Ort: de Kreun, Kortrijk
Vorband: –
Die Gegend macht einen sehr ernüchternden, traurigen Eindruck. Wir fahren von Dünkirchen nach Kortrijk, und jedes Dorf hat gefühlt 10 Kriegsdenkmäler, Soldatenfriedhöfe und Gedenkmonumente. Der erste Weltkrieg war hier, und das sehe ich an jeder Ecke. Nach einem Zwischenstopp am Christmas Truce Denkmal (The farm – „All together now“) in Mesen, erreichen wir an diesem regen- und nebeltrüben Tag Kortrijk. Ja, das Wetter tut sein Übriges. Das Bild füllt sich und Karate – zu deren Konzert wir unterwegs sind – passen im weitesten Sinn gut in diesen melancholisch grauen Wintertag. Karate machen keinen Fun-Punk, sie machen Slowcore. Und der klingt selten spaßig.
Die Band Karate sind Geoff Farina, Gavin McCarthy und Jeff Goddard. Und das schon seit Mitte der 1990er Jahre. Einzig Eamonn Vitt verließ in den Anfangsjahren die Band, um einem ‚regulären‘ Beruf nachzugehen: er startete ein Medizinstudium. Das Trio macht seit 1993 Musik, hat in dieser Zeit sieben Alben veröffentlicht und pausierte zwischen 2005 und 2025. Dieses Jahr kam dann das achte Album dazu, Make it fit. Erste neue musikalische Lebenszeichen gab es allerdings schon vorher: 2021 kündigte das Plattenlabel Numero Group an, den Backkatalog der Band erneut zu veröffentlichen. Damit war es wieder möglich, Karate Platten zu kaufen.
Die Alben der Band bei Southern Records wurden nicht mehr neu aufgelegt. Und der Gründer des Labels, John Loder, verstarb 2005, was die Dinge zusätzlich verkomplizierte. Im Jahr 2020 wurde in einem Artikel des Chicago Reader festgestellt, dass die Alben von KARATE online häufig selten hohe Vinylpreise erzielten. Die langjährigen Fans von der Numero Group boten der Band an, sie bei der Wiederbeschaffung ihrer Alben zu unterstützen und schickten buchstäblich einen Transporter nach Nordengland, um die Masterbänder von KARATE abzuholen.
greenhell.de
2022 kündigte die Band an, erstmals nach 17 Jahren wieder eine Tour zu spielen, unter anderem auch mit einem Auftritt beim Primavera Sound in Barcelona. Die Tour sollte die Wiederveröffentlichung der alten Platten ein bisschen promoten. Das lief scheinbar alles so gut und machte so viel Spaß, dass Karate für Anfang 2024 schließlich das besagte neue Album Make it fit und kurz darauf Konzerte in Europa und UK angekündigten. Später im Jahr veröffentlichten Karate dann sogar weitere Europakonzerte für 2025. Die weiteren Konzerte sind auch dringend nötig, denn in diesem Herbst spielen sie auf dem Festland nur an zwei Orten: in Kortrijk und in Antwerpen.
Und wir sind in Kortrijk. Im relativ bekannten Club de Kreun. Der kleine Laden mit 500er Fassungsvermögen liegt unweit des Bahnhofs im Stadtzentrum. Der Saal ist Teil des Muziekcentrum Track, das zudem ein Aufnahmestudio, Übungs- und Workshopräume beheimatet. 2009 erbaut und modern eingerichtet.
Das Konzert ist seit langem ausverkauft. Trotzdem hält sich das Gedränge im Rahmen. Der Saal füllt sich ab 20 Uhr gemütlich, bis er irgendwann kurz vor Konzertbeginn voll ist. Das Schöne an Konzerten in Belgien ist, dass man nicht unendlich früh vor Ort sein muss, um einen guten Platz zu ergattern. Durch konkrete Zeitangaben im Vorfeld weiß jeder, wann ein Konzert beginnt. Und der größte Teil ist dann auch erst 10-15 Minuten vorher vor Ort. Eine halbe Stunde oder gar eine Stunde vor Konzertbeginn sind in Belgien nur non-locals am Saal. So wie auch an diesem Abend. Um kurz nach dem Einlass gegen 19.30 Uhr betreten wir das de Kreun. Das Konzert ist von 20.30 Uhr bis 21.50 Uhr angesetzt. Es sind überschaubare Zeiten, die Karate anbieten. Zuvor spielt ein DJ. Eine Vorband gibt es nicht, Merch leider ebenso wenig. Den haben Karate erst zu ihren fünf England Terminen eingeflogen. Wahrscheinlich hat das etwas mit Zollangelegenheiten zu tun, dass für die beiden Kontinentaleuropatermine kein Merch mitgenommen wurde.
Karate beweegt op het onwaarschijnlijke kruispunt van post-hardcore, slowcore en jazzrock.
Die de Kreun Homepage bringt es nochmal auf den Punkt. Besser ist die Musik des Bostoner Trios nicht zu beschreiben, denke ich. Karate sind dabei eines dieser typischen amerikanischen Underground Gewächse. Slint, Tortoise, Red House Painters sind Namen, die mir da spontan passend einfallen. Im weitesten Sinn experimenteller Alternative.
Bei Karate – an meine Tortoise und Slint Konzerte habe ich keine genauen Erinnerungen, sie sind schon länger her – sieht das dann live so aus: Keine Lichtshow, keine Effekte. Gitarre, Schlagzeug, Bass. Konstant weißes Bühnenlicht. Eine gute Show also, möchte ich sagen. Minimalismus pur. Nur die Musik. keine Ablenkungen. Und die Musik unterstreicht das Ambiente im de Kreun fulminant gut. Diese Bedachtheit, Langsamkeit, diese Mischung aus staubtrockenem Rock, Blues und in den neueren Songs auch Jazz wirken so beruhigend, unaufgeregt und sanft, dass jeglicher Schnickschnack mehr als auffallen würde. ‘So quiet I can hear the refrigerator is on.‘ Diese Zeile aus „There are ghosts“ vom schon sehr alten Album The bed is in the ocean ist während des knapp 90-minütigen Konzerts häufig Programm. Oft geht es ruhig zu, die Gitarren klingen meist leise und wohldosiert. Apropos „There are ghosts“. In einer Plattenrezension lese ich dazu:
So viel Energie in so wenigen Tönen. Geoff Farina auf dem Höhepunkt, sowohl am Mikro als auch an der Gitarre, absolut essenziell.
Müßig zu erwähnen, der Song ist ein Hit. Und einer von vielen umjubelten Songs. Gerade die alten Klassiker wie „Diazapam“ oder „This day next year“ sorgen für großen Jubel. Hier waren die Entzugserscheinungen in den letzten Jahrzehnten scheinbar sehr hoch. Karate spielen an diesem Abend Songs, die sie seit 20, 30 Jahren spielen und Songs, die sie seit zwei oder drei Tagen spielen, wie Sänger Geoff Farina irgendwann mittendrin bemerkt. Eine richtige Aussage, wobei natürlich schwerpunktmäßig die alten Sachen im Focus stehen. Von Make it fit tauchen auf der Setlist die Songs „Defendants“, „Rattle the pipes“, „Around the dial“ und „Liminal“ auf. Alles andere ist 1990er Jahre Kram.
Der Auftritt selbst ist unspektakulär spektakulär. Die Ordnung auf der Bühne (kein Schnickschnack, etc.) überträgt sich auf den Vortrag. Unaufgeregt stehen Geoff Farina und Jeff Goddard vor ihren Monitorboxen. Mal mehr, mal weniger Kaugummi kauend. Beide kommen jeweils mit einer einzigen Gitarre/Bass aus. Das überrascht mich, immerhin sind sie eine Gitarrenband. Auch überrascht es mich, dass sie keinerlei Effektpedale vor ihren Füßen liegen haben. Ihr Setup ist sehr reduziert und auf das nötigste begrenzt. Der größte Teil des Publikums ist so alt wie die Band. Zwischen 20 und 30 Jahre alt in den 1990er Jahren, groß geworden mit amerikanischen Undergroundbands wie Dinosaur Jr., Buffalo Tom, Slint, Codeine, Cold Water Flat und ggfs. noch Fugazi. Das ist die musikalische Schnittmenge aller Anwesenden im de Kreun, denke ich.
Zu Beginn des Konzertes steht das de Kreun der Band mit zurückhaltendem Respekt und leiser Begeisterung gegenüber. Es ist wie bei einem Wiedersehen einer long-time-no-see Bekanntschaft/Freundschaft. Es braucht ein paar Augenblicke, um wieder warm zu werden. Man prüft erst, ob der andere noch so ist, wie man ihn in Erinnerung hat oder wie man es erwartet, dass er ist. Karate lösen das an diesem Abend ganz schnell: sie starten mit alten Gassenhauern wie „If you can hold your breath“ und „There are ghosts“. Okay, Karate sind noch so wie damals. Yeahh! Nach zwei, drei Songs wird logischerweise die Begeisterung extrovertierter. Langanhaltender Applaus nach den Songs, Zwischenrufe und Song requests sind nun fast die Regel. Karate nehmen das wohlwollend zur Kenntnis, gehen aber nicht weiter darauf ein.
Das Konzert läuft gut, sehr gut. Band und Publikum machen zufriedene Gesichter und ich denke, so müssen Reunion-/Neustartkonzerte sein. Kein zu starkes Schwelgen in der Vergangenheit, kein zu starkes darauf hinweisen ‘man sei jetzt wieder da und habe neue Sachen’. Einfach so tun, als sei man nie weg gewesen und als sei alles irgendwie selbstverständlich: ‘… ach übrigens, ein paar neue Songs,….. ohh hier die alten Hits.’ Ein langes „Sever“ und ein noch längeres „Today or tomorrow“ (den auf Platte knapp 2 Minuten langen Song dehnen sie bis weit über die 5 Minutengrenze) beenden nach einer Stunde das reguläre Set. Es folgen in der Zugabe noch 15 Minuten „This day next year“, dann geht das Konzert zu Ende.
Die ganze Zeit über liegen die Gitarrenkoffer seitlich am Bühnenrand. Nach dem Konzert und noch während des Schlussapplauses werden von Geoff Farina und Jeff Goddard konzentriert und pflichtbewusst die Gitarren eingepackt. Nein, das kann nicht warten, das muss jetzt sein.
Scheinbar herrscht auch sonst Ordnung bei der Band Karate. Ein tolles Konzert!
Setlist:
01: Bass Sounds
02: If you can hold your breath
03: There are ghosts
04: Gasoline
05: Small fires
06: Water
07: Diazapam
08: Around the dial
09: Defendants
10: Liminal
11: Fall to grace
12: Rattle the pipes
13: Operation: Sand
14: Sever
15: This, plus slow song
16: Today or tomorrow
Zugabe:
17: This day next year
Kontextkonzerte:
Karate – Primavera Sound Festival Barcelona, 02.06.2023