Ort: Rudolf-Weber Arena Oberhausen, Oberhausen
Vorband: Dry cleaning
Als die Rudolf-Weber Arena noch König Pilsener Arena hieß, war ich zum letzten Mal hier. Radiohead spielten und ich war mit starker Erkältung angereist. Mehr Erinnerungen habe ich ehrlich gesagt an diesen Abend nicht mehr. Aber er wird großartig gewesen sein. Wie lange ist das schon her? Länger her ist auf alle Fälle mein anderer Besuch in der Arena: Oasis und die Seahorses. An dieses Konzert sind meine Erinnerungen besser, auch weil ich mir an dem Abend das erste und hoffentlich letzte Mal den großen Zeh brach. Irgendjemand aus Reihe 1 ist mir mit voller Wucht auf den Fuß gesprungen. Das war nicht gut. Merkte ich aber erst zuhause und dann in den nächsten Tagen und Wochen.
Nun also Nick Cave and the Bad Seeds und ich spoilere nicht zu viel, wenn ich sage, dass mir dieser Abend noch sehr lange in Erinnerung bleiben wird.
Gab es Anfang der Woche noch günstige 30 Euro Plätze im Oberrang, weist der Hallenplan auf der Seite des Veranstalters an diesem Vormittag noch sechs freie Plätze aus. Okay, die Bude ist ausverkauft. Ich hatte nichts anderes erwartet. Umso überraschender bin ich, als ich in der Halle einzelne abgehängte Bereiche entdecke. Ganze Kurvenblöcke sind nicht belegt. Die unbeantwortet bleibende Frage ist nun: Wurden zu wenig Tickets verkauft oder gibt es in den Sektoren bauliche oder andere Schwierigkeiten, die eine Nutzung nicht möglich machen. Fast bin ich geneigt zu sagen, es wurden zu wenig Tickets verkauft, denn später höre ich, dass einzelne Oberrangticketinhaber in den Untergang gesetzt wurden. Nun ja, sei es drum. Alle freien Sitzplätze sind dann aber belegt. Die Halle sieht visuell nicht nicht-ausverkauft aus.
Auch an diesem Abend stehe ich wieder in Reihe 2. 45 Minuten vor Konzertbeginn (Dry cleaning eröffnen früh um 19.15 Uhr) ist der Innenraum erst spärlich belegt. Es macht kein Problem, sich einen guten Platz vor der Bühne zu schnappen. Und es bleibt etwas Zeit, gemütlich Gesprächen um mich herum zu lauschen.
Nebenan Altherrenkonzertgespräche mit Frauen. Über ein Festival in Lüdinghausen vor über 20 Jahren (gemeint ist das Area 4), den Rockpalast (‚ach, den gibt’s wirklich noch?!‘), Loreley Auftritte diverser Bands und Skunk Anansie. Themen, die meine Generation eben so bewegen. (Mich aber nur bedingt.) Aber ich lerne auch, dass die Arena im Innenraum Platz für 2000 Zuschauer hat und ein Gesamtfassungsvermögen von 7500 besitzt. Abzüglich der heute abgesperrten Sitzplatzbereiche schätze ich dann die Besucherzahl auf 7100. Übrigens: Sitzplätze hinter der Bühne gibt es keine, der Innenraum ist nicht oval, sondern an einem Kopfende gerade abgeschnitten.
Dass wir mit Dry cleaning in den Abend starten, habe ich erst vor ein paar Tagen erfahren. Ehrlich gesagt hatte ich mich nicht weiter um das Konzert gekümmert, so dass mir die Vorbandankündigung logischerweise durch die Lappen gegangen ist. Dry cleaning sind natürlich eine tolle Wahl. Ich mag die Songs und ich mag die Band. Knapp 45 Minuten stehen sie auf der Bühne, also auf dem vorderen Teil der Bühne. Der größere, hintere Bühnenbereich ist noch abgehängt. Später am Abend stehen hier auf einem Podest die fünf Backgroundsängerinnen, davor Schlagzeuger, Keyboarderin und Perkussionist.
Dry cleaning haben also eine ordentliche Spielzeit, und sie füllen sie gut. Ich meine, dass sie sogar zwei, drei neue Songs spielen. Zumindest kommen sie mir unbekannt vor. Das kann aber auch am schwachen Sound und dann der etwas weniger zackigen und rabiaten Gitarrenriffs liegen. An diesem Abend haben Dry cleaning ihren Post-Punk sehr ge-mainstreamt und einige Yachtrock-esk klingende Gitarren eingebaut. Hatten sie eigentlich schon immer einen Keyboarder? Ich vergesse Dinge einfach manchmal. Leider hallt das Schlagzeug von der anderen Hallenseite zurück. Na ja Vorband Schicksal eines nicht optimal ausgesteuerten Sounds für eine noch leere Halle. Musikalisch passen Dry cleaning gut zu Nick Cave. Das ist so eine Wellenlänge, sag ich mal. Und die Reaktionen in meiner Nähe zeigen, dass ich damit nicht ganz falsch liege. ‘Mega, mega, mega’ höre ich jemanden neben mir sagen. ‘Wie heißen die noch gleich?’ ‘Dry cleaning’, antwortet sein Nachbar, so wie ‘Trockenreinigung’. Und ergänzt: ‚Boah, die waren echt gut.’ Ja, waren sie. Auch wenn sie soundtechnisch etwas untergingen und das Schlagzeug von der anderen Hallenseite zurückhallt. So ist das eben als Opener in einer großen Halle, die noch nicht voll ist: der Sound ist meistens mies.
Umbaupause.
So langsam wird es kuschelig voll. Gespräche weichen der Ruhe der Anspannung. Es ist jetzt eher die Zeit des Nachrichten Schreibens. Eine Frau vor mir ergänzt jede ihrer WhatsApp Antworten und Nachrichten an einen männlichen Adressaten mit einem Küsschen-Smiley, bekommt aber von der Gegenseite bei keiner Antwort ein Emoticon zurück. Und ich bekomme das einfach so präsentiert, weil sie ihr Handy mit sehr heller Displaybeleuchtung und WhatsApp mit vergrößertem Schriftbild in einem für alle Umstehenden bestmöglichen Lesewinkel hält. Dann doch lieber Gespräche.
Um halb neun ist es dann soweit. Da ist es nun, mein erstes bewusst ausgesuchtes und Nick Cave & The Bad Seeds Konzert. Bisher hatte ich noch nicht das Vergnügen, bisher war es immer so, dass ich Nick Cave Konzerte eher aus Versehen oder zufällig bei Festivals gesehen habe. Mal für nur 10 Minuten im Vorbeigehen, mal für eine halbe Stunde zwischen zwei anderen Slots. Nick Cave Konzerte waren Lückenfüller, Zeittotschläger; es waren bisher nie bewusst erlebte Konzerte. Dass ich jetzt hier stehe, verdanke ich allerdings einem dieser Lückenfüller Konzerte. 2022 beim Primavera Sound in Barcelona passierte es zwischen King Krule und Bauhaus, dass ich Nick Cave auf einer der beiden großen Bühnen sah.
Und jetzt stehe ich hier und je länger ich dem Australier zuhöre, umso mehr bin ich von seinem Konzert gefangen. Es ist ein growner, mit jedem Song wird das Konzert besser. Ich kann einfach nicht gehen, ich sehe Nick Cave vor den ersten Reihen tänzeln, mit Warren Ellis am Klavier sitzen, oder einfach über die Bühne rennen. Was für ein großartiges Konzert! Wenn er am Klavier spielt, ist es mucksmäuschenstill. Nick Cave hat die Sache fest im Griff. Das beeindruckt mich sehr und ich beschließe, ab heute Nick Cave Fan zu sein. Am Ende von „The mercy seat“ spuckt er auf den Bogen. Selbst das kann ich ihm jetzt schon nicht mehr übelnehmen. Was für ein Glück, das ich hierhin gekommen bin. Eines meiner Höhepunkte des ersten Wochenendes.
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Ich war begeistert. Und als jetzt die ersten Konzerte der Wild God Tour angekündigt wurden, kam ich natürlich nicht umhin, mir ein Ticket zu kaufen. Bereits nach wenigen Takten von „Joy“ geht es mir wie damals in Barcelona. Ich bin beeindruckend und baff. Wieder gelingt es Nick Cave scheinbar mühelos, mich zu fesseln. Die neuen Songs kenne ich dabei noch nicht. Ich hatte mich am letzten Wochenende gegen den Kauf seiner aktuellen Platte und für den Kauf der aktuellen Bodega und Nilufer Yanya Platten entschieden. Aber trotzdem fremdle ich hier nicht. Alles wirkt vertraut, heimisch, wohltuend.
Beim zweiten Song steht er einen Meter vor mir auf seinem Laufsteg direkt hinter der Absperrung. Um mich herum strecken alle ihre Hände aus, auch Nick Cave. Ich strecke meine Hand nicht aus, ich habe nicht das Bedürfnis oder den Wunsch, seine Hand zu berühren. Oder vielleicht habe ich es doch, aber ich kann den Wunsch nicht umsetzen. Mächtig beeindruckt stehe ich dem Sänger gegenüber. Wow, was für ein Charisma hat der Mann. Regungslos nehme ich seine Moves und den Gesang war. Ich bin wie paralysiert. Bei seinen nächsten Besuchen schwächt sich das Gefühl nicht ab, aber ich bin nicht mehr ganz so hilflos. Ein paar Fotos kann ich jetzt machen, auch wenn ich den Eindruck habe, dass ihn die vielen Handys vor seiner Nase etwas nerven. Immerhin haben alle sehr früh im Konzert ihre Bilder im Kasten, so dass die weiteren Ausflüge an den Bühnenrand fototechnisch gesitteter ablaufen. Und Nick Cave ist so etwa bei jedem zweiten Song vor der ersten Zuschauerreihe unterwegs. Da ist denn auch weniger tragisch, dass mein Blick auf den Flügel durch den Kameramann versperrt ist und meine Sicht auf Warren Ellis durch eine Lautsprecherbox. Ich war – glaub’ ich – noch nie so froh und glücklich, einen zweite Reihe Platz zu haben wie an diesem Abend. Dadurch, dass ich Nick Cave und seine Emotionen so nah erlebe, wirken die Songs dreifach intensiv.
Natürlich fluppt der Abend so durch, die Spielzeit vergeht wie im Flug. Trotzdem räume ich nach knapp 2 Stunden meinen vorderen Platz. Ein bisschen altersbedingt (und ja ich weiß, dass der Mann auf der Bühne 15 Jahre älter ist und immer noch rumhampelt wie ein junger Gott – aber er steht auch nicht seit kurz nach halb sieben hier!), aber auch, weil ich etwas emotionalen Abstand brauche. Es reicht mir jetzt erstmal, Nick Cave in die Augen zu schauen und seine Extrovertiertheit und seine Intensität zu spüren.
Im hinteren Teil merke ich dann erst richtig, wie intensiv ich das Konzert erlebt habe. Wow, beeindruckend. Ich ärgere mich aber nicht, sie jetzt nicht mehr erfahren zu können. Denn mit den vielen Metern Abstand zur Bühne spüre ich sie hier nicht so. Dafür ist die Opulenz der Bühne erst jetzt für mich richtig erfassbar. Licht, Bühnenaufbau und Gestaltung. All das passt gut und sieht toll aus. Die Stimmung ist hinten gut und aufmerksam, das ist hier nicht anders als vorne. Nur die Ausstrahlung von Nick Cave kann man nur erahnen, nicht fühlen. „The mery seat“, einer der Songs, die ich mir von hinten ansehe, verliert aber dadurch keineswegs seine Wucht. Da dieses Konzert den Tourauftakt darstellt, hören und sehen wir die Livepremieren des neuen Materials. Acht Songs vom neuen Album Wild God stehen auf der Setlist, der Rest ist dieses und jenes.
Neben den beiden Hauptakteuren Nick Cave und Warren Ellis spielt am Bass ein weiterer bekannter Musikhochkaräter: Colin Greenwood. ‘We stole him from another band. An Indie band’ fügt Nick Cave bei seiner Vorstellung an. Nicht jeder im Saal weiß Bescheid. ‘From which band’’ hallt zart eine Frage aus dem Innenraum, die aber offiziell unbeantwortet bleibt. Hoffentlich hat dem Fragenden jemand leise mit Radiohead geantwortet. Nach dem Ausfall des Stamm Bad Seeds Bassisten Martyn P. Casey nimmt Colin Greenwood seinen Platz bei der Wild God Tour ein. Er hat zuvor auch schon beim Album mitgearbeitet, die Nominierung macht also Sinn.
Nick Cave ist der große Meister, dem die ersten Reihen aus der Hand fressen (wenn nicht die gesamte Halle). Er springt, er sprintet, er stützt sich auf Hände, er zerrt und zergelt, wenn zu stark an seinen Hosenbeinen gezogen wird. Er ist manchmal auf dem Sprung zum stagediven, lässt es aber. Und er dirigiert seine Band mit den bekannten taktischen Zeichen. Ein Armkreis: Noch ein Loop; Arm hoch: lauter spielen; einmal springen: Song beenden. Gegen Ende verliert er – verständlicherweise – etwas an Kondition. Er spuckt jetzt sehr oft auf die Bühne, seine Moves werden etwas weniger rasant. So richtig zu schwitzen scheint er dagegen nicht, seinen Anzug trägt er auch nach zwei Stunden nach wie vor perfekt. Nur die Krawatte hat er mittlerweile gelockert. (Oder gar abgelegt, so genau erinnere ich mich nicht mehr.)
Zweieinhalb Stunden dauert das Konzert. Eine gute Länge, mehr wäre vielleicht etwas zu viel. In der Zugabe spielen sie auch einen Grinderman Song (“Palaces of Montezuma”) und das schöne „Into my arms“. Eine zweite Zugabe, die eingeplant war aber aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit wohl nicht mehr gespielt werden kann, bekommen wir nicht mehr zu hören. Dadurch verpassen wir „The ship song“. Schade, aber „The ship song“ hätte den Abend nicht großartiger machen können. Es war gut, es war genug.
Um kurz nach 23 Uhr ist dieses tolle Konzert vorbei. Live funktioniert Nick Cave wahnsinnig gut. Ich bin echt froh, dass ich das erleben durfte. Ein Konzert, dass ich so schnell nicht vergessen werde. Jetzt musste ich erst sehr alt werden, um die ganze Schönheit von Nick Cave Songs zu erkennen. Nun ja, besser spät als nie.
Setlist:
01: Joy
02: Frogs
03: Wild God
04: O children
05: Jubilee Street
06: From her to eternity
07: Long dark night
08: Cinnamon horses
09: Tupelo
10: Conversion
11: Bright horses
12: I Need you
13: Straight to you
14: O Wow O Wow (how wonderful she is)
15: Final rescue attempt
16: Red right hand
17: The mercy seat
18: White elephant
Zugabe:
19: Palaces of Montezuma
20: Papa won’t leave zou, Henry
21: Into my arms
22: As the waters cover the sea
Kontextkonzerte:
Nick Cave & The Bad Seeds – Primavera Sound Festival Barcelona, 04.06.2022