung der großen Bühne und den vielleicht 4000 Leuten. Anschließend geht sie zurück zur Hauptbühne, sie läuft an mir vorbei. Ich könnte mit ihrer Hand abklatschen, lasse das aber.
Moment II ist „Everything Now“. Der Song von ihrem fünften Album Everything now beendet das Konzert. Eine luftige Disconummer, zu der vor der Bühne wieder die Flatterfiguren im Wind der Ventilatoren wehen. Das sind kleine Stehaufmännchen. Ob Arcade Fire das auch sind? Ich weiß es nicht; ich fürchte, ihre Zeit ist vorbei.
Setlist:
01: Age of anxiety I
02: Ready to start
03: Neighborhood #1 (Tunnels)
04: Put your money on me
05: Reflektor
06: Age of anxiety II (Rabbit hole)
07: The Lightning I
08: The Lightning II
09: Rebellion (lies)
10: Wake up
11: The suburbs
12: The suburbs (continued)
13: Normal person
14: Black mirror
15: Unconditional I (Lookout kid)
16: Haïti
17: Here comes the night time
Zugabe:
18: Sprawl II (Mountains beyond mountains)
19: Everything now
In einem Interview mit der New York Times hat Nick Cave gerade eine neue Perspektive auf die häufig fallende Frage ‘Wie kann ich noch die Musik von Menschen hören (oder deren Bücher lesen, etc.), die sich als schlecht entpuppt haben?’ formuliert: ‘Für mich’, sagte Cave, ‘liegt der Punkt ihrer Kunst manchmal genau in der Entfernung, die sie zwischen ihr und ihrem schlimmsten Selbst zurücklegen mussten.’
Kölner Stadtanzeiger
Kontextkonzerte:
Arcade Fire – Köln, 22.08.2007 / Palladium
Arcade Fire – Rock a Field, Luxemburg, 26.06.2011
Arcade Fire – Primavera Sound Festival Barcelona, 29.05.2014
Arcade Fire – Köln, 16.06.2017 / Tanzbrunnen