Ort: DEPART, Kortrijk
Bands: King Hannah, Adult DVD, Model/Actriz, Idaho, Maria Somerville, Joe Gideon

Karlsruhe oder Kortrijk, Hauptsache Idaho. Endlich. Endlich! Auf dieses Konzert habe ich eine halbe Ewigkeit gewartet. Oder mindestens 30 Jahre. Endlich habe ich an diesem Nachmittag die Gelegenheit, die Band Idaho live zu sehen. Meine Freude über die Ankündigung einer Europatour, die Idaho Chef Jeff Martin im Sommer über seine Netzwerke publizierte, war groß. ‚Da muss ich hin, diese Gelegenheit darf ich mir nicht entgehen lassen‘, so mein erster Reflex. Damals, Mitte der 90er Jahre entdeckte ich die amerikanische Band über ihr Album This way out und sie waren für mich der Dosenöffner zum Slowcore, auch wenn ich seinerzeit den Begriff noch nicht kannte. Oder, wie Jeff Martin es im später im Konzert formuliert: Slowcore meets Black Sabbath.
Schnell war klar, dass meine Konzertwahl auf Kortrijk und das Sonic City Festival fallen würde, neben Karlsruhe der für mich nächstgelegene Tourstopp der Band. Und an diesem Sonntag gegen 16 Uhr ist es dann soweit. 30 Jahre warten sind vorbei.
Doch der Reihe nach, denn zuvor hatte das Festival noch ein paar andere Künstler*innen zu bieten.

Ich gehe durch die sogenannte Chillout Area zur Box. Dieser Konzertsaal liegt am anderen Ende des Indoorgeländes des Sonic City Festivals, etwas abseits vom Konzerttrubel am Eingangsbereich und zwischen den anderen beiden Bühnen. Es gibt hier sogar eine kleine Mal- und Bastelecke für Kinder, man kann in Hängemappen abhängen und an einer Kaffeebar Kuchen und Getränke kaufen. Genug Sitzgelegenheiten gibt es auch. Die Box ist der Saal, in dem erst Joe Gideon auftritt und im Anschluss das Idaho stattfinden wird.
Es ist 14 Uhr. Ich bin so früh im Depart, weil ich nun mal ein Ticket habe und ich Lust verspüre, mir neue Bands anzusehen. Als ich mittags ein, zwei Videos sah, hatte ich das Gefühl, dass sich der Besuch bei Joe Gideon lohnen könnte. Mehr kenne ich von dem Mann und seiner Musikgeschichte nicht. Ich lese nach: Er war Anfang der 2000er Jahre Teil der Band Bikini Atoll (noch nie gehört) und ist seit 2015 solo unterwegs. Drei Soloplatten gehen bisher auf seine Kappe und aktuell begleitet er die King Hannah Tour im Vorprogramm.
Bereits nach dem ersten Song ist mir klar, dass dies ein ganz hervorragendes Konzert wird. Joe Gideon und sein Partner John J. Presley an einer zweiten Gitarre bzw. Keyboard spielen schönen und unaufgeregten Indiebluesrock. Die Songs werden von Gitarren dominiert, die die teilweise mehr sprechgesanghaften Lyrics von Joe Gideon untermalen. Red House Painters, generell Mark Kozelek, dienen vielleicht als eine kleine Referenz. Aber nicht nur. Denn die einzelnen Songs entwickeln eine Art von Eigendynamik, die ich sonst eher von amerikanischen Indierockbands kenne. In Summe hat Joe Gideon also viele Elemente in seiner Musik, die ich mag. So ist es nicht verwunderlich, dass mir das Konzert gefällt. Anders als z. B. bei Index of working music an gleicher Stelle am gestrigen Tag habe ich nach dem Auftritt von Joe Gideon und John J. Presley das Gefühl, dass ich mich mehr mit seiner Musik beschäftigen sollte. Bevor in einer Stunde Idaho hier spielen, gehe ich noch fix zur Mainstage und schaue mir Maria Somerville an.

Die Irin sah ich bereits vor einigen Jahren im Vorprogramm von Dry cleaning. Damals spielte sie ein Soloprogramm, an diesem Nachmittag bespielt sie mit Band die große Bühne im Depart. Das Konzert ist mit einem Wort perfekt beschrieben: My bloody valentine. Obwohl, das sind drei Worte, aber die sagen über die 40 Konzertminuten alles. Ich fühle mich wie in den 1990ern, gleißendes Bühnenlicht, viel Nebel, Gitarrenwände, halliger Gesang. Und laut ist es auch. Maria Somerville und Band bieten ein tolles Retrospektakel. Was ist jetzt nicht abwertend meine. An den Auftritt vor einigen Jahren kann ich mich nicht genau erinnern, wäre es so, wäre ich besser vorbereitet gewesen und hätte gewusst, was mich erwartet. So bin ich ein paar Minuten erst sehr sprachlos und dann sehr begeistert. Wow! Himmel, das hatte ich so nicht auf dem Schirm. Meine ursprüngliche Idee war, nur kurz zu bleiben, um mich rechtzeitig bei Idaho einzufinden. Nun bleibe ich etwas länger, sehe das halbe Konzert. Mehr aber dann nicht, denn dafür bin ich zu sehr darauf erpicht, einen guten Platz bei Idaho zu erhaschen. Das aktuelle Maria Somerville Album Luster möchte ich allen Shoegazern und 4AD Fans uneingeschränkt empfehlen. Und anstrengend, wie seinerzeit ihren Soloauftritt in der Botanique, empfand ich es an diesem Nachmittag nicht.
Als wir den Saal betreten, sind wir nicht die ersten. Fünf Leute belagern schon die erste Reihe, die fünf Minuten später nicht nur durch uns, sondern auch durch weiteren Zulauf komplett belegt ist. Ich scheine nicht der Einzige zu sein, der auf dieses Konzert hin fiebert.

Idaho. Eine meiner liebsten Lieblingsband der mittleren 1990er Jahre. This way out, ich weiß gar nicht mehr genau, wie sich die Geschichte zutrug und wie ich auf diese CD gestoßen bin. Ich weiß aber noch sehr gut, wie hoffnungslos begeistert ich vom ersten Hördurchgang an von den Songs des Albums war. „Drop off“, „Still“ und vor allem „Fuel“ wussten mich direkt zu überzeugen. Entsprechend oft lag die CD in meinem CD-Spieler. Nach und nach kaufte ich alles von Idaho, was mir zwischen die Finger kam. Year after year von 1993 sowie Alas und Hearts of Palms, die zwei weiteren Idaho Platten aus den 1990er Jahren. Später kamen dann noch Levitate,The lone Gunman und die Kompilationen People like us should be stopped/People like us didn’t stop und We were young and needed the money dazu. Ende der 2000er Jahre wurde es dann still um Idaho. Irgendwann las ich dann, dass John K. Berry, neben Jeff Martin Gründungsmitglied der Band, verstorben sei. Sollte also You were a dick von 2011 das letzte Idaho Album sein? Lange sah es danach aus. Jeff Martin tourte solo und es gab keinerlei Anzeichen auf eine weitere Existenz von Idaho.
Doch 2021 erschien – für mich wie aus dem Nichts – die Idaho Dokumentation Traces of Glory (habe ich bisher noch nicht gesehen, weil sie in Europa über Apple nicht ausgestrahlt wird) und Jeff Martin spielte wieder unter dem Namen Idaho Konzerte. Im letzten Jahr erschien dann ein neues Album, Lapse. Die Band ist also wieder aktiv. Und sie ist nicht in Vergessenheit geraten. Schnell füllt sich der Saal, zum Ende des Soundtracks stehen sicherlich schon 50 Leute im Saal. Den Soundtrack beschließen Idaho mit einem komplett gespielten „Fuel“ von This way out. Ihren vielleicht größten Song haben sie damit schon abgehakt, später im Konzert – der Saal ist dann sehr, sehr gut besucht – spielen sie es nicht ein zweites Mal.
Die Band steht als Trio auf der Bühne. Am Bass spielt Charly Wilmoth, am Schlagzeug John Thomas. Direkt vor uns steht Jeff Martin. Das scheint das aktuelle Idaho Personal zu sein. Sie starten mit „The space between“, einem relativ aktuellen Song. In den folgenden 40 Minuten kommen dann alte Sachen und neue Songs, wobei mir auffällt, dass die Songs des neuen Albums gut an die alten Sachen anpassen. Idaho 2025 klingen verblüffend nach Idaho der Jahre 1992 bis 1999. Zwischen den Songs nimmt sich Jeff Martin sehr viel Zeit, seine Gitarre neu zu justieren. Dann passiert sekundenlang oft nichts, denn – wie er sagt – er könne dabei auch nichts erzählen, das multitasking-mäßige fehle ihm. ‘Are you ready?’ ist daher eine mehrfach gehörte Frage des Schlagzeugers, dem oft nicht sofort ein ‘yeah yes’ folgt. Das Konzert ist wunderschön und erfüllt alle meine Erwartungen. Gegen Ende des Sets erfüllen sie sogar einen Request, welchen, weiss ich allerdings nicht mehr.
Nach Idaho passiert erstmal nicht mehr so viel. Ich skippe die Auftritte von den Eat-Girls und Pile und gehe zurück in die Stadt und ins Hotel. Erst am frühen Abend zu den Konzerten von Model/Actriz und Adult DVD plane ich, zurückzukommen.

‘Man könnte jetzt behaupten, Model/Actriz klängen wie Black Country, New Road, wären sie von der Kunsthochschule geflogen und daraufhin so wahnsinnig geworden, wie sie gerne wären’ schreibt Plattentests.de zur Rezension des Debütalbums Dogsbody. Oh, okay. Das ist nicht mein Eindruck während des Konzertes. Ich sehe sie nach den 30 Minuten Liveeindruck eher in der Nähe von The Prodigy oder LCD Soundsystem auf Speed. Aber vielleicht ist das zweite Album auch komplett anders als das Debüt, Dogboy erschien immerhin vor zwei Jahren, heuer ihr zweites Album Pirouette. Cole Haden, der Sänger der Band, zieht sich während der Show zweimal um; er scheint ein sehr extrovertierter Frontmann zu sein, der keine große Geste auslässt. Oder wie es der Guardian formuliert:
This visceral post-punk New York band deliver blood, sweat and music of manic brilliance
Mich kriegen sie damit allerdings nicht. Ich schaue mir das Spektakel von hinten aus an und werde kaum angefixt. Vielleicht bin ich zu alt für diese Art von Musik. Was aber okay ist.
Da ich nach Model/Actriz ein wenig durch die Gänge laufe, beim Merch vorbeischaue und nach etwas zum essen Ausschau halte, bin ich nicht unter den ersten 300, die Adult DVD im Club sehen wollen. Das Ergebnis ist, dass ich nicht mehr in den Saal komme. Ich schaue mir aus dem Türrahmen ein paar Songs an und entscheide mich dann, in den großen Saal zu gehen. Dort machen King Hannah gerade ihren Soundcheck. Und das vor nicht wenigen Zuhörern.

Etwas über King Hannah zu berichten ist, wie Eulen nach Athen tragen. Sind sie nicht aktuell die Indierockband schlechthin? Ich denke schon. Seit den Zeiten der Pandemie fällt mir keine andere Band ein, die so schöne und zeitgemäße Gitarrenindierocksongs schreibt wie das Duo Hannah Merrick und Craig Whittle. In der Pandemie habe ich King Hannah erstmals gehört und kennengelernt. Mit ihrer EP Tell me your mind And I tell you mine und dem Song „Crème Brûlée“ fing alles an. Ich verliebte mich direkt in den ruhigen und getragenen Gitarrensong. Ihr Konzert vor gut einem Jahr in Köln fand ich herausragend, die beiden Platten Big swimmer und I’m not sorry, I was just being me sind Meilensteine des Post-Pandemie Indierocks. Also Big swimmer ist es definitiv.
Also schaue ich mir den Soundtrack an, was in meinen Augen definitiv entspannter und viel interessanter ist, als sich in den Adult DVD Saal zu quetschen. Hannah Merrick und Craig Whittle wirken enorm entspannt. Die Sängerin trägt over-ears, die sie auch während des Konzerts später nicht ablegt. Sieht man auch nicht so oft, Sänger*innen mit Kopfhörer.
Ihr Konzert gleich um 22 Uhr beschließt das Sonic City Festival 2025. Im Vergleich zu den letzten beiden Abenden ist das sehr zeitig, aber organisatorisch sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass die letzten Züge in Richtung Brügge, Gent und Brüssel wohl schon um kurz nach 23 Uhr fahren. An den vorherigen beiden Tagen las ich immer wieder den Hinweis, dass die letzten Bands erst nach den letzten Abfahrten der Züge spielen. An diesem Abend will man scheinbar allen die Möglichkeit geben, die Co-Kuratoren des Festivals live erleben zu können. Diese Rücksichtnahme find’ ich gut. Das AB in Brüssel macht das auch so. Dort enden Konzerte zeitlich so, dass man noch mindestens den letzten Zug in Richtung Lüttich, Gent oder keine-Ahnung-wohin-noch bekommt. Ihre Setlist lässt keine Wünsche offen. Sie starten mit „Somewhere near El Paso“ und enden mit „Big swimmer“. Dazwischen liegen Songs aus ihren Alben. Es ist tatsächlich mein erstes Konzert bei diesem Festival, bei dem ich jeden Song kenne. Und es ist berauschend. Die Gitarrensoli von Craig Whittle werden immer besser und Hannah Merrick wird auf der Bühne eine immer coolere Socke. Zumindest im Vergleich zu den Jahren davor – so bilde ich mir zumindest ein – wirkt sie lockerer. Musikalisch ist das Konzert eine eins mit Sternchen. Die Stimmung ist gut, Songs wie „Davey say“, „New York, let’s do nothing“, „The mattress“ oder „Big swimmer“ unschlagbar schön. Es scheint so, als können King Hannah aktuell nichts falsch machen.
Was für ein toller Festivalabschluss. Was für eine schönes Festival.
Setlist King Hannah:
01: Somewhere near El Paso
02: Milk Boy (I love you)
03: The mattress
04: Go-Kart Kid (Hell no!)
05: Suddenly, your hand
06: New York, let’s do nothing
07: Davey says
08: All being fine
09: Leftovers
10: Crème brûlée
11: Big swimmer
Kontextkonzerte:
Sonic City Festival – Kortrijk, 08.11.2025
Sonic City Festival – Kortrijk, 07.11.2025
Sonic City Festival – Kortrijk, 10.11.2023
Sonic City Festival 2019 – Kortrijk, 09.11/10.11.2019
King Hannah – Köln, 21.11.2024 / Gebäude 9
King Hannah – Absolutely Free Festival Genk, 05.08.2023
King Hannah – Köln, 04.04.2022 / Helios 37
Maria Somerville – Brüssel, 17.04.2022 / Botanique