Ort: Paradiso, Amsterdam
Vorband:

GrandaddyEnde der 1990er Jahre waren Grandaddy eine meiner großen Lieblinge. Under the western freeway und The sophtware slump hörte ich rauf und runter. Verschroben, melancholisch, auf ihre Art dynamisch. Niemand sang so wie Jason Lytle, niemand spielte so wie Grandaddy.
Ich erschrak daher sehr zurecht, als ich in Vorbereitung auf das Konzert feststellen musste, nur 2 Alben der Band zu besitzen. Wie, nur 2 Alben von einer offensichtlichen Lieblingsband im CD-Regal? Gefühlt hatte ich mindestens 10, selbst wenn die Band nur 4 Alben und ein paar EPs veröffentlicht hat.
Sachen gibt’s! Ich glaub es nicht!

‘Are you ready?‘ Und wir so: ‘Yeah!‘ Die Sequenz vor “He’s simple, he’s dumb, he’s the pilot” kennen alle. Zum Ende des Konzerts war es der lang ersehnte und endlich live gehörte Welthit der Band, der das gut besuchte Paradiso endgültig in großen Jubel verfallen ließ.
Die Zeit ist reif für Grandaddy. Für eine Reunion, für neue Songs und für Konzerte.
Als Bärte noch nicht Symbol für männliches urbanes Leben waren und noch nicht im Gesicht eines jeden zweiten Mannes klebten, waren Grandaddy die größte Indieband aller Zeiten. Und modisch ihrer Zeit extrem weit voraus. Alle Bandmitglieder trugen ZZ Top Gedächtnisbartwuchs, und das zu einer Zeit, wo es nichts Uncooleres gab, als Bart zu tragen. Es waren die letzten Jahre des letzten Jahrtausends, als sie mit zwei Alben die Indiewelt gehörig durcheinanderwirbelten. Under the western freeway und The sophtware slump boten gefühlte 100 Welthits im erweiterten Bereich des amerikanischen Indierock. Es war die Phase, in der zwei Sachen passierten: Pavement zeigten, wie es sein kann, wenn man Gitarrenmusik ihren freien Lauf lässt und sich selbst als Band dabei nicht so bierernst nimmt. Und Yo la Tengo legten ihre frühe Brachialphase ab und frischten ihre Gitarren mit ruhigen Keyboards und seichtem Gesang auf. Beide Bands erschufen so eine neue Art des Indiepop, in der sich Bands wie Grandaddy voll und ganz zuhause fühlen konnten: vertrackte, ruhige Keyboards mit Gitarren und einem dezenten Gesang. Jason Lytle brachte hierfür die Stimme mit, die anheimelnd sanft und unaufdringlich den stabilen Gegenpol zu den vielen Tempo- und Rhythmuswechseln der Songs bildet. Grandaddy klangen einzigartig.

Hip oder gar berühmt wurden die Amis damit nicht, ihre beste Chartplatzierung (US 84) schafften sie mit Sumday, ihrem dritten Album. Aber sie waren Vorreiter und Wegbereiter, schafften etwas Neues und bisher Unerhörtes. Auch an Hipsterbärte dachte damals noch niemand. Grandaddy waren Landeier und ihre Bärte und die Truckerkappen passten zum Understatement ihrer Musik.

Jason Lytle steht direkt vor meiner Nase. Da die Bühne im Paradiso einen guten Meter fünfzig hoch ist, blicke ich aber eher auf seine Schuhe als in sein Gesicht. Also ich würde auf seine Schuhe blicken, wenn nicht ein Tischchen, fein dekoriert mit einem überdimensionalen Tischtuch aus der IKEA-Fundgrube. Auf dem Tisch, so mutmaße ich, weil ich es nicht sehe, stehen ein Synthesizer und anderes Elektroequipment. Ich sehe nur drei Drehregler über die Tischkante hervorlugen. Der steile Blickwinkel gibt nicht mehr Einblick her. Rechts von mir ist das Schlagzeug aufgebaut, der Schlagzeuger trägt als Einziger immer noch ZZ Top, davor tummelt sich der Bassist und auf der anderen Seite der Bühne stehen ein Gitarrist und ein weiterer Tastenmann. Die Band Grandaddy ist damit komplett.

Den Tag über war es heiß in Amsterdam. Die Anreise am Morgen und ein bisschen Sightseeing über Mittag ließen mich ordentlich schwitzen. Sommerwetter. Wie schon tags zuvor fürchtete ich einen überhitzten Konzertsaal am Abend; nach einem Tag in der Sonne eine sehr ungemütliche Vorstellung. Nach kurzem Hotelaufenthalt ging es zu Fuß zum Paradiso. Die Stadt war voll, der Weg über Grachten und entlang viel zu enger Straßen das, was man Großstadt nennt: hektisch, wirr, unübersichtlich. Am Paradiso warteten nur wenige. Sollte mich das überraschen? Eher nein, denn Grandaddy hat doch heutzutage niemand auf dem Schirm. Nach Jahren ohne neue Songs schwimmt sie noch mehr unter dem Radar, als sie es noch ihren ersten Alben tat. Die zwei, drei Musikbekloppten, die ähnlich früh, als eine gute dreiviertel Stunde vor Einlass, vor der Tür des Paradiso warteten, kannten sich. Und der Türsteher kannte sie. Aha, dachte ich kopfnickend, in jeder Stadt gibt es also diese Konzertgängerszene, die sich und die Türverantwortlichen kennt, weil sie sich bei jedem Konzert irgendwie sehen und während des Wartens gerne Zeit für ein Pläuschchen haben. Überrascht war ich jedoch über die Vielzahl der Konzerttouristen, die sich vor der Tür des Paradiso einfanden. Nicht nur ich hatte an diesem Tag die Grenze passiert und rübergemacht.

Aus dem Gebäude, eine ehemalige Kirche, strömte kalte Luft an meine Beine. Puhh, ich war ein wenig erleichtert, der Innenraum war klimatisiert. Das gab meiner ehedem schon großen Vorfreude auf diesen Abend nochmal einen Kick. Sicher, ich hätte auch einen Saunaaufguss auf mich genommen, aber so ist es doch angenehmer.
Im Innenraum war es eine Stunde später gut gefüllt. Die Ränge des Paradiso blieben leer, so richtig voll war es also nicht. Lag es am Wetter? Lag es an der Band? Beides kann niemals eine Ausrede sein! Mir war es egal. Vielleicht 1000 Leute wollten die Band sehen, die sich nun wieder zusammengefunden hat.

„Hewlett’s daughter“ ist der erste Song des Abends, und ich bin sofort verliebt. Grandaddy haben ihre eigene Verschrobenheit. Tempo und Taktzahl wechseln von jetzt auf gleich. Oft mehrmals in einem Song bremst der Synthesizer alle und jeden aus. Trotzdem machen diese Brüche die Stücke nicht kaputt, sie verlangsamen nur die Schlagzahl, sorgen für eine neue Struktur, geben den Songs eine neue Perspektive. Zusammengehalten wird alles von Jason Lytles einzigartiger Stimme. Ich kenne kaum einen weiteren Sänger, der so gelangweilt, monoton und eintönig singen kann wie der Grandaddy Frontmann. Vielleicht kommen ihm Neil Young und der Weakerthans Sänger nahe. Seine sonore Stimme ist die Basis der Songs, das beständige Bindeelement zwischen den einzelnen Songepisoden. Aufdringlich klingt sie dabei nie. Vielmehr wie ein weiteres Musikinstrument.
Im Hintergrund flimmern über eine Videoleinwand die alten Videos. An das Skatervideo ohne Skateboards zu „Summer here kids“ erinnere ich mich, während ich die Bilder sehe, alle anderen sind mir unbekannt oder ich kann mich nicht mehr an sie erinnern.

Den Platz hinter seinem Tischchen verlässt Jason Lytle nur dann, wenn er Raum zum Gitarrespielen benötigt. Dann schlurft er in Richtung des Bassisten, der links von ihm steht. Dort verharrt er ein paar Sekunden, bevor er sich wieder auf den Weg zu seinem Tisch entgegentapert. Dann steht die Grandaddy Kerngruppe aus Kevin Garcia am Bass, Schlagzeuger Aaron Burtch und Jason Lytle eng beisammen. Zusammen gründeten sie 1992 die Band. Einmal, gegen Ende eines Songs, setzt er zu einem Luftsprung an. Dezent. Es ist sein einziger körperliche Gefühlsausbruch während eines Songs. Zwischen den Stücken bleibt er reserviert. Geredet wird nicht viel. Ein paar Abstimmungsgespräche, einmal ein kommentiertes warten auf den Schlagzeuger, das ist es. Selbst als ein Mädchen ihr Mobiltelefon direkt vor seine Nase hält, bleibt er stumm. ‘It’s her birthday‘. Schlagzeuger Aaron Burtch muss ihn auf die Bildschirmbotschaft des Telefons aufmerksam machen. Dort blinkt in Laufschrift ‘You are my birthday present‘. Na ja, vielleicht ist es auch besser, das unkommentiert zu lassen.
Die Fanbase der ersten Reihen ist so, wie man das sich bei einem Konzert einer ‘alten‘ Band vorstellt. Sie ist alt, stammt wie die Band aus den 1990er Jahren.

Was war in der Zwischenzeit passiert?
Also nicht bei uns, die Frage geht an die Band. Nun, irgendwie das Übliche. Nach einer erfolgreichen Indiekarriere ohne das dicke Geld kommt irgendwann der Split. Der Sänger macht ein Soloalbum, die anderen Bandmitglieder nix oder gründen Seitenprojekte. Nach ein paar Jahren besinnen sich aber alle wieder auf die gute alte Bandzeit, spielen ein paar Gigs zusammen, haben Spaß, freuen sich an dem ihr-seid-noch-nicht-vergessen und nehmen vielleicht ein paar Songs auf.

Grandaddy nehmen nicht nur vielleicht ein paar Songs auf, sie haben es tatsächlich getan. Im Konzert spielen sie die neuen Sachen „Chek injin“ und „Way we won‘t“. Relativ viele um mich herum haben sie auf dem Schirm. Ich auch ein bisschen. Sie klingen ganz gut, soweit das live repräsentativ festgehlaten werden kann. Nichtsdestotrotz sind es die alten Hits, die am lautesten gegrölt werden. „The crystal lake“ (nebenbei bemerkt der perfekte Popsong), „Summer here kids“ (nebenbei bemerkt der perfekte Indierocksong), „A.M. 180“ und „He’s simple, he’s dumb. He’s the pilot“. Zusammen mit den alten Videos im Rücken bringen sie ein gutes 1998er Gefühl in den Saal. Die Gitarren klingen wie eh und je, die Keyboards quietschen und fiepen wie annodazumal. Herz, wat willste mehr!

Der Konzertabend hat Potential. Die vielen Songs von den ersten drei Alben lassen alle Herzen höher schlagen, die Grundstimmung ist top. Die Band freut’s. Dieser Auftritt ist der einzige kontinentale Clubgig der Band, die zuvor und danach nur einige Festivals bespielt.
‘I’m not having a good time‘ heisst eine Textzeile in „Summer here kids“. Für diesen Abend lasse ich diese Aussage nicht gelten.
Zum Ende packen sie die riesengroßen Knaller aus: „AM 180“ und „He’s simple, ….“. Die Indiekonzertpartysause neigt sich dem Ende entgegen. Zwei Zugaben, bevor „Summer here kids“ der grandiose indierockige Abschluss ohne wenn’s und aber ist.
Grandaddy ließen keine Wünsche offen. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder. Es war grandios schön mit euch! Vielen Dank!

Setlist:
01: Hewletts daughter
02: El Caminos in the West
03: Laughing stock
04: The crystal lake
05: My small love & Levitz
06: Lost on yer marry way
07: Chek injin
08: Chartsengrafs
09: Stray dog and the chocolate shake
10: Disconnecty
11: Now it’s on
12: Way we won’t
13: So you’ll aim towards the sky
14: A.M. 180
15: He’s simple, he’s dumb. He’s the pilot.
Zugabe:
16: Fare thee not well mutineers
17: Summer here Kids

Kontextkonzert:

Multimedia:

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