Ort: Gebäude 9, Köln
Vorband:

Die NervenDie Nerven. Als ich die Nerven das letzte Mal live in der Bonner Harmonie sah, konstatierte ich nach einem berauschenden Konzert, dass die Band zwar auch in der Jazz- und Musikkneipe der Harmonie gut aufgehoben war, ich ihren natürlichen Konzertlebensraum jedoch eher in alten Industriehallen wie dem Gebäude 9 sehen würde. Genauso wie alte Glamrockbands aus den 1970er Jahren in die Harmonie gehören, verorte ich Postpunk Bands in alte, ehemalige industrielle Gebäude, die zu Konzertsälen umfunktioniert wurden.

Zwei Jahre sehe ich die Nerven also da, wo ich sie sehen wollte. Insgesamt sind Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn schon zum vierten Mal im Gebäude zu Besuch, die ersten drei Mal habe ich leider verpasst. Verpasst habe ich sie auch im Herbst letzten Jahres, oder sowas in der Art. Denn eigentlich hätten ich sie bereits auf dem New Fall Festival zusammen mit Isolation Berlin und Gurr ein Konzert spielen sollten. Doch es kam anders. Das schöne Dreierpaket der derzeit schönsten und interessantesten deutschen Indiebands wurde allerdings dadurch gesprengt, dass die Nerven den Termin cancelten und sich stattdessen lieber in Washington D.C. und anderswo in den USA durch verschiedene Konzertsäle spielten. Verständlich, die USA sind viel spannender als der x-te Auftritt am Rhein. Ärgerlich fand ich es trotzdem, die Absage für das New Fall kam – wenn ich mich recht erinnere – relativ spät.

Auch diese Absage ist ein Zeichen dafür, dass es seit dem Crossroads Konzert in Bonn für die Nerven stetig nach oben ging. Die Nerven haben etwas spezielles, und so langsam entdecken das auch andere. Ihr aktuelle Album Fake stieg gar auf Platz 13 der Charts ein, die Band erhielt im Vorfeld der Veröffentlichung eine ähnlich große Aufmerksamkeit wie vor einem halben Jahr Tocotronic vor ihrer letzten Plattenveröffentlichung. Die Tocos und die Nerven, nicht erst seit ihrem Video zu „so etwas wie musikalische Brüder im Geiste. Dass sich beide Bands nicht unähnlich sind, erkenne selbst ich, wenn ich die frühen Tocotronic Platten mit den letzten drei Nerven Platten vergleiche. Das zwischen Fun, Out und Fake eingeschobene Livealbum zähle ich mal nicht mit. Für einige sind die Nerven gar die beste deutschsprachige Band nach Tocotronic, so lese ich im Internet. Nun, das halte ich für diskussionswürdig, Surrogat gab es schließlich auch noch. Und sicherlich auch andere, weitere Bands, die mir gerade aber nicht einfallen.
Sicherlich auch getrieben durch die hohe mediale Aufmerksamkeit ist die Fake Tour ist ausverkauft. Aber sicher nicht nur deswegen. Denn Fake, und da beißt die Maus keinen Faden ab, ist ein sehr tolles Album mit riesengroßen Hits. Es geht also schon in Ordnung, dass ich an diesem Abend in einem schwitzigen, picke packe vollen Gebäude 9 stehe und auf die drei Musiker warte.

Die zwei Mikrofonständer zeigen mehr zueinander als dass sie rechtwinklig zum Bühnenrand ausgerichtet sind. Die Umbaupause dauert und ich kann mir den Bühnenaufbau in Ruhe ansehen. Diese Art des Aufbaus sehe ich nicht oft; später im Konzert stelle ich dann fest, dass dadurch in einigen Momenten der Eindruck entsteht, dass sich Max Rieger und Julian Knoth ansingen. Ich kann mich aber auch täuschen, mein Blick auf die Bühne ist seitlich verzerrt.
Fakt bleibt aber, dass die dicht beieinander stehenden Mikrofonständer eine Enge zwischen den beiden erzeugen, die gewollt sein muss. Denn die Bühne ist groß und würde mehr Platz bieten. Da das Schlagzeug direkt hinter den Mikrofonständern installiert ist, benötigen die Nerven nur wenige Quadratmeter der Bühnenfläche. Ein kleiner Bereich in der Mitte der Bühne reicht ihnen vollkommen aus.

Der Saal kocht, zappelt, bewegt sich. Die Nerven bleiben cool, lassen sich nur wenig davon hochziehen und spielen ihr Set relativ losgelöst vom Publikum. Sicherlich sind sie das auf dieser Tour alles schon gewohnt: die interessierten Zuhörer, die leisen Kopfnicker, der schwitzende Moshpit. In der Summe Indiepublikum, ergänzt durch den ein oder anderen Neugierigen, der den ein oder anderen Feuilletonbericht über die Nerven gelesen hat oder sie bei Aspekte sah. (So wie Wochen zuvor Tocotronic).

Gegen Ende des Konzerts zündet sich Sänger Max Rieger eine Zigarette an (was ich für völlig unnötig halte, ein Rauchverbot sollte nicht nur vor, sondern auch auf der Bühne gelten), Julian Knoth lässt eine Wasserfontaine aus seinem Mund sprudeln und trinkt nach dem grandiosen Finale „Angst“ aus zwei Kölschflaschen gleichzeitig.
Kevin Kuhn, der auf mich immer leicht irre wirkt, hat einen Besucher in der ersten Reihe besonders gern und umarmt ihn in einer Songpause, nachdem er wie wild hinter seinem Schlagzeug hervorpirscht und an den Bühnenrand springt. Frag mich aber nicht nach dem Grund. Der ältere Herr schaut anschließend ziemlich verdutzt drein. Und nochmal der Schlagzeuger: Nach dem letzten Song wollte Kevin Kuhn noch etwas sagen, seine Luft ist jedoch zu knapp und auch nach zwei- oder dreimaligem Luftholen gelingt es ihm nicht, die Kurzatmigkeit wegzudrücken. Noch ein letzter, gescheiterter Versuch, den Worten freien Lauf zu lassen, dann winkt er resignierend ab und verschwindet wortlos im Backstagebereich.
In der Tat atemlos war der Auftritt der drei Stuttgarter, die jetzt aber gar nicht mehr alle in Stuttgart wohnen.

Die Nerven legen fulminant los und lassen im Laufe des Konzertes nur wenig bis gar nicht nach. Laut-leise Passagen, längere Gitarrensoli, gekonnt gesetzte Schlagzeugbreaks, all das zeichnet die hervorragende Qualität und die exzellente Liveeigenschaften der Band wieder. Ich langweile mich zu keiner Sekunde, woge mit auf der Welle der Begeisterung, die von der ersten bis zur letzten Sekunde durch das Gebäude 9 schwappt.
Klar, Syd Barrett kennen wir noch, viele im Saal sind noch nicht zu jung. Ein kurz eingefügter Pink Floyd Teaser überbrückt gerade „Albtraum“ und „Barfuß durch die Scherben“.  Kann man so machen. Logischerweise spielen die Nerven viel neues Material, es ist schließlich die Tour zum Album. Das Finale gehört aber Fun. „Eine Minute schweben“ als Zugabe und „Angst“ als letzter Song des regulären Sets überzeugen über alle Maßen und bringen nochmal ordentlich Zunder ins Gebäude 9.

Ich vermisse nur „Sommerzeit, Traurigkeit“, das toll eingedeutschte Lana del Rey Cover. In Berlin, so wurde mir zugesteckt, spielten sie es noch. In Köln höre ich es bis zur ersten Zugabe leider nicht. Und länger konnte ich nicht bleiben, ich musste los. Der Zug und so. Wie zuvor schon bei Protomartyr begann auch dieses Konzert für mich 15 Minuten zu spät. Zur Arbeit gehen am nächsten Tag ist auch wichtig!

Ich verlasse den Raum, gehe raus zu den Anderen.
Die Musik läuft weiter, einfach so.
In der Sonne hab‘ ich den Tag vergessen, im Schatten die Nacht.
Manche haben sich was um die Augen geschmiert.
Manche haben sich was um die Augen geschmiert.

Kontextkonzerte:
Die Nerven – Bonn, 22.10.2015 / Harmonie

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