Ort: Maison communale de Plainpalais, Genf
Vorband: Blouse
Manche Konzertaugenblicke passieren einfach so.
Der Saal, in dem Slowdive ihr Genfer Konzert spielten war angenehm locker gefüllt, niemand rückte dem anderen zu sehr auf die Pelle. Ich hatte also gute Aussichten, umherzuschauen und die um mich herum stehenden zu beäugen. Da gab es denn semiprofessionellen Filmemacher, der mit wilden Handbewegungen seine Kamera hin und her schwenkte. Im Film soll das sicher als unheimlich dynamische Kamerafahrt rüberkommen und es gab das junge Mädchen mit ihrer schwarzen Kompaktzoomkamera, die aussah, als ob sie für irgendeinen Blog schreibt und Fotos macht. Beide scheinbar nicht unbedingt Fans der ersten Slowdive-Stunden, das traf eher auf die Frau meines Alters zu, die sichtlich nervös und hibbelig auf das Konzert wartete und ihren eher irritiert dreinblickenden Begleiter so überhaupt nicht mit ihrer Vorfreude ansteckte.
Wie sehr ich mich dann doch in meiner Einschätzung irrte, und wie stark emotional aufgeladen ein Konzert werden kann, lernte ich bei „When the sun hits“, dem fünften oder sechsten Lied im Programm. Das Fotomädchen neben mir verdrückte verstohlen ein paar Tränen. Ich bemerkte das zufällig gegen Ende des Songs, als sie in ein weißes Taschentuch schnäuzte. Es war ein Moment voller Ergriffenheit, aber auch voller Ohnmacht gegenüber der Musik.
Sweet thing, I watch you
Burn so fast it scares me
Mind games don’t leave me
Come so far, don’t lose me
It matters where you are
Wenn Neil Halstead die ersten Textpassagen leise ruhig anstimmt, wer wird da nicht schwermütig?
Ich schon, schloss die Augen und spürte eine leichte Gänsehaut den Rücken hochkrabbeln. Oh je, „When the sun hits“ wurde in den nächsten Minuten der Soundtrack lange vergangener Erinnerungen. Der Kloß im Hals war mächtig. Und schön.
Ich verstehe immer noch nicht, was dieser Song in diesem Moment in mir angerichtet hat, welch eine Tragik und emotionale Dramatik er versprühte. Eigentlich ist es auch wumpe, ich muss Gefühle nicht verstehen müssen. Fakt ist, dass diese vier Minuten dem Abend die Krone aufsetzten, sie waren die Tröpfchen, die den Unterschied zwischen sehr gut und perfekt ausmachen. Sie verwandelten den Abend in einen Abend voller Schönheit und Gelassenheit und ließen mich in einem Gefühl zurück, das nicht inflationär vorkommt und so nicht an Stärke verliert. Laß es bisher fünfmal gewesen sein, dass mir soetwas passierte.
Ich war gefangen, driftete mehr und mehr in das Konzert ab, hatte meine Augen öfter geschlossen als geöffnet und sah mich gut aufgehoben. „Catch the breeze“, „Alison“, „Golden hair“, alles verwandelte sich in eine Dimension, die anders war als bei vielen anderen Konzerten.
Oft wird man bemüht, sogenannte perfekte Augenblicke zu beschreiben und schafft es nicht, weil das vermeintlich perfekte in der Nachbetrachtung überhaupt nicht perfekt aussieht. Das Slowdive Konzert war perfekt, denn auch in der Nachbetrachtung blieb es bei meinem ersten Eindruck.
Slowdive auf der Bühne sind eine 90er Band. Christian Savill spielt den Bass so, wie Bassisten seinerzeit ihr Instrument spielten. Unendlich cool auf dem Oberschenkel aufliegend mit langem Arm und gebücktem Oberkörper. Dabei ging er immer ein paar Meter nach vorne und ein paar Meter zurück. Als Gitarrist einer Shoegaze Band ist es da einfacher. Stehen und spielen, keine Showelemente, denn Shoegaze Konzerte sind keine Shows. Das gilt auch für Rachel Goswell: wenn sie nicht Gitarre spielt, bedient sich einen Schellenring im Takt des Schlagzeugs. Unaufgeregt, monoton, sanft.
Die ärmste Sau in solchen Bands ist der Schlagzeuger. Er steht immer unter Volldampf, hat keinen Ruhemoment und ist logischerweise auch der, der nach dem Konzert als erster Duschen sollte. Gerade bei Gitarrenbands ist er entscheidend: Taktgeber, Vorprescher, Antreiber. Das, was er spielen muss, ist nicht immer hochkompliziert, aber es ist andauernd und monoton. Chapterhouse, Swervedriver, Ride, egal welche dieser klassischen Shoegazer Bands ich höre, bei jeder achte ich viel mehr auf das Schlagzeug als bei anderen Musikern und Bands. Vielleicht, weil es das einzige Zweitinstrument ist, was ich deutlich heraushöre. Simon Scott macht seinen Job außerordentlich gut, alle anderen aber auch. Alle anderen waren neben Sängerin Rachel Goswell noch Neil Halstead, Christian Savill und Nick Chaplin. Also die 1992er Besetzung.
Das Konzert fand in einem schicken Veranstaltungssaal mitten in Genf statt. Im Rahmen des sogenannten La Bâtie Festivals, einem jährlich stattfindenden Genfer Kulturfestivals bei dem neben Musikacts auch andere Künste bedient werden, war das Maison communale de Plainpalais einer der Veranstaltungsorte und festivallike aufgehübscht: Im angrenzenden Hof war eine Beach-Lounge mit Liegestühlen und Außengastronomie aufgebaut, überall hingen Lampions und anderer Firlefanz. Toll!
Neben Slowdive waren Blouse als Vorband angekündigt. Und es war genau dieses famose Doppelpack, was mich schlussendlich so enorm an dem Genfer Ausflug reizte. Blouse, eine amerikanische Gitarrenband aus Portland, machen quasi Shoegaze 2.0, so zumindest mein Eindruck ihres ersten Albums, auf dem mit „Time travel“ und „Video tape“ zwei große Hits gebannt sind. Gerade „Video tape“ hat diese schönen Quälgitarren, die mich an die My bloody valentines dieser Welt denken lassen. Somit passten Blouse hervorragend zu Slowdive und beide zusammen versprachen einen schönen Konzertabend.
Das dieser in Genf stattfinden sollte, also rund 600 km entfernt, war in dem Augenblick eher nebensächlich. Später dann auch in jedem anderen Moment. Nach einigem hin und her stand der Ausflug, sei er auch noch so abstrus und irre zu nennen, und zwei Tage auf der Autobahn plus Konzert waren eine abgemachte Sache.
Und sah ich nach über 20 Jahren Slowdive erneut. Unglaublich! Nun ist es nicht so, dass ich auf diese Reuniontour hingefiebert hätte wie weiland auf die Pavement Reunion, vielmehr ist es so, dass ich die Briten im Frühjahr beim Primavera Sound Festival links liegen ließ und andere, geografisch nähere, Konzerte, ignorierte. Slowdive auf einem Festival waren mein no-go, wenn überhaupt, dann in einem geschlossenen Raum, wo die Gitarren nicht entfliehen können, wo keine Laufkundschaft rumtrampelt und wo – so meine Denke – nur das passende Slowdive-Gefühl entstehen kann. Und wenn es mit einem Slowdive Konzert in 2014 nicht klappt, ist es auch nicht schlimm. Denn die Band / Musik fand ich damals zwar interessant, aber verliebt hatte ich mich nicht in sie.
Mein bisher einziges Slowdive Konzert 1992 war denn auch nicht unbedingt so, dass es nach einem erneuten Wiedersehen schrie! Es war in der Bochumer Zeche und es war mein drittes Konzert überhaupt. Zusammen mit drei Freunden, die alle mehr Slowdive Fan waren als ich, sahen wir uns diese sphärische, gitarrenlastige Musik an, die mich so überhaupt nicht packte. Ich weiß noch, wie ich auf der kleinen Treppenbühne in der Zeche saß und wenig begeistert war. Seinerzeit war ich absolut noch nicht bereit dafür, der Shoegaze war noch nicht meins, er packte mich erst Wochen später mit Ride, und Slowdive waren mir überdies nicht ruppig genug. Die säuselnde Stimme Rachel Goswell sowie die eher poppig-smarten Gitarren erinnerten mich in zu vielen Momenten an Clannad, und damit an das für mich damals sehr verachtete Genre des Galic-Dream-Rocks.
War vor einigen Jahren hipp, isländische Bands auf Isländisch singend toll zu finden, so gab es um 1990 um den Irish-Folk eine gewisse Aufmerksamkeit. Gerade in meiner Schulklasse fand das und die damals nicht weit davon entfernten Death can Dance, Levellers oder Enya großen Zuspruch. Ich mochte diesen Kram nicht, und so war ich auch nur bedingt von Slowdive begeistertet. Ein Stück wie „Eric‘s song“ vom ersten Album Just for a day lehnte ich gar völlig ab.
Als Slowdive 1995 nicht mehr waren, merkte ich das überhaupt nicht und ich war auch nicht hyperventilierend, als die diesjährigen Reunionkonzerte bekannt gegeben wurden. Aber wenn‘s passt, geh ich natürlich hin. Konzertiales Vergangenheitsgucken war bisher nie das schlechteste. Barcelona passte wie erwähnt nicht, Genf dagegen sehr.
Also Genf.
Reisstrapazen gab es keine, die Schweiz erwies sich überraschend als freundlich. Nach einer Trödelfahrt um das östliche Ufer des Genfer Sees erreichten wir im Zeitplan unser Hotel in einem kleinen Fischerdorf im französischen Teil des Genfer Sees.
Blouse eröffneten nahezu pünktlich (dank aushängendem Zeitplan wussten wir um die Termine), allerdings vor nahezu leerem Saal. Wie groß mag der Maison communale de Plainpalais sein? Auf ein 800er Fassungsvermögen schätzte ich den Raum, und zu Blouse kamen vielleicht gerade 200 aus dem angrenzenden Cafe- und Barbereich herüber. Dass der Saal anschließend auch nur knapp zur Hälfte gefüllt blieb, war für mich überraschend. Aber ich kenne die Genfer Indieszene nicht oder ob es überhaupt eine gibt. Ob das Konzert also für Genfer Verhältnisse ein Erfolg war (mehr kommen hier eh nie zu solchen Konzerten) oder eine Pleite, es bleibt unerfahren.
Blouse spielten gut, aber die falschen Songs. Ihr Schwerpunkt lag nicht auf ihrem ersten Album (nur das kenne ich), sondern auf dem Nachfolger Imperium. Aber „Time travel“, den Song, den ich an diesem Tag seit dem Grenzübertritt im Kopf hatte, werden sie sicherlich spielen. Und „Firestarter“, und „Video tape“. Also wird schon alles gut. Es wurde jedoch nur zu einem Drittel gut. „Video tape“ als vorletzter Song des 40 minütigen Sets überragte. Die anderen beiden spielten sie jedoch unverständlicher Weise nicht. Unverständlich deswegen, weil ich beim ersten hören der Songs des aktuellen Albums leider keine Hits dieser Güte ausmachen konnte, die auch nur annähernd ein Weglassen dieser beiden Songs rechtfertigten.
Danach kamen Slowdive und ich erwartete irgendwie nichts. Meine Vorfreude auf das Genfer Unternehmen war zwar in den letzten Tagen peu à peu gestiegen, aber Vorstellungen über das Konzert waren nicht Teil meiner vorfreudigen Überlegungen.
Zu einem Serge Gainsbourg Intro (Shazam-Recherche) kamen die vier Musiker auf die Bühne. Es war ihr letztes Konzert der Sommertour, las ich Anfang der Woche im Internet, und die Stimmung schien trotzdem oder gerade deswegen sehr gut. Ich hatte den Eindruck, dass die Band nach wie vor ihre Auftritte genießt und es ihnen mächtig Spaß bereitet, alle Konzerte anzugehen. Alle wirken freundlich, keiner schaute grimmig oder missmutig drein wie unsereins an einem Montagmorgen, an dem man keine Lust auf die Routinearbeit hat. Gerade bei der direkt vor mir stehenden Rachel Goswell fiel es mir immer wieder auf. Wie sie gezielte Leute im Publikum anguckte und zurücklächelte; wie sie sich freute, wenn sie in dem einen oder anderen Gesicht die Freude über den angekündigten Song entdeckt oder wenn jemand die Arme jubelnd hochreißt. Es scheint, als sei die Band immer noch unglaublich staunend, dass ihre Musik auch 25 Jahre nach der Entstehung so gemocht wird, dass sie in Barcelona zigtausend Menschen hören wollen und in der Schweiz immerhin noch 300.
Vorher dachten wir darüber nach, spätestens nach drei, vier Songs den Platz vor der Bühne zu räumen und uns soundtechnisch besser zu platzieren. Unsinnsgedanken, wie sich zeigte. Der Sound, über den bei den 2014er Reunionkonzerte so viel Gutes berichtet wurde, war auch in Genf brillant. Wir stehen vorne direkt neben den Boxen und haben doch ein Gefühl von Raumklang. Sagenhaft. Wie bei Blouse brummt und summt auch bei Slowdive keine Gitarre, es gab noch nicht einmal eine aus-versehen-Rückkopplung während einer der vielen Gitarrenwechsel zwischen den Stücken. Kristallklar waren die Gitarren, nicht zu laut aber auch nicht zu leise ausgesteuert die Gesangsstimmen. Wie oben schon geschrieben, selbst direkt vor der Bühne neben der Box stehend klangen Slowdive wie auf CD.
So kam ich relativ schnell in den dös-Modus. Slowdive spielten verzückt auf und es machte mir viel Spaß, einfach die Augen zu schließen und seicht mit dem Kopf im Takt mitzuwanken. So wie früher. Alles war wie aus einem Guss, und wenn ich ab und an durch die Augenlider blinzelte sah ich, dass ich nicht der einzige war, der so das Konzert genoss. „Catch the breeze“ mutierte dabei zum ersten Traumsong an diesem Abend, viele weitere folgten.
Ich habe keine Erklärung, warum das Slowdive Konzert gefühlt eines der besten Konzerte ever wurde. Lag es an den Tränen, an dem Kloß, am Ausflug, an der sympathischen Band? Oder war es einfach so, weil alles zur selben Zeit am selben Ort zusammentraf? Ach, bestimmt war es so!
Konzert des Jahres!
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