Ort: E-Werk, Köln
Vorband:

Archive - Köln, 04.03.2015

‚Die Sängerin hat so eine Hammerstimme‘, bemerkt das Mädchen mit den blond-schwarzen Haaren ein paar Reihen hinter mir vollkommen zu Recht und richtig. Holly Martin, die song by song Teilzeit-Sängerin der Band Archive, hat wirklich eine wunderschöne Stimme. Gerade auch live schafft sie es, die ruhigen, und damit schwächeren Songs des aktuellen Albums Restriction nicht zu schnulzig klingen zu lassen.
Das Mädchen hinter mir hat bei weitem nicht eine so tolle klare und helle Stimme. Sie klingt eher polternd und rau. Nach 20minütigem Intensivgelaber gegen Ende des Konzertes kann ich das definitiv feststellen. Trotzdem schaffte sie es nicht, mir damit das mal wieder sehr gute Archive Konzert zu vermiesen. Aber solche Konzertbesucher sollten einfach öfter eine rauchen gehen, draußen oder im Rauchervorraum.

Archive entdeckte ich vor fünf, sechs Jahren so richtig. Meine Entdeckungstour lief über Umwege, begonnen hat sie irgendwann Ende der 90er mit ihrem Hit „Fuck U“, fortgesetzt wurde sie Ende der 2000er Jahre mit ihren Alben Controlling Crowds [Part I–III] und Controlling Crowds [Part IV].
2011 startete ich in Salzburg ein Fernstudium, und mit Archive verbinde ich auch die ersten universitären Veranstaltungen in der Musikstadt. In den ersten Kaffeepausen suchte jeder nach interessanten Gesprächsthemen und -leuten. Zufällig ergab sich eine kleine Musikfachsimpelei mit einem musikaffinen Mitstudenten. Rasch entdeckten wir gemeinsame Vorlieben und Helden. Irgendwann kam das Gespräch auch auf die britische Band Archive. Ein Mädchen gesellte sich zu uns, sie schnappte wohl das Wörtchen Archive auf und erzählte, dass sie die Band auch toll fand und sie ebenso wie ich bereits live gesehen und bewundert hatte. Leider verließen wir das Thema Archive sehr schnell wieder, und kurz darauf das Mädchen uns. Wir schienen sie dann doch mit amerikanischem Underground und anderen Absurditäten zu sehr zu langweilen. Vielleicht, so denke ich in meinen Rückschauen manchmal, war das unhöflich von uns und wir hätten das Gespräch länger offen halten sollen. Ich konnte das Thema Archive nicht zuende diskutieren, denn leider sehe ich seit dieser Zeit nur noch einen der beiden unregelmäßig regelmäßig. Und nach wie vor zanken wir uns dann immer über Musik, was sehr lustig ist. Der amerikanische Underground ist immer irgendwie dabei.
Jedes Mal, wenn ich Archive bewusst höre oder die Band in einem Konzert sehe, krabbelt diese Geschichte hervor. So wie jetzt. Das ist schon verrückt, aber schöne Erinnerungen dürfen das! Ich habe nichts dagegen.

Archive sehe ich live sehr gern. Ich mag ihre dramatisch-theatralischen Songs, ihr immer etwas dick Aufgetragenes Gehabe. Die Band bescherte mir viele emotionale Livemomente, so dass sich Archive im Laufe der letzten Jahre schon ein kleines Alleinstellungsmerkmal unter meinen Konzertbands erarbeitet haben. Jedes ihrer Konzerte war ausnahmslos sehr gut.
2012 sah ich die Briten zum letzten Mal. Sie waren definitiv in ihrer post TripHop Phase angelangt, der Rapper Rosko John gehörte nicht mehr zum vielköpfigen Bühnenensemble der Band.
Die Taktgeber Danny Griffiths und Darius Keeler, die beiden Keyboarder, die live an den linken und rechten Bühnenflanken gegenüber sitzend ihre Band umrahmen, die beiden Sänger Pollard Berrier und Dave Pen, sowie ein oder zwei weitere Gitarristen plus Schlagzeuger und Holly Martin gehören 2015 zur Liveformation. Wenn ich mich richtig erinnere, ist es das erste Mal, dass ich Archive mit Sängerin sehe. In den früheren Konzerten wurden die damalige Sängerin Maria Q. via Videoprojektion ‚hinzugeschaltet‘. Hier und heute betrat Holly Martin nach dem zweiten Lied leibhaftig die Bühne.

Die Setlist des Konzertes stand schon im Vorfeld fest. Eine Band, die eine starre Videountermalung ihrer Konzerte im Gepäck hat, hat auch immer eine identische Setlist. Das eine ist dann oft dem anderen geschuldet, es sei denn, man hat unterschiedliche Showkonfigurationen. Archive haben die nicht, wenn ich mir die Setlisten der Tour so anschaue.
Daher war klar, dass es kein „Fuck U“ geben wird und dass sehr viele Songs der aktuellen Platte Restriction gespielt werden würden. Ebenso war klar, dass es keine Vorband geben wird, sondern stattdessen der Film Axiom gezeigt wird. Streng genommen wurde uns damit das vorletzte Archive Album vorgespielt, denn der Film war als quasi visuelle Unterstützung zum 2014er Album AXIOM entstandenen.

Archive haben ein großartiges Album produziert, das fast wie ein komplettes Film-Skript funktioniert. Unsere Aufgabe sahen wir darin, eine Art visuellen Soundtrack zur Musik zu entwickeln. Unsere Herausforderung war es, dieses Skript der Band in die passenden Bilder zu übersetzen – das bisher spannendste Projekt, an dem wir je beteiligt waren. www.axiomthefilm.com

Ich komme etwas später als geplant im E-Werk an. An der Schanzenstrasse ist mal wieder Hochbetrieb, das Palladium nebenan meldet eine ausverkaufte Veranstaltung. Der Film läuft schon einige Minuten, als ich mich vor der Bühne einfinde.
Mit Kino in Konzerten habe ich es nicht so. Meist fehlt es mir an Konzentration, aufmerksam zu sein und etwas vom Film mitzunehmen. Vor einem Morrissey Konzert erging es mir so und auch phasenweise bei dem Eels Vorfilm über Quantenphysik. So ist es nicht verwunderlich, dass ich auch kaum was von Axiom mitbekomme. Erschwerend kommt hinzu, dass ich meine KonzertkollegInnen länger nicht gesehen hatte und wir uns über dieses und jenes austauschen müssen. Axiom dauerte gute 40 Minuten.

„Feel it“, Song Nummer eins folgt leider nicht im Anschluss an den Film, sondern eine gute halbe Stunde später. Dann läuft das Konzert und es läuft wie erwartet. Und ein bisschen wie befürchtet. Hatte ich schon erwähnt, dass mir das neue Album Restriction nicht so zusagt wie die Vorgänger, weil ich es zu weichgespült und zu romantisch poppig finde? So ist es, und da das Konzert sieben Songs des Albums beinhaltet, sind eben auch grosse Phasen des Konzertes sehr ruhig und getragen. Manchmal läßt Holly Martin’s Stimme mich darüber hinwegsehen, manchmal, und das vor allem im Dreierpack mit „Black and Blue“, „Sleep“ und „Blood in Numbers“ aber auch nicht.
Aber ein Konzert bietet immer auch schöne Überraschungen. „Ruination“ zum Beispiel, auf Platte ein heißer Kandidat für die Romantikliste, entpuppt sich live als wahre Schönheit ohne Kitsch und Brimborium. Es ist der erste Song, zu dem alle drei Sänger gemeinsam auf der Bühne stehen und es ist das souligste Stück des Abends.
Zuvor verzückten mich „Dangervisit“ und „Bullets“ vom Controlling Crowds Album und „Nothing else“, ein an diesem Abend kleiner EBM Stampfer. Das sind die Archive, die ich etwas lieber mag.

Zwischen den Stücken gab es nur selten Ruhepausen, irgendein Keyboardton oder ein Gitarrenfeedback leiteten gekonnt und planvoll von einem zum nächsten Stück.

So ist es denn auch mal wieder die musikalische Bandbreite, die das Konzert zu einer unterhaltsamen Sache macht. Holly Martin, Pollard Berrier und Dave Pen wechseln sich am Gesang ab und die Setlist aus Soul, Triphop und Postrockgitarren Stücken lässt uns auch musikalisch immer wieder hin und her schwanken. Eintönigkeit gibt es 2015 bei Archivekonzerten keine, und wenn es dann doch mal einen zu langen Wall of Sound gibt, lohnt immer ein Blick zu Darius Keeler. Im Gegensatz zu seinem Pendant auf der anderen Bühnenseite steht er hinter seinem Keyboard und faustet permanent Luftlöcher im Bassrhythmus in Richtung seiner Kollegen. Manchmal fuchtelt er auch mit beiden Armen, das wirkt dann, als wolle er sein Ensemble dirigieren (im besten Fall), oder es rabiat nach vorne peitschen. Los, schneller, weiter, weiter, scheinen dann seine Fäuste zu schreien.
Durch den Mischmasch von alt und neu ist es ein etwas zerrissenes aber schönes Konzert. Ich merke förmlich, oder bilde mir ein, es zu merken, wie die Aufmerksamkeiten im Publikum hin und her wanken. Viele mögen die alten Sachen eher als die neuen, anderen ergeht es umgekehrt. Und das Laufpublikum kann nur etwas mit den letzten beiden Stücken anfangen. „Numb“ und in der Zugabe „Lights“ sind dann doch zu gut, um alle Münder verstummen zu lassen. Selbst das Geschwätz der Leute ein paar Reihen hinter mir. Bei „Numb“ spielen vier von sieben Musikern Gitarre. Es ist ein fulminanter Abschluss des zweistündigen Konzertes.

Der Abend war Archive at it best, und die Band live grandios wie immer. Auch wenn ich den Sound im E-Werk etwas leise empfand. 2011 schrieb ich zum Archive Konzert beim Rolling Stone Weekender:

Im Laufe der Jahre durchlebten Archive einige Stilrichtungen. Es gab die anfängliche Trip-Hop Phase, sinnbildlich daran erkennbar, dass Rapper Rosko John die Bühne betrat, die Emo- Gothic, die Dark-Post-Rock Phase und die Progressive Rock Phase. Eine Menge Phasen, die zeigen, wie abwechslungsreich und dadurch kurzweilig Archive Musik und Archive Konzerte sind.

Daran hat sich nichts geändert.

Kontextkonzerte:
Archive – Köln, 04.11.2012 / E-Werk
Rolling Stone Weekender – Weissenhäuser Strand, 12.11.2011
Archive – Köln, 23.10.2009 / E-Werk

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