Ort: MS Rheinfantasie, Monheim
Bands: Colin Stetson & Greg Fox, Ava Mendoza, Sam Amidon
‘Den Kindern ist es in der Schule zu laut und unruhig, die können sich da nicht mehr richtig konzentrieren.‘ Das sage nicht ich, das sagte nachmittags meine Cousine, als wir uns über das Schuljahreszeugnis und die Erfahrungen aus einem Schuljahr Homeschooling, Wechselunterricht und Distanzlernen unterhalten. Also meine Cousine erzählte aus ihrem Alltag, ich hörte zu. Mitreden kann ich bei diesem Thema nicht.
Später am Abend kommt mir das Gespräch wieder in den Sinn. Mittlerweile sind wir auf dem Festivalschiff MS Rheinfantasie angekommen und warten auf den Beginn des Spätprogramms der Monheim Triennale. Wir sitzen im großen Saal des Schiffes und ich denke an meine Konzertbesuche in den letzten 15 Monaten. Wie wird das sein, wieder in einem ausverkauften Club zu stehen? Wird es sofort wieder ein gutes Gefühl sein, oder brauche auch ich ein paar Konzertbesuche der Akklimatisierung, um mich an den Trubel, das Nervige und einfach an Alles wieder zu gewöhnen? Schwierig zu beantworten. Einerseits hat mich Trubel nie wirklich gestört, anderseits mag ich meine persönliche Distanzzone, meine Privatsphäre und ich habe mich irgendwie daran gewöhnt, Abstand zu haben. Das ist schon angenehm. Und während ich so auf meinem Platz sitze, links und rechts ein freier Stuhl (Abstand!), denke ich, dass ich nie wieder so schön Konzerte sehen werde. Ja, schön ist das. Und auf dem Rheinschiff ist es besonders schön.
Die MS Rheinfantasie bietet an diesem Abend ein tolles Ambiente. Das Festivalschiff der Köln-Düsseldorfer Rheinschifffahrt ist 85 Meter lang und 14 Meter breit. Auf drei Etagen kann man es sich gut gehen lassen. Die Bühne ist auf dem 0er Deck aufgebaut, davor die Masse der Sitzplätze. Auf Deck 1 gibt es die Bar und im vorderen Bereich links und rechts Sitzplätze, von denen man wie von einer Galerie auf die Bühne schauen kann. Um die 230 Besucher dürfen auf das Schiff. Jeder zweite Stuhl ist nicht belegt. Die Veranstalter hätten bestimmt den ein oder anderen zahlenden Gast mehr; ich find’s so ganz wunderbar.
Die Monheim Triennale ist ein Musikfestival, das sich zum Ziel gesetzt hat, wegweisende aktuelle künstlerische Positionen im Bereich der improvisierten, komponierten und populären Musik erlebbar zu machen.
So lese ich es in irgendeiner Ankündigung. Ursprünglich sollte sie erstmals 2020 stattfinden. Ihre Premiere wird sie nun im nächsten Jahr feiern und ab dann alle drei Jahre stattfinden. Denn auch in diesem Jahr war das volle Programm nicht umsetzbar. Um aber nicht komplett ohne Festival dazustehen, entscheiden sich die Veranstalter, ein sogenanntes Prequel, quasi eine kleine Sonderausgabe der Triennale, durchzuführen. Dazu wurden an die 30 Musiker*innen verpflichtet, die an den drei Festivaltagen in unterschiedlichsten Konstellationen miteinander und/oder solo auftreten.
Da wir nur Tickets für die Spätshow am Donnerstagabend gekauft haben, werden wir nicht alle Künstler*innen sehen. Ich glaube, das wäre ein bisschen zu viel. Unsere Auswahl fiel auf den Block The Prequel #2 mit Ava Mendoza, Sam Amidon und Colin Stetson in den Leaderrollen.
Colin Stetson wird am Schlagzeug von Greg Fox begleitet, Sam Amidon hat in seiner Band neben Ingrid Laubrock, Shahzad Ismaily und Robert Landfermann auch Greg Fox zusammengeführt. Somit avanciert der ehemaligen Black Metal Schlagzeuger für uns an diesem Abend zum meistgesehenen Musiker.
Die Blöcke sind auf eine Zeitdauer von 90 Minuten ausgelegt, was bedeutet, dass jede Künstlergruppe eine Zeitfenster von ca. 30 Minuten (oder drei bis fünf Songs) hat. Um 21.30 Uhr machen Colin Stetson und Greg Fox den Anfang. Ehrlich gesagt sind sie die einzigen beiden Künstler, von denen ich im Vorfeld schon mal etwas mehr als nur ein paar YouTube Videos gehört habe. Colin Stetson bewundere ich für sein Lungenvolumen und seine Atemkraft seit einem Auftritt beim Primavera Sound Festival, als ich ihn nachmittags im Auditori sah. Seitdem versuche ich, wenn immer es geht, ihn live zu sehen. In Monheim ging das und so sitzen wir in der vorderen Reihe und schauen wieder einmal genau hin.
Sein Spiel finde ich überragend bemerkenswert. Auf die Frage, wie macht er das nur, finde ich spontan keine Antwort. Er macht keine Pausen zum Luft holen und manchmal meine ich, mehr als ein Instrument zu hören. Loopt er sich permanent selbst oder spielt da noch ein weiteres Saxophon hinter der Bühne parallel mit? Als Nichtmusiker kann ich das gar nicht richtig in Worte fassen, daher bemühe ich mal das Musiklexikon Wikipedia:
Stetson arbeitet ohne Overdubs. Mit seiner Zirkularatmungstechnik spielt er, ohne abzusetzen, scheinbar endlose Arpeggio-Bögen, wobei er gleichzeitig in das Instrument singt oder schreit. So entstehen durch Differenztöne mehrstimmige Gebilde.
Aha. Jetzt muss ich Zirkularatmung googlen:
Bei dieser Technik speichert der Blasende einen Luftvorrat im Mundraum und trennt diesen daraufhin mit hinterer Zunge und Gaumensegel vom Rachenraum. Nun kann er durch die Nase neue Luft in die Lunge einatmen, während die gespeicherte Luft zur Aufrechterhaltung des Luftstroms durch die umgebende Muskulatur (Kiefer, Wangen, Zunge) durch die Lippen aus dem Mund herausgedrückt wird. Sobald der Einatmungsvorgang abgeschlossen ist, kann wieder ganz normal ausgeatmet/geblasen werden, ohne neu anzublasen, und der Vorgang wiederholt sich. Mit der gleichen Technik kann ein zu großer Luftvorrat auch parallel zur Tonerzeugung durch die Nase abgeatmet werden. Kurz gesagt: Die Zirkularatmung ist eine Technik, die einen kontinuierlichen Luftstrom aus dem Mund auch während des Einatmens ermöglicht. Das erklärt das scheinbar atemlose Spiel.
Anstrengend klingt das alles allemal. Drei Songs spielen Colin Stetson und Greg Fox, drei Songs, die das Saxophon wuchtig in den Vordergrund stellen. Die ersten beiden Stücke bestreitet er mit dem kleinen Altsaxophon, erst zum letzten Song, nimmt er das mannsgroße Basssaxophon aus dem Ständer.
Wer Gitarrensoli mag, ist bei Ava Mendoza Set bestens aufgehoben. Ich mag das nicht so sehr, daher fiebere ich dem Auftritt nicht so stark entgegen wie dem von Colin Stetson und Greg Fox.
Sam Amidon spielt den schönsten Song des Abends. „Juma mountain“ verzaubert mich mit dem ersten Saxophonklängen von Ingrid Laubrock. Nach den vielleicht etwas anstrengenden Auftritten von Colin Stetson und Ava Mendoza spielt die Sam Amidon Group irgendwas zwischen Pop und Folkpop. Die Einlagen von Fiddlergeige und Präriebanjo sind so kurz, dass sie mich nicht stören.
Fünf Songs spielt die Band, alle stammen aus dem Album The Following Mountain. Das war so geplant und wurde so angekündigt; es ist also kein Zufall. The Following Mountain ist Sam Amidons sechstes Album und ihm wird dieser Auftritt gewidmet. Warum, weiß ich nicht. Es ist nicht sein aktuelles Album, es feiert keinen runden Veröffentlichungsgeburtstag und ich recherchiere keinen möglichen Grund. Oder anders ausgedrückt: Ich bin schlecht vorbereitet. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass mich an diesem Abend hauptsächlich der Auftritt von Colin Stetson interessiert. Ava Mendoza und Sam Amidon nehme ich so mit, wobei Sam Amidon einen stärkeren Eindruck auf mich hinterlassen hat.
Die Atmosphäre auf dem Schiff ist unschlagbar gemütlich. Auch das (Corona bedingte?) Konzept, jede Gruppe 30 Minuten auftreten zu lassen, gefällt mir. Das ist über den Abend eine gute Zeitspanne, auch um einfach mal in die unterschiedlichen Genres reinzuhören, ohne gleich gelangweilt auf die Uhr zu schauen.
Am Freitag und Samstag verlässt die Monheim Triennale das Schiff. Dann finden weitere Konzerte, Gespräche und Veranstaltungen in der gesamten Stadt statt.
Das Programm liest sich abwechslungsreich. Vielleicht war es doch ein Fehler, nur für den Donnerstagabend ein ticket gekauft zu haben. Nun, im nächsten Jahr findet hoffentlich die ‘große‘ Monheim Triennale statt. Dann gibt es Gelegenheit, verpasstes nachzuholen.
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