Ort: Koninklijke Vlaamse Schouwburg, Brüssel
Vorband: Jerry David Decicca
Vom Bahnhof Brussel Noord sind es nur fünf Minuten zum Platz Rogier. Dort nach rechts, entlang des Brüsseler Stadtrings bis zur Rue des Laeken. Die Straße trennt den neu gestalteten Bereich des Bahnhofsviertels von der (bisher) noch nicht oder weniger gentrifizierten Umgebung des Kanals und der angrenzenden Bezirke. Verlässt man den Bereich der gläsernen Hochhäuser, die in den letzten Jahren hier erbaut wurden und läuft langsam auf die Metrostation Yser zu, geht’s auf der kreuzenden Rue de Laeken in Richtung Süden und Stadtzentrum. Nach 100 Metern erscheint rechts die Koninklijke Vlaamse Schouwburg, das königlich flaemische Theater. In dieser Gegend Brüssels war ich noch nie, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, mal am Kanal oder an einer der angrenzenden Grünflächen entlang gelaufen zu sein.
Das Königliche flämische Theater hat eine lange Geschichte. In den 1780er Jahren erbaut, diente es erst als Tierlager, später als Warenlager und als Arsenal des belgischen Heeres. Seit den 1890er Jahren ist der Ort eine Theaterspielstätte. Nebenan ist das KVS-Center mit der KVS-Box, einem weiteren Veranstaltungssaal. Leider haben sowohl das Center als auch das angrenzende Café geschlossen. So bleibt nur ein Blick in den Veranstaltungskalender. Die Broschüren des KVS sind im Dinosaur Jr. Design gehalten: hellgrüne Schrift auf lila Untergrund. Rund um das Theater ist nicht viel, was die Wartezeit angenehm verkürzen kann. Immerhin finden wir in der Nähe des Rings eine Frituur; erst kommt das Essen, dann die Kultur. Die Pommes sind ordentlich, die Preise überraschend gering. Laufkundschaft gibt es hier wohl eher wenig, ich habe mehr den Eindruck, die Frituur ist sowas wie der Treffpunkt der Nachbarschaft. Auf dem Rückweg landen wir dann -schwupps- im Rotlichtbezirk. Dieser grenzt im Norden unmittelbar an das Theater. Die Hinterseite des Theaters war früher der Wareneingang des Gebäudes. Ein großes Tor mit einem Rangierplatz davor deutet zumindest darauf hin. Die Vorderseite sieht dann eher nach Theater aus, sie ist mit allerlei Figuren und Ornamenten geschmückt und macht einen repräsentativen Eindruck.
Der Innenraum ist komplett modern. Von außen würde man eher einen alten Theatersaal mit knarrenden Holzboden und zu kleinen Sitzen, die zu eng aneinandergereiht sind, vermuten. Doch denkste. Innen erblicke ich eine Betonkugel, die losgelöst von der Fassade in das Gebäude installiert wurde. Hier sind der Saal und die Bühne untergebracht. Nur die Bar im ersten Obergeschoss und die Treppen scheinen von der Originalbebauung übrig. Der Saal selbst hat eine vielleicht 200 Personen fassende Parterre und eine dreigeschossige Galerie mit zwei bis drei Sitzreihen. Der Boden knarzt nicht und die Sitze sind bequem und mit ausreichend Beinfreiheit angebracht. Es ist ein moderner, zeitgemäßer Theatersaal. Und es ist ein relativ kleiner Saal, er wirkt auf mich kuschelig und gemütlich.
Bill Callahan ist in der Stadt und es könnte keinen besseren Ort für seine beiden Konzertabende geben. Wieso zwei Abende? War die Nachfrage nach Tickets so groß, dass ein Zusatzkonzert anberaumt wurde? Ja und Nein. Ja, der Andrang war groß, die Tickets für beide Abende schnell ausverkauft und nein, der zweite Abend ist kein Zusatzkonzert, er ist Teil des aktuellen Tourkonzeptes von Bill Callahan. Bei dieser bespielt er nämlich die wenigen Europastationen seiner Tour doppelt. Will sagen: zwei Abende zuvor in Paris, dann die beiden Abende in Brüssel gefolgt von zwei Konzerten in Dublin und zwei Abende, nein gar vier Abende in London. Bill Callahan solo residency shows nennt sich die Tour, das Motto dahinter ist einfach:
A multi-day residency each time where Callahan is accompanied only by his guitar and delightful baritone voice.
AB Homepage
Im Vorfeld war mir nicht ganz klar, was ich mit dem Begriff residency verbinden kann. Spielt er an den Abenden unterschiedliche Programme, gibt es Gastmusiker, hostet er in diesen zwei Tagen noch andere Aktionen rund um seine Konzerte? Schnell merkte ich, ich denke zu weit und ausufernd. All das trifft für diese Shows nicht zu. Es gibt keine Besonderheiten, es sind einfach nur zwei Konzerte, die zufällig im gleichen Venue an aufeinanderfolgenden Tagen stattfinden. Nach Recherchen bezüglich der Pariser Setlisten wird auch klar, dass sogar die Songauswahl nur gering unterschiedlich ist. Bill Callahan spielt also nicht den halben Abriss seines bisherigen Schaffens, aufgeteilt auf zwei Abende. Ein Wochenende Bill Callahan macht also wenig Sinn (ich bin kein Callahan Ultra) und es ist mehr als okay, dass wir nur für den Samstagabend Tickets besorgt hatten.
Um halb acht beginnt der Einlass in den Saal. Die Frites sind verdaut, ein Club Mate gekauft – interessanterweise neben Wasser das einzige nicht-alkoholische Getränk an der Bar. Da die Tickets keine festen Sitzplätze enthalten, sind wir etwas früher vor Ort. Beim Warten vor den Türen kommen wir unweigerlich ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass das Publikum weit gereist ist. Viele Leute kommen aus den Niederlanden, ich höre sehr viel amerikanisches Englisch (was allerdings in Brüssel nicht sehr unüblich ist) und neben uns sitzt jemand, der extra aus Oslo eingeflogen ist. Die wenigen Europadaten Bill Callahans ziehen die Leute von überall her an, so zumindest mein Eindruck. Und ja, nur weitgereiste sind extra früh an einem Konzertort.
Die Bühne ist übersichtlich ausgestattet; ein Mikrofonständer, ein Gitarrenhalter, ein Barhocker (nicht zum Sitzen, sondern als Beistelltisch für das Ablegen der Mundharmonikas und das Abstellen des Weinglases), eine Monitorbox, ein Verstärker sowie zwei Filmscheinwerfer. Purer Minimalismus und sehr entspannt für’s Auge. Da während des Konzertes auch die Lichtshow übersichtlich reduziert beliebt, sinkt die Ablenkung auf ein kleinstmögliches Maß.
Nachdem Jerry David Decicca, der den Abend solo akustisch und wirklich sehr unterhaltend eröffnet, die Bühne verlassen hat, dauert es noch eine ganze Weile, bis wir Bill Callahan zu Gesicht bekommen. Angekündigt durch eine kleine Ansprache des Veranstalters betritt er um kurz nach 21 Uhr die Bühne. Man sei froh und auch glücklich, die zwei Abende im KVS durchführen zu können. Das ist das, was ich aus der Ansprache für mich mitnehme und verstehe. Der Mann spricht flämisch, ich verstehe nur einzelne Phrasen. Es war anscheinend etwas schwierig, einen Konzertort zu finden. Die üblichen Venues waren für dieses Wochenende belegt, doch schließlich erklärten sich die KVS Verantwortlichen bereit, die beiden Konzerte zu veranstalten.
Und was soll ich sagen, das Theater ist die perfekte Wahl. Visuell ist es sehr anmuten, die Sitze sind bequem und insgesamt wirkt der Ort einfach sehr passend für ein Bill Callahan Konzert. Das Ancienne Belgique oder die Botanique wären von ihren Atmosphären her diesem doch mehr ruhigen Konzert in keinster Weise gerecht geworden. So ist’s schon besser. Und Bill Callahan sorgt mit seinem Konzert dafür, dass es nicht schlechter wird.
13 Songs stehen auf seiner Setlist. Das klingt erstmal wenig, ist dann aber doch genug Material, um 90 Minuten füllen zu können. Die Songs des Bill Callahan sind lang, mitunter sehr lang. Ich glaube, einzig der erste Smog „Our anniversary“ ist kürzer als 5 Minuten. Die bedächtige Spielweise, das langsame, aber wortgewaltige Erzähltempo und die mit viel elektrischer Gitarre ausgedehnten Soli sorgen dafür, dass die Songs an der 8 Minuten Grenze kratzen. Hektik kommt dabei nie auf. Ab und an gibt es ein paar rockige Ausbrüche: ein kurzes Feedbackpfeifen aus den Boxen oder ein überraschend starker Hall- bzw. Verzerreffekt entreißen mich dann für Sekunden aus dem Sessel. Das ist jedoch die Ausnahme, die Regel ist vielmehr ein ruhiges Grundrauschen und die markante Baritonstimme von Bill Callahan. Beides beruhigt ungemein, ohne langweilig zu werden. Das Grundrauschen beinhaltet auch allerlei nicht gitarren-eske Sounds. Mit dem rechten Fuß spielt er über Pedale Bassbeats, elektronisches Geknacke und Gefiepe oder Geräusche wie Vogelzwitschern und Wasserrauschen ein, die dann wie ein Klangteppich unter seinen Gitarrensounds laufen. Aber nicht zu dominant, im Vordergrund bleiben ganz klar Gesang, Gitarre und die immer und immer wieder repetitiven Songstrukturen.
Songs vom Album Apocalypse, mit dem ich Bill Callahan vor Jahren entdeckte, stehen genauso auf der Setlist wie aktuelle und neue Sachen. Zum Abschluss spielt er nochmal einen Smog Song und geht damit ganz weit in seine musikalische Vergangenheit zurück. Sehr schön. Überhaupt ist die Setlist sehr schön und ein feiner Spaziergang durch 25 Jahre Bill Callahan Musik.
Der Rückweg ist schnell erledigt. Zu Fuß zum Bahnhof Brussel Noord, dann mit dem belgischen IC (für uns unerwartet pünktlich) nach Leuven und von dort mit dem Auto zurück. Das Ganze ist innerhalb von zweieinhalb Stunden abgefrühstückt und enorm entspannt. Es ist tatsächlich relativ einfach möglich, an einem Samstag Kurzausflüge nach Brüssel in aller Gemütlichkeit durchzuführen.
Setlist:
01: Jim Cain
02: Our anniversary
03: 747
04: River Guard
05: Sycamore
06: Partition
07: Cowboy
08: Coyotes
09: Bowevil
10: Everyway
11: One fine morning
12: Drover
13: Rock bottom riser
Kontextkonzerte:
Bill Callahan – Köln, 12.05.2011 / Stadtgarten