Ort: Eine Wiese auf dem / am ehemaligen Expogelände neben IKEA
Bands: Locas in love, Like a stuntman, To Rococo Rot, Palais Schaumburg, Japandroids, Of Montreal, Tocotronic

Das gibt es tatsächlich noch! Ein mittelgroßes deutsches Indiefestival ohne die beiden musikalischen Vorzeigeathleten Get well soon und The Notwist. Nun gut, ich bin nicht der Dauerfestivalgast, für mich gibt es keine Festivalsaison, für mich gibt es zwei, drei Festivals pro Sommer, aber in den letzten Jahren hiess es tatsächlich, kein deutsches Festival ohne eine der beiden Bands. Egal ob das Juicy Beats vor einem und vor zwei Jahren, das Maifeld Derby, das diesjährige Lüften Festival oder das tolle, bald stattfindende New fall Festival, eine der beiden Bands kamen uns immer unter.
Beim diesjährigen BootBooHook in Hannover wird mit dieser Tradition gebrochen. Dass Get well soon letztes Jahr hier spielten und The Notwist im Jahr davor ist schön zu wissen. Wo diese beiden Bands spielen, kann kein schlechtes Open Air sein, so meine schon lange gezogene Schlussfolgerung. Dass das 2012er BBH aber locker ohne die beiden auskommen kann zeigt allein der Freitag: Locas in love, Like a stuntman, die Japandroids, of Montreal und Tocotronic. Für unsere Favoriten reicht so gerade eine Hand, und dann sind da ja noch Palais Schaumburg und To Rococo Rot. An den übrigen Tagen sieht das nicht anders aus. Das ist jedoch nicht sonderlich verwunderlich, wenn man liest, dass die Menschen von Tapete Records mit viel Fachverstand und Musikgespür über das BootBooHook Festival wachen.
Egal, der Freitag sollte den ersten Schwung an Bands bringen, wegen denen ich mich nach Hannover aufmachten. Japandroids, ja! Of Montreal, ja! Tocotronic, kann man mitnehmen. Am Samstag kamen dann noch Whitest Boy Alive und We have Band dazu, so dass aus einem Tagesausflug planerisch schnell ein 2-Tagesausflug gemacht wurde. Als ich mir dann die Ticketpreise und die Übernachtungsmöglichkeiten im Messeviertel der Landeshauptstadt ansah, war auch das nicht genug. Nein, e3s sollte das volle Programm sein und wenn es Erklärungsrechtfertigungen benötigte, dann diese: ein drei Tagesticket kostet genauso viel wie zwei Ein-Tagestickets. Und am Sonntag spielen ja noch Ja, Panik, eine der unbedingt sehenswerten Bands. Als sich dann herausstellte, dass die Luxusabsteige in knappen 800 Metern Festivalentfernung auch nicht das kostet, was sie kosten könnte oder gar musste, wurde aus einem Festival-Freitag ein komplettes Festivalwochenende. Wenn schon, denn schon. 3 Tage Hannover also.
Mit einer zeitlichen Punktlandung betraten wir das Festivalgelände gleich gegenüber vom IKEA Markt. Die Kölner Lemminge Locas in love betraten genau 2 Minuten später die Hauptbühne. Auf Grund zweier Autobahnstaus kurz vor Hannover hatte ich nicht mehr damit gerechnet, des pünktlich zu schaffen und insgeheim mein Premierenkonzert der von vielen Leuten sehr geschätzten Locas in love abgeschrieben.
Loca in love gehören zu dieser kleinen feinen Gruppe deutscher Bands, die man gerne unterschätzt. Auch ich gehörte zu denen, die sich bisher nicht aufraffen konnten, sich ein Konzert der vier Kölner in ihrer Heimatstadt anzuschauen. Davon gab es in den letzten Jahren einige, aber auch gutes Zureden half nicht. Ich weigerte mich standhaft. Um festzustellen, dass das dumm und unbegründet war, dafür musste ich erst knappe vier Stunden nach Hannover fahren. Locas in love gefielen mir auf Anhieb mit ihrem süßen, angenehm unaufgeregtem Indiepop. Vor der Bühne hatten sich für diesen frühen Zeitpunkt bereits eine ordentliche Menge Besucher eingefunden, die die sanfte Nachmittagssonne und die trockene Wiese ausnutzend, dem knapp einstündigen Set der Band lauschten. Ich kannte nur ihren letzten Song, „…“, das Video dazu hatte ich mir Donnerstagabend noch schnell angeschaut. Bis dahin vermisste ich ihn jedoch nicht, denn auch die anderen Stücke hatten hohen Unterhaltungswert und brachten uns gut in das Festival. Diese Band hat mehr Aufmerksamkeit verdient und ich bin froh, sie – wenn auch etwas ungewollt – endlich kennengelernt zu haben. Oh ja, ab und an sollte ich Musikempfehlungen durchaus Vertrauen schenken.
Nach Locas in love ebbte die konzertiale Anfangseuphorie etwas ab. Weder Like a stuntman im „Bierzelt“ (das BookBooHook hatte neben der Hauptbühne noch zwei Zeltbühnen: eine in einem rechteckigen weißen Dachzelt und eine in einem zirkusähnlichen Zeltbau) noch To Rococo Rot schafften es, ähnlich viele Besucher vor ihre Bühnen zu locken. Frühe Konzerte am ersten Festivaltag leiden darunter, dass viele noch mit Zeltaufbauen oder Anreise beschäftigt sind, erst recht an einem Freitagnachmittag, wenn die Straßen voll sind und / oder der Arbeitstag noch nicht beendet ist. Ist dann die Musik der Bands noch speziell, so dass man schon Fan sein muss, um das komplette Set durchzuhalten, wird es für die Musiker schwierig. Like a stuntman zum Beispiel machen eine intelligente (oder wahlweise anstrengende) Mischung aus Elektro-, Indie- Artpop, die es dem Gelegenheitshörer sehr leicht macht, sich nach 10 Minuten wieder abzuwenden. So gab es im Zelt auch kaum Laufkundschaft. Dabei ist die Band aus Frankfurt sehr wohl in der Lage, einen zu faszinieren. Mit zwei Keyboards, zeitweise zwei Trommlern und einem grundsympathischen Auftritt passten die vier gut ins Festivalprogramm. Das sehr unterhaltsame Programmheft sagt zu Like a Stuntman:

„… vier Freunde aus Frankfurt und Hamburg zeigen, wie es anders, besser geht. Sie machen Musik, die mit dem Tanzschuh nach Pop/Rock Schematat tritt. Sie machen drei (!) Platten in elf (!) Jahren. Was dabei rauskommt kann man Kunst der Gegensätze nennen: laut schillernde Freude, nervös zum Beat hüpfende Verzweiflung. Alle Farben!“

Auch To Rococo Rot kommen teilweise aus Hamburg, die anderen zweidrittel aus Düsseldorf und anderswo. Ihr schlummernder Instrumentalpop klingt auf den ersten Blick unscheinbar und austauschbar. Auf den zweiten hat er aber etwas, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Vielleicht sind es wirklich diese markanten Basslinien Stefan Schneiders, die einen so schön hypnotisieren. Je länger wir vor der Bühne rumlungerten, desto weniger oft dachte ich daran, aufzustehen und mich auf dem Gelände umzuschauen. Ich war – und das überraschte mich – auf eine sehr schöne Art gefangen. Das Programmheft umschreibt es zwar komisch aber je länger ich drüber nachdenke, sehr passend:

„…. Besonders gut hörbar ist das an Stefan Schneiders Basslinien, die sich, warm und leicht angezerrt, wie die Spur eines Maulwurfs durch die Stücke schieben.“

Leider bekamen To Rococo Rot nur sehr wenige mit. Gerade mal circa 50 Besucher fläzten sich auf der Wiese vor der Hauptbühne und genossen den Tag. Diese Band sollte erst am zweiten oder dritten Tag eines Festivals spielen, wenn sich der gemeine Festivalbesucher, ausgezerrt und angemüdet, nur noch eines wünscht: Hinsetzen, träumen und apathisch unaufgeregter Musik zuzuhören. Dazu sind To Rococo Rot perfekt geeignet.
Anders als Palais Schaumburg und die Japandroids. Über die beiden Kanadier Brian und Daniel kann ich und muss man nur eines sagen: beste Liveband für immer. Bisher haben sie mich live nie enttäuschten. Egal ob nachts um drei oder spätnachmittags um sieben. Die beiden spielen immer mit 100%igem Einsatz und voller Energie und Leidenschaft, die auf den Alben meist gar nicht so rüberkommt. „Celebration Rock“, ihr zweites Album ist ein Kracher, ohne Frage. „Evil’s sway“ oder „The house that heaven build“ sind glasklare Rockhits. Diese Band muss man einfach live erleben. Und man sollte sich nicht von den ersten Minuten ihres Konzertes irritieren lassen. Die Japandroids brauchen immer ein paar Minuten, um in ihr Konzert zu kommen. Dann aber gibt es kein Halten mehr. Ruckzuck ist eine Stunde um ohne das man es merkt. Eine Gitarre und ein Schlagzeug können ganz schön viel Lärm machen. Die Japandroids setzten definitiv das erste Ausrufungszeichen und eröffneten den für uns interessantesten Teil des ersten Festivaltages. Doch bevor im Anschluss das Biest of Montreal und die Tocos die Bühne betraten, noch ein paar Sätze zu Palais Schaumburg.
Ich gebe zu, dass ich von dieser Band bisher nichts kannte. Und auch erst jetzt fällt mir auf, dass ja auch das Bonner Bundeskanzleramt so hiess. Anfang der 80er war ich noch zu jung, um mich abseits der Hitparaden NDW Bands (ich meine Markus, Nena und Trio) tiefer mit deutschsprachiger Musik zu beschäftigen. Hätte es das Internet und Blogs schon gegeben, wäre das vielleicht anders gewesen, aber so drang der Name Palais Schaumburg nicht bis in ein kleines Dorf im Münsterland vor. Daher bin ich auch hier dem Programmheft dankbar, dass es meine Wissenslücken auffüllt:
„Für die Jüngeren unter euch: Palais Schaumburg sind sowas wie die Hot Chip der frühen Achtziger. Nur in verrückter. Palais Schaumburg hatten den durchsten DADA und den draufsten Funk von allen Bands, die damals nach England blickten.“
Das passt. Aus heutiger Sicht ist es schwer zu glauben, dass es noch irrer und abgedrehter geht als bei DAF und Andreas Dorau. Aber es ging. Das Palais Schaumburg Konzert war ein interessantes Erlebnis. Man muss jedoch alt genug sein, um ihre Musik zu verstehen und einordnen zu können. Sonst bringt sie keinen Spaß. „Papagei und Kolibri“ diese Refrainzeile blieb hängen.
Of Montreal habe ich in den letzten Monaten besonders schätzen gelernt. Die Band aus Athens ist bisher meine Entdeckung des Jahres. In kürzester Zeit besorgte ich mir ihre Alben „Paralytic stalks“, „False priest“ und „Hissing fauna, are you the destroyer?“, etwas, was mir seit langen bei keiner band mehr passiert ist. So war es klar, dass ihr Konzert an diesem Abend gesetzt ist. Und auch wenn diesmal die tanzenden Hasen und anderen Fantasiefiguren fehlten, auch ohne den visuellen Schnickschnack überzeugten mich of Montreal sehr. Zu siebt standen sie auf der Bühne und tänzelten zwischen psychodelischen Rock, Indiepop und 11 Minutenkrachern hin und her. „The past is a grotesque animal“, früh als dritter Song im Set eingebaut, entschädigte allein für alles. Ein großartiger Song! Und ein of Montreal Konzert ist eine Augenweide.
Mit den Hamburgern sollte ich nun endlich meinen Frieden machen. Wirklich, aber auch wirklich bei jedem ihrer Konzerte ärgere ich mich über Dirk von Lowtzow und seine nervigen Songansagen. Ganz zu schweigen von der Schlafmützigkeit und der mir immer wieder so vorkommenden Energielosigkeit, mit der sie ihren alten Songs spielen. Da vermisse ich die Wucht und das Konsequente, das die alten Tocotronic Sachen brauchen. Dieser radikale Glanz, der auf den Alben so schön rüberkommt, geht ihnen live völlig ab. Oder empfinde nur ich das so? „Bald sind sie Slowcore“, dachte ich mitten in ihrem Set. Wie schon beim letzten Toco Konzert verstehe ich auch auf dem BootBooHook lange Zeit nicht, warum ich noch auf dem Festivalgelände rumstehe und nicht längst ins Hotel zurückgegangen bin.
Dabei bieten sie ein tolles Set, starten gleich mit den besagten Klassikern und spielen sich durch beinahe alle ihre Alben. „Verehrtes Publikum, die Gruppe Tocotronic bietet ihnen heute einen bunten Strauss von Melodien aus den frühen Neunzigern bis zur Gegenwart“ so würde es Dirk von Lowtzow bestimmt sagen.
Es war ein typisches Tocotronic Konzert. Ruhig, sachlich mit der Konzentration auf die Musik. Daran gibt es nichts zu kritteln, musikalisch sind die vier 1a. Hektisch wurde es nur einmal: Gegen Mitte des Sets gab es scheinbar Probleme mit Dirks Mikrofon und wir beobachteten eine wilde Gestikorgie in Richtung Bühnenrand. Ganz so, wenn Trainer am Spielfeldrand dramatisch wirkende Auswechselzeichen an den Schiedsrichter senden. In diesem Augenblick kamen die Tocos einmal kurz aus der Fassung. Im nächsten Jahr feiern sie ihr 20jähriges Jubiläum. Wow, eine lange Zeit! Insgeheim hatte ich gehofft, dass sie den ein oder anderen Song aus ihrem kommenden Album spielen werden. Aber dazu waren die Tocos scheinbar noch nicht bereit.

Setlist:
01:Freiburg
02: Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
03: Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen
04: Sie wollen uns erzählen
05: Die Grenzen des guten Geschmacks
06: Die Folter endet nie
07: This boy is Tocotronic
08: Mein Ruin
09: Kapitulation
10: Aber hier leben, nein danke
11: Jungs hier kommt der Masterplan
12: Jackpot
13: Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit
14: Let there be rock
15: Macht es nicht selbst
16: 17
Zugabe:
17: Im Zweifel für den Zweifel
18: Sag alles ab

Video:

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