Ort: Zeche, Bochum
Vorband: Kerri Watt

Starsailor

Seit einigen Wochen oder gar Monaten stehe ich kurz davor, mir so ein Online- Streaming-Dings-Gerät zu kaufen, mit dem ich nicht nur am Rechner meine digitale Musik und ferne Radiosender hören kann, sondern auch im Wohnzimmer, in der Küche, im Flur. Denn ich höre sehr gerne Radio und ich bin es leid. Nein, nicht das Radio hören. Ich bin es leid, immer nur diesen unsäglichen Radiosender 1live hören zu müssen.
Seit der Programmreform im Frühjahr ist 1live für mich eigentlich unhörbar. Nein, nicht eigentlich. Er ist unhörbar geworden. War es musikalisch vor der Reform schon wenig innovativ, so ist 1live diesbezüglich mittlerweile in die endgültige Belanglosigkeit abgerutscht. Und ist dies nicht schon ärgerlich genug, sind nun auch die Morgenshows unerträglich. Ich höre sie oft am Wochenende, so nebenbei. Sonntags ist es ganz schlimm. Daher brauche ich dringend ein anderes Radio. Flux FM oder Radio1. Denn ja, es gibt auch Radiosender, die keine Chartsmucke und Kirmeskram spielen und überdies erwachsenentaugliche Moderationen und Themen im Programm haben. Aber sie gibt es eben nicht im bevölkerungsreichsten Bundesland, was ich irgendwie komisch finde. Zielgruppenpotential ist doch vorhanden. Na ja, sei es wie es ist, bald werde ich so ein Internet-Transmitter-Ding haben und dann ist alles gut.
Bis dahin habe ich aber noch meine morgendlichen Hörgewohnheiten, und am Samstag muss ich mir eingestehen: Gott sei Dank. Denn ohne 1live hätte ich das Starsailor Konzert verpasst.
Starsailor, Zeche Bochum, Beginn heute Abend 20 Uhr. Die Stimme kam aus den Radioboxen, es liefen die Ausgehtipps für den Abend. Normalerweise etwas, das mich nicht interessiert, aber diesen einen Satz schnappte ich auf. Moment, Starsailor?! Gibt’s die noch (oder wieder)?
Eine kleine Google Suche später (haben die ein neues Album, was ist das für eine Tour, gibt es Tickets) sprach noch weniger als nichts gegen den Konzertbesuch. Die Good Souls Tour war als kleine Best-of Tournee angekündigt. “Poor misguided fool”, “Alcoholic”, “Love is here”, “Four to the floor”, “Fever”. Wow, das könnte ein guter Abend werden.
Starsailor war Anfang der 2000er Jahre eine von meinen zwei Lieblingsbritpopbands. Embrace war die andere. Oder post-Britpoplieblingsband. Oasis und Blur waren schon fast weg, als diese beiden Bands anfingen, groß aufzutrumpfen. Allerdings nicht mit ladism (Oasis) oder schmissigen Popperlen (Blur), sondern mit ruhigen, theatralisch opulenten, Herzschmerzmelodien und sanfterem Tamtam. Das gefiel mir ganz gut und so habe ich neben allen Alben auch ein riesengroßes Plattencoverposter von Embrace und natürlich die beiden Starsailor Scheiben Love is here und Silence is easy.

Zum Konzert:
Zum eigenen Superindiehit kommen Ben Byrne, James Stelfox, James Walsh und Barry Westhead auf die Bühne. „Four to the floor“ läuft als Intro vom Band, ein Prozedere der ganz großen Britpopschule. Auch die Charalatans oder die Stone Roses betreten zum eigenen Introsong die Bühne.
Bereits zuvor roch es nach Großkonzert. Der Bühnenaufbau und letzte der Soundcheck war britisch opulent: viele Arme, viel Getue; ein großes Hin und Her bereitete mich auf das Konzert vor. In einem kleinen deutschen Klub sieht sowas immer recht putzig aus, auf der Insel (oder in Asien) in sicher größeren Hallen hat ein solches Umbaupausengewusel eine passendere Daseinsberechtigung. Starsailor ziehen in Bochum nicht wirklich. Vielleicht 200 Leute haben sich in der Zeche versammelt. Jede Zeit hat ihre Band, und die Zeiten von Starsailor und ihrem melodischen Britpop sind einige Jahre vorbei. Frag nach bei Keane, Travis und Embrace. Bevor die britische Klasse von 2005 kurzzeitig ihre ausverkauften Konzerte bekam, standen wir alle auf das Zeug: auf die leicht jammernde Stimme von James Walsh, auf das Naturtraurige von Travis, auf die opulenten Kompositionen von Embrace. Doch trotz aller Reunionbemühungen bei all diesen Bands ist ihre Zeit mit diesem Sound irgendwie vorbei. Ihre Konzerte, sofern sie noch welche geben, sind Erinnerungsmomente in 90 Minutenform. Kleine Höhepunkte in Form von: ach wie toll war das damals. Mir geht das so. Dass ich nach diesem Konzert noch tagelang ein Starsailor Album höre, es wäre gelogen. Aber so ein Konzert ist die beste Gelegenheit, musikalisch in der Vergangenheit zu schwelgen und sich an den alten Songs zu freuen. Zuhause auf Platte würde mir das so nicht gelingen.
Gott sei Dank sieht es zu Konzertbeginn nicht so peinlich leer und desinteressiert aus wie noch in den Minuten davor. Denn während die Vorsängerin Kerri Watt fünfundzwanzig Minuten lang Songs in Amy Macdonald Manier (also die Amy Macdonald aus ihren Anfangsjahren; also schön) präsentierte, war die Ignoranz im Publikum noch groß. Die wenigen Menschen vor der Bühne unterhielten sich lieber und einige hatten noch nicht einmal den Anstand, sich vom Abstützen auf den Stehtischen loszueisen und den Oberkörper in Richtung Bühne zu drehen. Für die 90 Minuten Starsailor im Anschluss hatte ich Stimmungsbefürchtungen.
Trotzdem ist die Stimmung überraschend top. Dass die Band die alten Hits spielt, macht es aber auch jedem einfach. Der Wiedererkennungswert ist hoch, nicht wenige im Publikum sind enorm textsicher. Im Gegensatz zu mir. Ich habe nur noch dunkle Erinnerungen an „Fever“ oder „Lullaby“, eigentlich ist mir nur noch „Alcoholic“ so richtig präsent.

Don’t you know you’ve got your Daddy’s eyes? Daddy was an alcoholic

Diese Textzeilen kann ich nicht vergessen, und auch die weiteren plumpsten mir nur so aus dem Gedächtnis. „Alcoholic“ ist ein Evergreen, er wird bestimmt in britischen Fußballstadien gesungen. Immer und immer wieder „Alcoholic“, wie oft habe ich Love is here, das erste Album Starsailors, seinerzeit gehört? Sehr, sehr oft. Auf dieser Scheibe ist neben „Alcoholic“ auch mein zweiter Starsailor Liebling „Love is here“. Beides tieftraurige melancholische Songs, beide unendlich schön.
Love is here (das Album) ist in meiner Nachbetrachtung ein viel zu unterschätztes Album. „Fever“, „Good souls“, „Lullalby“, „Poor misguided fool“, all das ist auf dem Debüt veröffentlicht und all diese Songs stehen an diesem Abend auf der Setlist.

Nach fünf Jahren Auszeit gibt die Band seit letztem Jahr wieder unregelmäßig Konzerte, und da in diesen Tagen ein Best-of Album veröffentlicht wird, bot sich vorab eine kleine Tour an. 3 Konzertorte standen in Deutschland auf dem Plan, ein paar in Benelux und mehrere in England und Asien. Sich wieder ins Gespräch springen, das ist es wohl, was dahintersteht. Die Band besteht weiterhin aus den vier Ursprungsmitgliedern, geändert hat sich personell nichts. Musikalisch wohl auch nicht: neben allen Singles spielen Starsailor auch die für ein Best-of obligatorischen ein, zwei neuen Songs. In Bochum war das „Give up the ghost“, ein typischer Starsailor.

Sicher war es kein Konzert, das mir ewig im Gedächtnis bleiben wird. Aber es war ein schöner und unterhaltsamer Abend. Eigentlich reicht das doch auch.

Setlist:
01: Poor misguided fool
02: Fever
03: Lullaby
04: Boy in waiting
05: Way to fall
06: Fidelity
07: This time
08: Give up the ghost
09: Neon sky
10: Alcoholic
11: Born again
12: Keep us together
13: Tie up my hands
14: Tell me it’s not over
15: Silence is easy
Zugabe:
16: Four to the floor
17: Good souls

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