Ort: Lido, Berlin
Vorband: The Anna Thompsons
In der einzigen Zugabe des Abends spielen of Montreal als 15 Minuten Wahnsinnsorgie „The past is a grotesque animal“ und allerspätestens nach dem furiosen Infernofinale, das sich an die letzten Textzeilen „and none of our sectrets are physical now“ anschließt, bleiben keinerlei Fragen mehr offen. Einzig die Münder im ausverkauften Lido müssen wieder zugeklappt werden.
Wow, was für eine Show der Amis um die größte Diva des Indiebusiness, Kevin Barnes!
Gute anderthalb Stunden spielten uns of Montreal in ein Paralleluniversum, verzauberten uns mit Disco- und Funkklängen, verschoben uns mit lauten Gitarren und wilden Keyboards in eine andere Welt. Grandios, grandios.
Der Morgen in Berlin begann in den 80ern. Vor mir an einer Ampel irgendwo zwischen Kreuzberg und Neukölln steht Meg Ryan. Also nicht die aktuelle Meg Ryan, sondern die Meg Ryan aus Harry & Sally. Schulterlanges dauergewelltes Haar, metallgefasstes Brillengestell, im Schulterbereich angepolsteter Lodenmantel, bis zu den Knöcheln hochgekrempelte Jeanshose. Ich könnte sie für so viel Authentizität umarmen. Ob dieses Mädchen weiß, wie perfekt sie aussieht? Sicherlich. Dieses Berlin ist in diesen Tagen sehr achtziger. Ins Cafe zum Frühstück fahren sie auf klapprigen Rennrädern und Rundhalspullovern, rauchen Dunhill und zum Joggen kleidet man sich wie weiland Dustin Hofmann im Marathon Mann. Mode und ihre zyklischen Wiedergeburten, ein Kapitel für sich. Aber lustig sieht es allemal aus.
So extravagant szenig hier Berlin sein mag, so unspektakulär gibt es sich interessanterweise als Konzertpublikum. Sowohl bei Speedy Ortiz tags zuvor als auch bei of Montreal (wo ich es aufgrund der Musik eher erwartet hätte) ist es das auch aus Köln oder Brüssel gewohnte Publikum ohne allzu wilden modischen oder zeitgeistigen Kleidungsschnickschnack. Liefen mir noch tagsüber alle naselang fashion-victims über den Weg, scheinen sie am Abend verschwunden zu sein, oder aber in ihren eigenen Welten abzuhängen.
Eine Parallelwelt, hier wie da. Und schon schließt sich der Kreis zu of Montreal.
Of Montreal ist die Band von Kevin Barnes, von einer gewachsenen Band zu sprechen, wäre nicht ganz richtig. Laut Wikipedia haben of Montreal in den letzten knapp 20 Jahren 18 sogenannte past-members angesammelt, darunter übrigens auch die Ehefrau von Herrn Barnes, Nina Barnes.
Aktuell umfasst die Band Keyboarderin Rebecca Cash, Gitarrist Bennet Lewis, Bassist Bob Parins, Keyboarder Jojo Glidewell und den Schlagzeuger Clayton Rychlik. In dieser Besetzung hat of Montreal im letzten Jahr mit Lousy With Sylvianbriar ihr zwölftes Album veröffentlicht. Es ist ein riesiger Backkatalog, den die Band aufgebaut hat, doch wer dieses Album hört, wird zunächst irritiert sein. Im Vergleich zu den Vorgängern bietet es ungewohnte und von of Montreal auf den letzten Alben wenig bis gar nicht gehörte Klänge von Americana und Folk.
Lousy with Sylvianbriar is a sonic surprise of a different variety: 11 intimate tunes built on Summer of Love grooves and country-folk dreaminess. (Rolling Stone Magazine)
Und wie klangen die Vorgänger? Hissing Fauna, Are You the Destroyer? ist psychodelischer Pop, während False Priest die Prince Falsettstimme über psychodelischen Soul und Discomucke überstrapaziert und Paralytic Stalks Funk Bowie und Pop beinhaltet. Was ein hin und her.
Auf der Bühne konzentrierten sich of Montreal jedoch auf ihre Kernkompetenz: Funk, Disco, Hüpfen. Mit “Girl named hello” von False Priest beginnt ihr Set entsprechend, nur die Kleidung der Musiker irritiert zu diesem Zeitpunkt. Of Montreal Konzerte sind mitunter große Kindergeburtstage. So war es zumindest bei unserem letzten of Montreal in der Kölner Werkstatt, als vieles an die noch kindergeburtstag-eskeren Flaming Lips erinnerte. Daher gilt es, immer auch ein Blick auf die Kleidung und das Drumherum um die Musik zu haben.
Die Band trägt weiß und Country-Westernhemden sowie Cowboyhüte. Eine Hommage an das eher folkige aktuelle Album? Oder Zufall? Zwar kommt als zweites Stück „Triumph of disintegration“, aber die aktuelle Platte nimmt im weiteren nur einen kleinen Part des Konzertes ein, vielleicht vier Stücke spielen of Montreal von Lousy with Sylvianbriar. Und „Triumpf for desintegration“ ist überdies das vielleicht funkigste Stück der Platte und zeigt – neben Kevin Barnes blousonaritgem, glänzenden Hemd – den Weg in Richtung Funk, Disco, Bowie und Prince.
Enorm lustig mit viel Hüpfpotential und psychodelischen Keyboards geht es wild in die nächsten Minuten. „Suffer for fashion“, und der Funke springt längst zwischen Band und Publikum hin und her. Es ist ein typisches of Montreal Konzert, mit all seinen kleinen verrücktheiten und wunderbaren Augenblicken.
Jojo Glidewell bearbeitet sein Keyboard wie blöde, die Band spielt das großartige und böse „Colossus“, das der amerikanischen Schriftstellerin Sylvia Plath gewidmet ist und Rebecca Cash singt bezaubernd süß „Raindrop in my skull“, während Kevin Barnes kurz vor Ende des Konzertes ganz divenhaft erst mal sein Bühnenoutfit wechselt und für den Rest des Abends ein Rüschenhemd trägt. Also bis er es auszieht.
Die Band hat sichtlich Spaß am Konzert, das Publikum auch. In der ersten Reihen tanzt man ausgelassen. Die Party dauert eine Stunde, bevor das Finale „Heimdalsgate like a Promethean curse“ überlassen wird, diesem Disco-Pop Smasher mit dem „Come on Chemica-a-a-a-a-a-a-als!“ Refrain.
Danach ist kurzzeitig alles aus und es bleibt die unabdingbare Erkenntnis, dass Kevin Barnes einer der größten Entertainer unserer Zeit ist. Es war ein grandioses Konzert, zwar leicht dominierend durch die Prince-esken und funkigen Stücke, aber auch ein großer Rundumschlag durch die of Montreal Welt.
Und eines fehlt ja noch. Es gibt genau ein of Montreal Stück, das die Welt unbedingt braucht und das sicherlich zu den 10 größten Songs des aktuellen Jahrtausends gehört: „The past is a grotesque animal“ Dieser Song ist ein wahres Monster. Düsterer, verzweifelter und bösartiger als so mancher Cure Song aus den 80ern. Und voller Gitarren passte es bisher nirgends in den Abend und kann somit nur losgelöst vom sonstigen Konzert in der Zugabe gespielt werden. Als einzige Zugabe windet und krackselt es sich durch das Lido und endet in einem wahnsinnigen Finale aus Geschrammel und Getöse. Nach 15 Minuten geht die Band erschöpft von der Bühne und es ist klar, dass danach nichts mehr kommt.
Wie schreibt doch der NME:
Give the man a cake, he’s a genius.
Jep, unterschreibe ich sofort!
Im Vorprogramm zu of Montreal spielten The Anna Thompson. 3 junge Frauen und ein Schlagzeuger bilden die Band, die sich in Berlin gefunden hat. Sie machen eine Art Indie-Rockabilly, der zuckersüß und watteweich daherkommt. Anführerin der Band scheint die Bassistin Karen Thompson zu sein, eine Kanadierin, die seit einiger Zeit in Berlin lebt. Zusammen mit der modisch sehr fiftys-lastig gekleideten Gitarristen Ambika Thompson (Pettycoat und Schmetterlingsbrille hooray) – über Verwandtschaftsgrade der beiden untereinander habe ich keine Ahnung – und der Keyboarderin Ana Catalá bildet sie ein dreistimmiges Gesangstrio, das den Indiepopmelodien der Anna Thompsons einen extrem zuckersüßen Anstrich verleiht. Die Musik ist dabei immer nett und immer fröhlich. Die Texte sind es mitunter nicht.
Ich höre die Band hier zum ersten Mal und muss unwillkürlich an Menschen denken, die sowas sicherlich über alle Maßen lieben. Mir gefällt das ganz gut.
The Anna Thompsons“ sind drei Frauen aus Kanada und Spanien, die sich hier in Berlin in einem Neuköllner Übungskeller zusammengefunden haben und für unbedingt tanzbaren, verspielten Indierock stehen. Sie selbst bezeichnen ihr Musikkonzept als „vierkugeliges Bananensplit garniert mit einer großen Portion Berliner Pommes. (Internet)
Aber das wichtigste an diesem Abend war doch dies:
The past is a grotesque animal
And in its eyes you see
How completely wrong you can be
How completely wrong you can be
The sun is out, it melts the snow that fell yesterday
Makes you wonder why it bothered
I fell in love with the first cute girl that I met
Who could appreciate George Bataille
Standing at a Swedish festival
Discussing ‚Story of the Eye‘
Discussing ‚Story of the Eye‘
It’s so embarrassing to need someone like I do you
How can I explain I need you here and not here too
How can I explain I need you here and not here too
Kontextkonzerte:
of Montreal – Köln, 19.04.2012 Werkstatt
of Montreal – Hannover, 24.08.2012 BootBooHook Festival
Fotos:
und auf Flickr.