Ort: Concertgebouw de Vereeniging, Nijmegen
Vorband:

Ryan Adams - Nijmegen, 02.10.2024

Nach zwei Stunden setzt Ryan Adams zu einem kleinen Spotify Diss an. Seine sechs in diesem Jahr veröffentlichten Alben können man überall streamen, außer bei Spotify. Die hätten ihn, wenn ich meine Englischkenntnisse und seine leise Sprechweise richtig überein bringe, aus ihrem Katalog verbannt. Der Grund, den er anführt: unerwartet hohe Zugriffszahlen und damit einhergehend ein Bot-Verdacht zur Manipulierung von Streamingzahlen. Na dann. Ich habe keine Ahnung, was da zwischen Spotify und ihm läuft, es interessiert mich auch nicht so. Ich habe keinen Spotify-Account und bin auch sonst kein Musikstreamer, aber die im Nebensatz fallengelassene Aussage, sechs Alben in diesem Jahr veröffentlicht zu haben, ließ mich aufhorchen. Wie jetzt, sechs Alben in einem Jahr?! Wow, das nenn’ ich Arbeitswut. Und ich habe das überhaupt gar nicht mitbekommen. Aber bei uns läuft Ryan Adams weit unter der Wahrnehmungsgrenze.
Seit 2000 hat Ryan Adams nun 25 reguläre Solo-Studioalben veröffentlicht, mit seiner Band The Cardinals kommen nochmal eine Handvoll hinzu. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends war Ryan Adams einer meiner ganz großen Musikerhelden. Seine ersten Alben Heartbreaker (2000), Gold (2001), Demolition (2002), Rock‘ n‘ Roll (2003) und Love is hell (2004) stehen allesamt im CD-Regal. Ich hörte „New York, New York“, „So alive“ oder „1974“ sehr regelmäßig, mir gefiel sein bodenständiger Soul-Blues-Rock’n’Roll, den ich sonst überhaupt nicht so mochte. Nach Love is hell verlief sich dann die Spur. Ich glaube, es kamen mit der Zeit mehr und mehr Folk-/Countryeinflüsse in seine Songs, die folgenden Alben mit seiner Band The Cardinals gefielen mir nicht so. In den nächsten Jahren las ich nur noch über Ryan Adams, seine Musik hörte ich nicht mehr.

Und ich dachte, das Konzert findet im Stadsschouwburg Nijmegen. Nein, ich dachte das nicht nur, ich war mir ziemlich sicher. Wir parkten wahnsinnig günstig in der Tiefgarage nebenan. Doch als ich vor dem Stadttheater Nijmegens stand, musste ich feststellen, dass hier kein Ryan Adams Konzert stattfindet. Denn statt im Brutalismusbau des Theaters ist das Konzert im älteren Concertgebouw de Vereeniging angesetzt. Diametral gegenüber, auf der anderen Seite des Kreisverkehrs.
Das de Vereeniging wurde in den 1910er Jahren erbaut und der Konzertsaal in den 2010er Jahren modernisiert. 1500 Leute passen in den großen Saal, der an den Seiten und im hinteren Bereich auch einen Oberrang besitzt. Glaube ich dem Internet, ist der Saal hinsichtlich seiner Akustik einer der besten weltweit. Ich bin nicht unbedingt ein Akustik-Genießer, aber das Ryan Adams Konzert klang schon sehr gut. Nijmegen ist neben Paris, Antwerpen und Den Haag die fünfte und letzte Weltstadt, die der amerikanische Sänger auf seiner Solotour auf dem europäischen Kontinent bespielt. Sein Europatrip wird ergänzt durch zwei Hände voll Englandtermine, davon alleine vier in London. Daher ist es nicht wenig überraschend, dass viele an diesem Vorabend des 3. Oktober rübergemacht haben, um Ryan Adams live zu sehen. Die Vorfreude auf das Konzert ist im Foyer greifbar, oft hat man ja nicht die Gelegenheit, den Musiker live zu sehen. Ryan Adams Solotour 2024 nennt sich das Event, auf ein striktes Foto-und Filmverbot wird mehr als einmal hingewiesen.

Die Bühne ist wohnzimmerlich eingerichtet: Ein schwarzes Klavier, ein schwarzer Frankfurter Stuhl, ein Garderobenständer, ein Ablagetischchen, vier Gitarrenständer mit vier Akustikgitarren im Halbkreis um den Stuhl arrangiert und ein paar Stehlampen. Der Boden ist mit drei roten Orientteppichen ausgelegt. Das ist das Setting für die nächsten zweieinhalb Stunden. Ein Vorprogramm gibt es nicht. Passend zum Konzert läuft leise Folk-/Gospel-/Singersongwritermusik vom Band. Sie ist kaum wahrnehmbar, die Gespräche im Parterre übertönen sie. Wie gesagt, die Akustik des Saals ist sehr gut.
Unzählige Menschen meines Alters stehen vor der Bühne und fotografieren die Akustikgitarren. Okay, diese Art Erinnerungsfotos sind noch machbar, später, während es Konzertes, hält sich dann jeder an das Fotografierverbot. Zumindest kann ich vom Oberrang aus kein Handydisplay leuchten sehen. (Oder die Leute sind sehr, sehr gut vorbereitet und haben ihre Monitore und Displays zu 100% abgedunkelt, um unauffällig zu bleiben. Mal gucken, was das Internet so in den nächsten Tagen preisgibt.) Die Bühne ist quasi nicht ausgeleuchtet. Das Fotografieren hätte wahrscheinlich wenig Sinn bzw. wenig erfreuliche Fotos ergeben. Bis auf vier, fünf Lämmchen, deren Leuchtkraft immer wieder auf Bitten von Ryan Adams heruntergedimmt werden, ist die Bühne komplett dunkel. Überdies sitzt Ryan Adams noch im Schatten der Lampen. Während des Konzerts ist er kaum zu erkennen. Am Klavier sitzt er mit dem Rücken zum Saal. Immerhin wird dann das Licht etwas aufgedreht, wahrscheinlich, weil er sonst die Notenblätter nicht erkennen kann. Unnahbarer geht es bei einem Konzert kaum.
Ryan Adams wechselt das Instrument und damit auch seine Sitzposition nach nahezu jedem Song. Bevor ans Klavier geht, setzt er noch schnell seine Brille auf, wenn er vom Klavier zurückkehrt, nimmt er einen Schluck Wasser. Das sind so die einzigen Dinge, die er neben dem musizieren macht. Und ehrlich gesagt, ich hatte auch mit keinem Wort von ihm gerechnet, aber dann erzählt er von seinem Spotify Dilemma und erkundigt sich nach dem Wohlbefinden eines Zuschauers, der einen kleinen Hustenanfall erlitt. ‘Are you okay’, fragt Ryan Adams in den Saal, als ein Mann drei, viermal hustet. Hilfsbereit weist er seinen Helfer an, eine Wasserflasche in den Saal zu schicken. Ob sie den Hustenmann erreicht hat, weiß ich nicht.
30 Songs spielt Ryan Adams an diesem Abend und es ist ein Konzert zum wegdämmern. Ruhig, unaufgeregt sind seine Darbietungen. Selbst Bluesrocksongs wie „Everynbody know“ oder „Gimme something good“ werden von ihm komplett rasiert, klingen mit Akustikgitarre oder am Piano leise und zerbrechlich. Das ist alles toll und große Kunst; stripped-down ist wohl der Fachbegriff dieser Art der Songinterpretation. Es gilt also, aufmerksam zuzuhören. Und das Publikum ist aufmerksam. Ruhig und mit Bedacht sitzen wir im Concertgebouw und lauschen. „New York, New York“, einer seiner großen Hits, spielt Ryan Adams am Klavier so reduziert, dass ich es kaum wiedererkannt habe. Später geht es mir mit „English girls approximately“ und „This house is not for sale“ vom 2004er Album Love is hell genauso. Wunderschön klingen beide Songs auf der Akustikgitarre. Und betrübt. Seine Stimme, die unsagbar toll klingt, klingt an diesem Abend kaum fröhlich, sie klingt melancholisch, resignierend, gleichgültig. Er wirkt nicht gut, aber sein Konzert ist großartig. Ein musikalisches Genie, aber auch ein Mensch mit unverzeihlichen Fehlern und großen Problemen. Ich lese im Internet, dass er in den USA gerade wieder dabei ist, auf die Beine zu kommen. Er tourt viel, seine Konzerte sind gut besucht oder gar ausverkauft. In New York spielt er auf der aktuellen Tour gar in der Carnegie Hall. Gecancelt wird Ryan Adams nicht mehr.

‘Celebrating the 20th and 10th album anniversaries of ‘Love Is Hell’ and ‘Self Titled’ + career spanning classics and favorites’, lautet der Untertitel der Tour. Okay, von seinem 2014er Album Ryan Adams spielt er an diesem Abend zwei Songs, von Love is hell immerhin vier. Soviel dazu. Classics und favorites, sprich Coverversionen, dominieren daher die Setlist. Zwar (oder Gott sei Dank!) spielt er nicht das hineingerufene „Wonderwall“, aber Hank Williams’ „I’m so lonesome I could cry“ (das ich nun zum zweiten Mal innerhalb der letzten 6 Monate als Coverversion bei einem Konzert gehört habe) und The Smiths’ „There is a light that never goes out“.

To die by your side. Well, the pleasure, the privilege is mine.

Ryan Adams covert The Smith in einer Pianoversion. Ich nehme ihm jedes Wort ab, der Song – so wie er ihn spielt – unterstreicht mehr als einmal die Düsternis und die Schwermut des Konzerts. Denn nein, es ist kein launiger Abend, es werden keine Witze oder Anekdoten erzählt. Ryan Adams lacht auch nur einmal, als der Schlussapplaus aufbraust und er wie ein Schwergewichtsboxer nach einem 12 Runden Kampf schwer gezeichnet die Arme zum Triumph hebt. Ansonsten ist die Stimmung so wie der Konzertsaal ausgeleuchtet ist, dunkel.
„There is a light that never goes out“ ist für mich der schwächste Song des Abends. Was wiederum für das Konzert und die Auswahl der anderen Songs spricht. Meine Highlights sind neben dem Doppel „English girls approximately“ und „This house is not for sale“ natürlich das schöne „Hotel Chelsea nights“ und der Motown Klassiker „The tracks of My tears“ von Smokey Robinson & The Miracles. Auch der wird bis zur beinahe Unkenntlichkeit interpretiert gespielt. Titel von The Doors, The Velvet Underground und Bob Dylan ergänzen die Coversongsliste. Seine eigenen Songs umspannen seinen gesamten Musikkatalog.

Nach 2 Stunden 15 Minuten wird es Ryan Adams etwas kühl, er zieht sich seine Hoodie über sein Black Flag T-Shirt. Oder es sind die ersten Vorbereitungen auf das nahe Konzertende? Ja, sie sind es. Nach drei weiteren Songs und zweieinhalb Stunden ist das Konzert vorbei. Standing ovations, langanhaltender Applaus. Im hellen Licht erkenne ich Ryan Adams erstmals richtig. Ehrlich gesagt, ich hätte ihn nicht erkannt. Er sieht mit seinen kurzen Haaren und vielen Kilos ziemlich mitgenommen aus.

Zum Rausschmiss läuft Heavy Metal Musik. Stärker kann der Kontrast nicht sein. Was für ein toller aber auch merkwürdig anmutender Konzertabend.

Setlist:
01: Oh my sweet Carolina
02: Ashes & Fire
03: Everybody knows
04: Two
05: Gimme something good
06: New York, New York
07: I see monsters
08: I’m so lonesome I could cry
10: Carolina rain
11: Star sign
12: Dreaming you backwards
13: Love Sick
14: Firecracker
15: My Wrecking Ball
16: The Changeling
17: My winding wheel
18: Hotel Chelsea nights
19: Pale Blue Eyes
20: Dear Chicago
21: English girls approximately
21: This house is not for sale
22: Something’s missing
23: The tracks of my tears
24: Shining through the dark
25: Please do not let me go
26: There is a light that never goes out
27: Answering bell
28: When the stars go blue
29: To be young (is to be sad, is to be high)
30: Come pick me up

Kontextkonzerte:

Schreibe einen Kommentar