Ort: Druckluft, Oberhausen
Vorband: –
Paracetamol vermindert nicht nur körperlichen Schmerz, sondern auch positive Gefühle. Das haben, so lese ich gerade, US Forscher an der Ohio State University herausgefunden.
Motorama dagegen vermindern nicht nur den Schmerz, sondern liefern obendrauf noch positive Gefühle. Wenn man denn Wave-Synthie-Pop-Melodien mag. Motorama, für Fans von Joy Division, New Order (die Frühphase) und anderen ähnlichen Kandidaten. So würden sicherlich last.fm, spotify oder deezer die russische Band aus Rostov am Don taggen.
Wir stehen noch einige Augenblicke vor der Tür. Eine Vorband scheint nicht aufzutreten, so bleibt etwas Zeit, sich über Alltagsthemen zu unterhalten. Mein Blick fällt dabei wie zufällig auf die mit Aufklebern vollgepappte Eingangstür des Druckluft. Ein Aufkleber lautet: „Capitalism ruins everything around me“. Das passt ja zum Ambiente hier, sage ich.
Gelegen neben einer riesengroßen überdachten Parkplatzfläche eines angrenzenden Einkaufszentrums mit Matratzen Conrad, Kaufland und anderen Geschäftsketten und einer Industriebrachfläche wirkt das Druckluft wie ein typischer urgemütlicher alter linksautonomischer Jugendklub, der er sicherlich auch einmal war. Oder noch ist. Keine Ahnung.
Ich hätte den Aufkleber sicherlich wieder vergessen, wenn ich ihn nicht tags drauf auf der Rückseite des Mobiltelefons des Motorama Sängers Vlad Parshin wiederentdeckt hätte. Instagram verbreitete diese enorm relevante Botschaft in die Welt. Das Internet ist toll!
Es war mein drittes Motorama Konzert, wobei ich mich nur an das erste erinnern kann. Das war vor zwei Jahren an gleicher Stelle: in Oberhausen, im Druckluft. In dieses Umfeld passen Motorama ganz gut, wie ich finde. Das Druckluft ist natürlich nicht ausverkauft, sondern gerade mal gemütlich zur Hälfte gefüllt. Mögen sie in Peru Weltstars sein, bei uns sind Vlad Parshin, Maxim Polivanov, Alexander Norets und Schlagzeuger Oleg Chernov eher unbekannt. Bekanntlich fehlt auf dieser Tour die Bassistin, so dass Motorama live eine reine Jungsgeschichte ist.
An diesem Abend spielen sie in der Hauptsache Stücke ihres neuen Albums Poverty. Das kenne ich nicht, ich greife oft nur zu ihrem älteren Album Alps, dass mich immer noch packt. „Northern seaside“, „Ghost“, „Alps“, zeitlose Klassiker, verdammt gute Songs.
Neben den Poverty Stücken standen schönerweise auch „Ghost“ und „Alps“ auf der Setlist für den Abend. Denn gerade in den Sequenzen, in denen Motorama tief in die 1980er abtauchen, gefallen sie mir am besten. Und sowohl „Alps“ als auch „Ghost“ haben viele dieser Momente. Ach, wenn ich nur an den Bass bei „Ghost“ oder an das Eingangs-Keyboard bei „Alps“ denke. Ein Traum!
Auf der Bühne wirken Motorama wie schüchtere Nerds. Eine Interaktion mit dem Publikum findet nicht statt. Alle vier Musiker sind einzig mit sich und der Musik beschäftigt. Das Publikum und ob welches da ist scheint sie dabei kaum zu interessieren, was aber sicherlich nicht stimmt. Wenn sie nicht auf den Boden schauen, gucken sie irgendwo hin, für einen Blickkontakt reicht es nie. Auch nicht für einen kurzen Augenblick. Das mag der Grund dafür sein, dass ein Motorama Konzert immer ein wenig befremdlich auf mich wirkt. Beim letzten Mal hatte ich ähnliche Gedanken, auch an diesem Abend musste ich oft darüber nachdenken.
Es ist schon komisch, auf Platte mag ich ihre Songs wirklich sehr, aber live möchte der Funke bei mir nicht so recht überspringen. Das Gefühl, hier Band – da Publikum, will mir nicht so recht nicht aus dem Kopf.
Befremdlich, oder besser überraschend sind dann auch die kleinen und kurzen Ausbrüche des Sängers. Wie aus dem nichts nimmt es ihn plötzlich mit, er reißt und schwenkt seine Gitarre oder den Bass (aufgrund der Abwesenheit der Bassistin teilen sich Vlad und Gitarrist Maxim Polivanov die Bassparts der Songs, indem mal der eine und mal der andere bei den Songs den Bass spielt) wie geistesabwesend wild umher, dass man Angst haben muss, er rasiert gleich seine Mitmusiker. Vor allem der Keyboarder neben bzw. hinter ihm spielt in ständiger Gefahr, einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Kollateralschäden bleiben aber bis auf eine andauernd von der Nase rutschende Brille und ein verschwenkter Mikrofonarm aus. Daniel Kessler Gedächtnismoves nannte hinterher meine Begleitung diese Eruptionen. Interpolinsiderwissen.
In den Momenten des Brille rutschend denke ich, ach, hier fehlt jetzt die 2. Gitarre. Einfach die Hände von den Saiten nehmen und die Brille richten, das geht jetzt nicht, weil die Aktion das Gitarrenspiel unterbrechen würde. Und jeder würde es hören. Eine zweite Gitarre könnte dies überspielen, wenn sie denn da wäre. Ist sie aber nicht, und abseits dieser Gedankengänge bemerkte ich ihr Fehlen auch überhaupt nicht. Die verkleinerte Motorama Version war genauso laut, brillant und durchzugskräftig wie die große Motorama Variante.
Die Stimmung war gut und die Menschen tanzten zu „Alps“ und anderem, aber es wäre mehr drin. Grundsätzlich finde ich Schüchternheit sehr sympathisch, es gibt kaum nervigeres als zu extrovertierte und selbstdarstellerische Menschen. Aber hier ließ sie ein leicht machbares Mehr an Stimmung leider nicht zu.
Andererseits ist dieser diametrale Gegenentwurf zu einer Konzertshow indirekt der Beleg für die hohe Songqualität von Motorama. Es bedarf keiner Spirenzkes, um Menschen zum Tanzen zu bringen und zu unterhalten.
“Rose in the vase” fand ich toll!
Kontextkonzerte:
Motorama – Oberhausen, 04.03.2013
Motorama – Köln, 25.09.2013