Ort: Live Music Hall, Köln
Vorband: HANA

Grimes

Die beiden ersten Alben der Musikerin Claire Boucher lungern irgendwo auf meiner Festplatte. Als ich am Nachmittag Visions und Halfaxa höre, erkenne ich keinen Song wieder. Im Gegenteil. Gerade die schwer eingänglichen Songs des Debütalbums verwirren mich. Grimes hatte ich anders in Erinnerung, vielleicht etwas poppiger, nicht so experimentell verfrickelt.
Ich hätte die noch sehr junge Kanadierin fast einmal live gesehen, auf irgendeinem Primavera vor ein paar Jahren, als die Pitchfork Bühne noch rechtwinklig zum Meer stand und noch nicht zu der Größenordnung der letzten Jahre herangewachsen war. Gereicht hat es damals nur deswegen nicht, weil zeitgleich die Afghan Whigs spielten. Egal, Claire Boucher hat ein neues Album am Start und ist in den letzten Monaten so etwas wie der neue Feuilletonliebling geworden. Oder endgültig geworden, wenn sie es bis dato noch nicht war. Art Angels scheint das absolute Konsensalbum zu sein.
Überraschenderweise war ihr Konzert in Köln dennoch nicht ausverlauft. Ich hatte nachmittags noch genauer darüber nachgedacht, wie früh bzw. wie spät ich losfahren müsste, um pünktlich in der Live Music Hall zu sein. Der Sonntagsblues, ein langer Abend zuvor, all das treibt mich nicht zwingend nach draußen. Ich entschied daher, nicht vor acht Uhr vor Ort zu sein. Das gelang und als ich die Halle betrat, spielte, oder soll ich besser sagen, performte HANA ihren ersten Song.
HANA ist Teil der „Grimesband“, sie spielt später am Abend noch zeitweise Gitarre, Airdrums oder Keyboard. HANA ist aber auch Sängerin und Musikerin, die in ein paar Wochen ihre Debüt-EP veröffentlichen wird. „Clay“ heißt ihr erster kleiner Hit, musikalisch koordiniert zwischen Kelela, Lana del Rey und Telepathe. Auf der Bühne steht jetzt schon nur eine Keyboard-Knöpfchendreh-Soundmaschine. Vielmehr wird es den restlichen Abend nicht, auch Grimes braucht nur so ein Ding, bzw. zwei davon.
HANA covert die Eurythmics, was schön ist. Ihre Stimme ist ähnlich der von Any Lennox. So erhält das stark verlangsamte und verelektronisierte „Here comes the rain again“ seinen Wiedererkennungswert, auch wenn es einige Sekündchen dauert, bis ich es tatsächlich heraushöre. Na, der Refrain macht’s. Wie so oft.

So baby talk to me. Like lovers do. Walk with me. Like lovers do. Talk to me. Like lovers do.

Wer in den 1980er Jahren aufgewachsen ist und Radio hören durfte, kann diese Textzeilen nicht vergessen. Auch wenn es mit der Liedtitelzuordnung etwas hapert. Spontan kam er mir nicht in den Sinn. Aber dafür gibt es ja das Internet. „Here comes the rain again“. Wonach ich in der Umbaupause noch verzweifelt suchte, später am Abend fiel mir der Songtitel wieder ein.
Die Umbaupause war nebenbei bemerkt besonders. Zum einen, weil ich noch nie so viele Leute gesehen habe, die verzweifelt Shazam bemüht haben, um herauszufinden, was da gerade gespielt wird. (Ich war übrigens auch einer von den Verzweifelten). Zum anderen der Grund des Shazamens. Denn nein, es war keine exquisite Tracklist mit alten, irgendwie bekannten Stücken, deren Titel man aber nie kannte oder immer vergisst. Es lief Klassik. Ununterbrochen, nonstop. Und Shazam versagte. Nicht nur bei mir. Jetzt wäre eine Klassik App nicht schlecht, oder jemand, der mir sagte, was ich da höre. Ich höre hochstimmigen Frauengesang, viel Spinett, leichte Melodien. Wer könnte das komponiert haben? Über alles legt sich mein Mantel der Unkenntnis. Ich bin zu ungebildet, um das genauer zuzuordnen oder gar zu kennen. Wagner schließe ich aus, Chopin auch. Warum, kann ich nicht sagen, ist nur so ein Gefühl.

Und dann kam Grimes. Und nach einer Stunde ging sie wieder. Alles, was dazwischen lag, war hervorragend, so überraschend gut und so auf den Punkt, dass ich vollkommen begeistert bin. Erster Eindruck: ganz schön dünn dieses Mädchen. Zweiter Eindruck: Wow, Milli Vanilli als Backgroundtänzer.
Und dann setzt der Beat ein und dann beginnt ein großes Tohuwabohu, ein Gerenne und Gekreische, ein Hüpfen und ein Springen. Hüpfen kann Claire Boucher sehr gut, unermüdlich macht sie das, wenn sie nicht gerade an den Knöpfchen an der Soundmaschine dreht. Zwischendurch muss sie ihre Tanzeinlagen immer wieder unterbrechen, um den Sound ins nächste Pitchlevel zu beamen. Denn ja, Grimes macht alles selbst. Sie ist ihr eigener DJ, sie ist die ein-Frau-Show. Nicht nur auf der Bühne, schließlich schreibt und produziert die Kanadierin ihre Songs selbst.

Das Konzert ist ADHS als Bühnenshow, ein irrer Spaß.

Der, der diese Zeilen geschrieben hat, weiß Bescheid. 60 Minuten kommt hier niemand zum Luft holen. Zügig schwappt der Bewegungsdrang der Sängerin auf das Publikum hinüber. Jetzt bin ich froh, dass die Live Music Hall nicht ausverkauft ist. Es findet sich Platz zum austoben. Nicht nur vor, sondern auch auf der Bühne. Dort steht nämlich nur ein Podest, auf dem zwei Soundmaschinen installiert sind. Mehr nicht. Die vier der Grimesband haben also genügend Platz, ihre rhythmischen Sportgymnastikbänder durch die Luft zu wirbeln, mit den Leuchtdegen rumzufuchteln, Purzelbäume und anderen Tanzkram zu veranstalten. Claire Boucher ist immer mittendrin. Nur selten steht sie ruhig am Bühnenrand.
Wäre ich Modeblogger könnte ich mich noch über die Camouflageleggings, die rosa Schweißbänder, die Haarschleife und das übergroße T-Shirt berichten. (Dass HANA ihr wallendes Oberteil abgelegt hat und nun aussieht wie Lara Croft passt hundertprozentig in diese 1980/90er Jahre Modenschau). Aber ich bin kein Blogger. Stattdessen kommen mir folgende Dinge in den Sinn: Nena, J-Pop, Ellie Goulding. Denn ja, in den ein, zwei ruhigen Trackpassagen des Abends erinnert mich Grimes Gesang an Ellie Golding.
Einmal hängt sie sich die Gitarre um: „Flesh without Blood“ wird aber dadurch keine Rocknummer. Der 1990er-Technokitsch gilt nach wie vor. Das ändert sich auch nicht, als sie kurz vor Schluss „Ave Maria“ a capella singt. Der Bogen zur Umbaupausenmusik ist damit gespannt. Zufall oder nicht.
Im Konzert dominieren Songs des aktuellen Albums: „Realiti“, „Life in the vivid dream“, „Venus fly“, „Laughing and not being normal“ (gleichwohl auch das heimliche Konzertmotto), „Scream“, alles setzt sie in den Übermodus.

Die Bässe lassen die Halle erzittern, die Beats stampfen energisch und selbstbewusst auf, und Grimes singt, tanzt und lacht als wäre sie Britney Spears auf Speed, Minnie Mouse auf Helium, die kleine Schwester von Pippi Langstrumpf, Twiggy und Cyndi Lauper im Krawallmodus.

Die Stuttgarter Nachrichten haben recht!
Und während ich so dastehe und mich frage, wie lange die Frau das durchhält, ist das Konzert vorbei. „Kill vs. Maim“ darf jedoch nicht fehlen. Es sei ihre Lieblingsnummer, sagt Grimes. Aber sie hasse Zugaben und das ganze hin- und her. Daher gebe sie keine und spiele „Kill vs. Maim“ jetzt direkt. Auch diesen Vortag beendet sie mit ‘blablabla‘, so wie alle Ansagen zuvor. Ihre Stimme ist dabei jedesmal kieksig, hochgepitched, überschlagen. In Verbindung mit ihrer Atemlosigkeit klingt sie wie ein kleines Kind, das einem nach einem Spurtrennen irgendetwas erzählen möchte, was keinen Aufschub verträgt. Genauso wie scheinbar der nächste Track keinen Zeitaufschub duldet. Schon springt sie wieder von ihrem Podest nach vorne, klatscht Hände ab, spurtet nach hinten zur Soundmaschine, um den nächsten Beat reinzudrehen, und wieder nach vorn.
Wow, war das großartig!

Kontextkonzert:
Primavera Sound Festival – Barcelona, 31.05.2012

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