Ort: Feriendorf Weissenhäuser Strand, Ostsee
Bands: Archive, Cake, Explosions in the sky, Nada Surf, Elbow
Der Tag begann mit Arbeitslärm. Noch während der Mittagsruhezeiten des Ferienortes wurde ich von dröhnendem Lärm überrascht. Soundcheck in der Zeltbühne.
Da das Apartment Südseite hatte und das herbstliche Ostseewetter nicht mit Sonnenstrahlen geizte, setzte ich mich in meiner schwarzen Outdoorjacke auf den Balkon und hörte schon einmal ein bisschen was von dem, was später am Abend noch zu sehen sein sollte.
Archive eröffneten den Boxen- und Instrumentenckeck neben einigen Keyboard-TripHop Sequenzen mit „Bullets“ bevor dann Elbow ihre abendliche Zugabe „Leaders oft he free world“ testen. Es war herrlich, und wenn sich die Sonne nicht langsam hinter den Dünen verzogen hätte, hätte ich hier noch Stunden sitzen können. Aber so wurde es kühl und überdies auch Zeit, den Abend vor der Bühne einzuläuten. Also raus aus der Bude und rein in das Festival.
Doch der Tatendrang wurde jäh gestoppt: Als ich die Treppenstufen des Wohnblocks runterstapfe, laufe ich mitten in eine Fotosession. Während die Howling Bells im Treppenhaus ein, zwei, drei Songs spielen, werden sie fototechnisch ins rechte Bild gesetzt. Natürlich schaue ich mir das Theater an; zwei Fotografen schrauben an ihren Objektiven und ergötzen sich an extremsten Nahaufnahmen der Sängerin Juanita Stein, ein Dritter filmt ihren unplugged gespielten Song. So funktionieren also diese Akustiksession, die wir dann im Internet teilen, denke ich. Nun gut, das ist nicht meine Welt und eigentlich wollte ich auch zu An Horse. Da passt es, das gerade das Licht neu justiert werden muss, der Film der Kameras voll ist und auch sonst längere Zeit nichts passiert und ich mich gefahrlos nach einigen Minuten wieder von dannen schleichen konnte (und das auch tat).
An Horse spielen dann aber ohne mich. Der Baltic Saal ist bereits voll, als ich dort ankomme und es gibt keinen Einlass ohne längere Warteschlange. Da ich auch den Treffpunkt und die -zeit für Monta’s Wohnzimmerkonzert verpasst habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als noch ein wenig durch die ‚Galeria an der Düne‘ des Ferienparks zu schlendern und mich auf das Archive Konzert zu freuen.
Die Briten sind wohl eine der unterschätzten Bands schlechthin. 1994 erschienen sie ungefähr zeitgleich mit Massive Attack auf der Musiklandkarte und erinnerten mit ihren seinerzeit Trip-Hop lastigen Darkpop an die Mitbegründer dieses Musikgenres. Ein billiger Abklatsch sind Archive jedoch nicht. Interne Zänkereien und keinen Hit zur passenden Zeit ließen die Band trotz ihres durchaus guten Debütalbum Londinium nicht richtig populär werden. Das vom 2004er Album Noise stammende „Fuck U“, irgendwie schon ihr Hit, klang dann doch zu radikal für das Formatradio. An der Ostsee glänzen Archive mit drei (Sprech)-Sängern (Rosko John, Dave Pen und Pollard Berrier) und zwei Keyboardern, die sich an den Bühnenrändern gegenübersitzen und ständigen Blickkontakt haben. Danny Griffiths und Darius Keeler sind die Bosse, Masterminds und Gründer der Band.
Im Laufe der Jahre durchlebten Archive einige Stilrichtungen. Es gab die anfängliche Trip-Hop Phase, sinnbildlich daran erkennbar, dass Rapper Rosko John die Bühne betritt, die Emo-, Gothic-, die Dark-Post-Rock Phase und die Progressive Rock Phase. Eine Menge Phasen, die zeigen, wie abwechslungsreich und dadurch kurzweilig Archive Musik und Archive Konzerte sind. In der Schweiz sind sie groß, ihr 2009er Doppelalbum Controlling Crowds ging in die TOP 10. Bei uns sind sie nicht ganz so bekannt, es reichte aber, um das Festzelt zu dieser frühen Stunde gut zu füllen.
Der Humor der amerikanische Cake ist speziell. Wer hat schon den Mut, ein fünfminütiges Intro aus 80er Jahre Filmmusiken über Festivalbesucher auszubreiten? Selbst als der Spannungsbogen des Intros schon mehr als überspannt ist, erste Pfiffe und ‚Hört doch auf mit dem Scheiss‘ Rufe aus dem Publikum zu hören sind, ist von den Musikern noch nix zu sehen. Nein, Cake sind speziell. Sie lassen nochmals auf sich warten um dann am Ende des Introspektakels gemütlich auf die Bühne zu schlendern. Wie es scheint, stehen sie über den Dingen. Ich bin kein Fan der Band, zuhause steht nur dieses eine Album im Regal. Das mit dem Gloria Gayner Cover und „The distance“ . Darüber ist mir ihr Sound allerdings immer zu trocken. So ergeht es mir dann auch mit ihrem Konzert. Nachdem Sänger John McCrea zum fünften Mal ihr nun wirklich letztes Stück vom neuen Album ankündigt, verlasse ich das Zelt und gehe, ja, nicht wie ursprünglich angedacht zu den Howling Bells in den Minigolfschuppen sondern zu Explosions in the sky. Die Amerikaner hatte ich live noch nicht gesehen, die drei Australier ja gerade erst im Treppenhaus.
Außerdem war mir nach Brachialkrach.
Und den können Explosions in the sky vorzüglich. In den letzten Jahre sind sie neben Mogwai und Godspeed you black emporer zu den herausragenden Vertretern des Postrock geworden. Sehr zu recht. Vor zehn Jahren hätte ich mich noch nicht für Instrumentalmusik begeistern können, aber von den Sounds dieser drei Bands muss man einfach hin-und-weg sein. Explosions in the sky scheinen mir noch die wuchtigste der drei zu sein. Zumindest unterscheiden sie sich deutlich, auf deutliche laut-leise Effekte verzichten sie in ihren Songs (in den live gespielten). Umso stärker beherrschen sie die Dramaturgie, ihre Stücke zum Ende hin platzen zu lassen, perfekt. Vom Fleck weg war ich gefangen.
Meinen ursprünglichen Plan nur kurz vorbeizuschauen, verwerfe ich nach zwanzig Minuten direkt, dieses Konzert kann ich nicht vorzeitig verlassen. Die 70 Minuten muss ich aushalten.
Nada Surf spielen gerade „80 Windows“, als ich ins Zelt zurückkehre. Nada Surf, eine meiner Lieblingsband der Endneunziger. Ihre erste beiden Alben High/Low und The Proximity Effect sind Collegerock vom allerfeinsten. Über ihr Schulmädchenvideo zu „Popular“ lernte ich das Trio 1996 kennen. In den Folgejahren besuchte ich einige ihrer Konzerte, mit ihrem schwächeren vierten Album The weight is a gift verlor ich sie allerdings aus den Augen. Und ich fand sie nicht wieder, denn je älter sie wurden, desto poppiger wurden sie. Da waren dann Nada Surf nichts mehr für mich.
Auf einem Festival funktionieren sie allerdings immer noch tadellos. Ihr Backkatalog ist riesig und ihre Anhängerschaft groß genug, um einen Festivalauftritt zu wuppen. Insgeheim merkte ich, wie ich mich freute, die mittlerweile stark angegrauten Herren wiederzusehen und einige der wirklich lange nicht gehörten Lieder live zu erleben. Auf der Bühne sind sie zu einem Fünferpack aufgewachsen. Wie erzählt Matthew Caws doch gleich: Irgendwann haben sie zusammen mit Calexico ein Festival bestritten, und seitdem gehören der Calexico– Trompeter und Gitarrist zum Nada Surf Lineup. Einige neue Songs spielen sie auch, das dann siebte Album The stars are indifferent to astronomy soll Anfang nächsten Jahres erscheinen.
Der Abschluss des Abends gehört Elbow. Eine gute, grundehrliche Show. Wenn ich die Band nicht erst Tage zuvor beim Konzert des Jahres in der Kölner Live Music Hall gesehen hätte, wäre ich bestimmt von ihrem Auftritt begeistert gewesen. So allerdings sehe ich die Haare in der Suppe, vermisse die gute Live Music Hall Stimmung und einen launigen Guy Garvey. Auch für einen Konzertbesucher ist es schwer, von einem guten Konzert wieder herunterzukommen und eine Band in Normalform gut finden zu können.
Das Indoor-Komfort-Festival war also dieses Jahr wieder toll? Ja, das war es, vielleicht war es sogar noch eine Schüppe besser als im letzten Jahr. Die Sonne schien, die Temperaturen waren angenehm frostig, die Musik sehr unterhaltsam. So kann man Nachmittage und Abende an der Ostsee verbringen.
Setlist Archive:
01: Controlling crowds
02: Fuck U
03: Sane
04: Finding it so hard
05: Bastardized ink
06: The feeling of losing
07: Lines
08: System
09: Kings of speed
10: Bullets
11: Danger visit
12: Numb
Kontextkonzerte:
Rolling Stone Weekender – Ostsee, 12.11.2010
Rolling Stone Weekender – Ostsee, 13.11.2010
Elbow – Köln, 08.11.2011 / Live Music Hall
Elbow – Luxemburg, 26.06.2011
Elbow – Köln, 05.11.2008