Ort: Botanique, Brüssel
Vorband: LYLO
Cassandra Jenkins ist eine amerikanische Singersongwriterin aus New York. In meinen Vorbereitungen auf das Crossing Border Festival 2021 stolperte ich über ihren Song „Hard drive“. Wow, der klang großartig. Da das Den Haager Musik- und Buchfestival in seinem, bzw. in meinem Freitagsabendkalender noch eine Lücke hatte, beschloss ich, die Zeit mit einem Konzert zu stopfen. Neben Cassandra Jenkins war noch ein anderes Konzert im Spiel, doch nachdem ich „Hard drive“ gehört habe, nicht mehr. Der zweite Song der Amerikanerin, den ich hörte, bestätigte meinen ersten Eindruck: „Ambiguous Norway“ war und ist auch ein Smash-Hit. Als Cassandra Jenkins in Den Haag, das Konzert fand übrigens wunderschön in einer Kirche statt, auch noch eine Saxophonisten mit dabeihatte, war es um mich geschehen. Jetzt hatte ich mich endgültig in die Songs verliebt.
Also brauchte ich die Platte, falls es eine gab. Wieder zuhause suchte ich umher und fand einen Hinweis auf ein Album. Ah ha, das ist schonmal gut. Allerdings war es im Anschluss für mich unmöglich, ihre Platte zu kaufen. An An overview on phenomenal nature (was wie ein Beitrag in einer naturwissenschaftlichen Fachzeitschrift klingt) war einfach nicht ranzukommen. Oder wenn, dann nur über teure Importgeschichten. Und so kam es, dass ich erst ihr Outtake Album (An overview on) an overview on phenomenal im CD-Regal hatte, als die ‚reguläre‘ Platte. Wie auch immer ich da rangekommen bin, ich weiß es nicht mehr. Aber wie dem auch sei, mir gefielen die Geschichten, die Cassandra Jenkins mit warmer Stimme zu Indiepop und Indiefolk Melodien erzählte, mir gefiel das punktuell vorhandene Saxophon, die Slide-Gitarre, die Streicher ab und an. All das klang wohl temperiert aufeinander abgestimmt und enorm unaufgeregt. Aber auch urban.
Die Klänge sind nicht unbekannt: Slide-Gitarren, Piano, trockenes Schlagzeug, warmer Gesang. Doch die Umsetzung macht sie besonders. Die Snare vom Drummer JT Bates (der bereits Taylor Swifts letzte Americana-Exkursion „Folklore“ veredelte) klingt so weich und dreidimensional, als könnte man sie förmlich anfassen. Annie Neros Bass streichelt unmittelbar und sanft das Zwerchfell. Saxofonist Stuart Bogie (dessen wilde Diskografie von Foals über Arcade Fire bis zu Run The Jewels reicht) spielt Melodien aus flüssigem Gold. In „Crosshair“ erklingt das vielleicht schönste E-Gitarren-Gedudel seit Wilcos „Impossible Germany“. Und auch die restlichen von Jenkins und ihrem Produzenten Josh Kaufman ausgeklügelten Arrangements klingen so phänomenal natürlich, wie der Albumtitel verspricht. Am Ende der Platte halten sie mit „The Ramble“ für sieben Minuten die Zeit an. Mit purem Ambient, der wie ein seelenruhiger Bach vor sich hinfließt.
byte.fm
Ich fühlte mich an Brenda Kahn Songs erinnert, die ich Anfang der 1990er Jahre sehr mochte.
Seitdem bin ich Fan, besitze mittlerweile auch das eigentliche Album An overview on phenomenal und freute mich, als ich las, dass sie im Herbst auf Europatour kommt. Und auch nach Deutschland! Köln suchte ich jedoch vergebens auf der Liste, auf der nur Hamburg und Berlin verzeichnet sind. Dass für Musiker*innen dieser Kategorie (Indiepop, Indiefolk, relativ unbekannt, Zuschauererwartung 150-350) neuerdings in meiner näheren Umgebung kein Staat zu machen ist, ist nichts neues. Der Konzertstandort Köln hat in den letzten Jahren etwas nachgelassen, oft sehe ich, dass Musiker*innen lieber in Lüttich, Luxemburg oder Maastricht und Nijmegen auftreten, als in Köln. Die ehemals gute Tourachse Paris-Brüssel-Köln-Berlin scheint nicht mehr zwangsläufig gesetzt. Das gilt nicht nur für Cassandra Jenkins. ‘Dann fahr’ ich eben nach Brüssel‘. Eine Trotzreaktion, die an einem Samstag auch gut umzusetzen ist. Und die Botanique ist auch immer einen Ausflug wert.
Der Konzert- und Kulturort im Brüsseler Norden beherbergt vier Konzertsäle. Die Orangerie, die Rotonde und die Witloof Bar kenne ich bereits, das Museum, in dem das Cassandra Jenkins Konzert an diesem Abend angesetzt ist, noch nicht. Und was soll ich sagen, es ist ein perfekter Ort für Singersongwriter- und leise Indiepopkonzerte. Schuhkartonartig geschnitten, mit zwei Galerien an den Außenwänden, die mit Eisengeländern verziert sind. Dazu ein mit Teppich ausgelegter Boden und eine nicht zu große, aber auch nicht winzige Bühne. Sehr schön, ich bin angetan.
Die Bahn bringt mich zeitig nach Brüssel, so dass noch einige Momente blieben, die Gegend um den Bahnhof Nord zu durchschlendern. Einiges hat sich hier getan in den letzten Jahren. Die dunklen Ecken sind weniger geworden.
Vor der geschlossenen Saaltür warten bereits zwei Hände voll Besucher, als ich die Botanique betrete. Tür 19.30 Uhr, LYLO 20 Uhr, Cassandra Jenkins 21 Uhr. Die Anzeige oberhalb der Türen signalisiert es deutlich. Da kann sich jeder drauf einstellen, die Zeiten werden akkurat eingehalten. Ich überlege noch kurz, in der Botanique Bar etwas zu essen, verwerfe dann aber den Gedanken schnell. Hinten, rund um Orangerie und Rotonde ist ordentlich voll, in der Orangerie spielt gar schon die erste Band. Es macht wenig Sinn, sich hier durchzuwuseln, ich würde es in der halben Stunde nicht in Ruhe schaffen.
LYLO, noch nie gehört. Aber nach dem ersten Song gefällt mir das sehr. Ihr Mix aus 80s New Wave, Soul und Indiepop hat viel Bekanntes und viel Gutes. Die Communards, Johnny hates jazz, Terence Trent d’Arby, Keziah Jones. Ich höre viele dieser Bands in den LYLO Songs heraus, zumindest bilde ich es mir ein. Bei bandcamp haben sie ein Album gelistet, ein neues scheint in der Mache. LYLO gefallen mir, ich kaufe ihre Musik, wenn ihr neues Album Thoughts of Never auf dem Markt ist.
Es ist die Tour zu ihrem dritten Album My light, my destroyer, die Cassandra Jenkins endlich mal wieder nach Europa führt. Als die Musiker die Bühne betreten, bin ich überrascht, dass Schlagzeug, Gitarre und Keyboard von Musikern der LYLO Band besetzt werden. Später erfahre ich, dass LYLO – mit Ausnahme des Sängers Mitch Flynn – als Cassandra Jenkins‚ Band auf der Europatour aushelfen. Wird diese Mehrarbeit extra vergütet? Ich weiß es nicht…Ich weiß auch nicht genau, wie die Kollaboration zwischen New York und Glasgow (LYLO kommen aus Glasgow) zustande gekommen ist. Egal, sie funktioniert und passt gut. Schlussendlich vermisse ich bei dem ein oder anderen älteren Song nur das Saxophonspiel. Das kann scheinbar von keinem der Bandmusiker abgedeckt werden.
Cassandra Jenkins spielt eine gute Stunde. Es hätte natürlich ein bisschen mehr sein dürfen, aber schlussendlich steht doch die Qualität vor der Quantität. und qualitativ geht es eigentlich kaum besser. Das Konzert ist eine einzige Wohlfühlveranstaltung. Cassandra Jenkins erzählt zwischen den Songs ein paar lustige Anekdoten, die Musiker versprühen einen unaufgeregten Charme und das Museum als Konzertsaal hat diese Art von Ruhe, die man bei Konzertsälen gerne sieht: Keine Echos, kein Gläsergeklappere, keine wirre Lichtshow.
Vier Songs von An overview on phenomenal nature, dazu sieben Songs vom aktuellen Album und als Zugabe „American Spirits“. Das passt. Zwischendurch erzählt sie, dass sie sich aus Brüssel einen Magneten mit French fries Symbol als Andenken mitnimmt – und nicht den mit Waffeln (sie kaufe sich in jeder Tourstadt einen Magneten mit landestypischem Essen als Abbildung, erzählt Cassandra Jenkins), berichtet über ihren Job als Blumenverkäuferin und über ein paar Dinge mehr. es ist eine durchweg entspannte Atmosphäre, und ich bin überrascht, wie viel mehr Bühnengelassenheit die Amerikanerin seit meinem ersten Cassandra Jenkins Konzert dazugewonnen hat. Auch die zwei technischen Probleme werfen die Band nicht aus der Bahn. Gleich zu Beginn des Konzertes streikt die Gitarre und kurz vor Ende des Sets explodiert gefühlt die Bass-Box. Aber das wird einfach weggelächelt, nett nach dem Techniker gefragt und ein paar Minuten später geht es einfach weiter. Überhaupt wird auf der Bühne viel gelächelt.
Musikalisch scheinen die neuen Songs etwas poppiger, nicht ganz so melodramatisch tiefgehend wie die alten Sachen. So zumindest mein Liveeindruck. Neue Lieblingssongs habe ich spontan nicht herausgehört, es bleibt also bis auf weiteres bei „Ambiguous Norway Norway“ und natürlich „Hard drive“.
Dass es ein gutes Konzert werden würde, war mir klar. Dass es ein so gutes Konzert werden würde, hat mich dann doch überrascht.
Der Zug um 23.07 Uhr nach Welkenraedt hat 5 Minuten Verspätung. Ich entdecke unter den Wartenden auch Gesichter aus dem Konzertsaal von vorhin. Klar, die Botanique ist nur 10 Gehminuten entfernt und durch das kostengünstige ÖPNV-Konzertticket und die gute Anbindung nutzen viele zur Anreise die Bahn. Ich auch. Allerdings fahre ich nur bis nach Leuven und wechsle dort zur Weiterfahrt in das Auto. Anders geht es aktuell leider nicht.
Setlist:
01: Devotion
02: Aurora, IL
03: Michelangelo
04: Omakase
05: Delphinium blue
06: Petco
07: Clams Casino
08: Ambiguous Norway
09: Only one
10: Crosshairs
11: Hard drive
Zugabe:
12: American Spirits
Kontextkonzerte:
Cassandra Jenkins – Crossing Border Festival Den Haag, 05.11.-06.11.2021