Ort: Stadsmuseum De Bijloke Site, Gent
Vorband: –
‘Anohni and the Johnsons spielt an einem Samstag beim Gent Jazz Festival.’
‘Okay, da fahren wir hin.’
Einige Ideen oder Vorhaben klingen zu Anfang noch ganz gut und einfach handhabbar, werden aber, je näher der Termin rückt, mit Bedenken und puhhs konfrontiert. So wie auch diese Fahrt nach Gent: eigentlich habe ich keine Lust auf drei Stunden Autofahrt, eigentlich lohnt sich das doch gar nicht, eigentlich ist es viel zu sommerlich. Eigentlich. Aber die Tickets sind nun mal gekauft und mein ‘eigentlich’ ist nicht mein ‘nein’.
Ärgerlich ist nur, dass in den Tagen zuvor die Klimaanlage des Autos kaputt ging, eine Reparatur nicht mehr lohnt (Wert vs. Werkstatt) und somit die Fahrt nicht ganz so angenehm ausfiel. Gott sei Dank war es ein lauer und nicht heißer Sommertag, es blieb erträglich. Angenehm war dann auch die Autofahrt. Nicht viel Verkehr und das entspannte Fahren unter Tempolimit brachten uns zügig nach Gent.
Ich war schon einmal beim Gent Jazz Festival, Perfume Genius und dEUS führten mich seinerzeit hierin. Das war 2016. Doch das damalige Gent Jazz hat mit dem jetzigen nicht mehr viel gemein. Einzig der Ort ist derselbe: die Gärten des Musikzentrums De Bijloke, die zwischen dem Flüsschen Leie und dem STAM, dem Stadtsmuseum Gent, liegt. Eingebettet zwischen roten Backsteingebäuden steht nun ein großes, wetterfestes Festivalzelt mit Sitztribünen an allen drei Seiten. Vor Jahren war es bloß ein Zelt mit Stühlen. Hier wurde ordentlich geupgradet. Auch die Anzahl Verzehrmöglichkeiten und Sitzgelegenheit rund um das Festivalzelt wurden deutlich erhöht. 2016 gab es Pommes (für mich völlig ausreichend), 2024 gibt es auch Pizza, Essen aus dem Wok, vegan/vegetarisches und noch irgendwas).
Wir sind gut in der Zeit vor Ort. Da das Gelände leicht außerhalb der Innenstadt liegt, ist die Anfahrt unproblematisch. Parkplätze am Straßenrand gibt es genug und die paar Minuten Fußweg zum Gelände sind eine willkommene Abwechslung nach der längeren Autofahrt.
Ein paar Minuten nach Einlassbeginn sind wir da. Die Schlange vor dem Eingang hat Palladiumniveau, es geht aber schnell voran. Vom Gelände selbst bin ich positiv überrascht. Wie schon erwähnt, alles ist anders als vor 8 Jahren. Alles wirkt professioneller, schöner und noch besucherfreundlicher. Neben dem großen Zelt sind zwei kleine food courts eingerichtet, weiter hinten zwischen den Gebäuden des Museums, Merch- und Verkaufsstände. Hier steht auch eine zweite Bühne, die vor und nach dem Hauptkonzert im großen Zelt bespielt wird. Da Amatorski allerdings erst um viertel vor zwölf starten, verkneifen wir uns das Konzert der – vor vielen Jahren zurecht – hochgeschätzten und gelobten belgischen Band. PS: Ich wusste gar nicht, dass Amatorski noch was machen.
Die Zelttüren sind noch zu. Auf meine Nachfrage, wann es soweit ist, entgegnet ein Securitymitarbeiter: ‘in a couple of minutes, she’s a little bit nervous’. Okay, also Pommes. Dazu braucht es eine spezielle Bezahlkarte, die dann mit Guthaben aufgeladen wird. Etwas umständlich, aber okay. Also zweimal kurz anstehen. Da das mit den ‘couple of minutes’ doch länger dauert, bleibt genügend Zeit für all’ das.
Um viertel nach sieben werden wir in das Zelt gelassen. Schnell füllen sich die ersten Reihen und die Sitzplätze. Der Andrang ist groß, das Konzert war am ersten Tag des Vorverkaufs ausverkauft. Verwunderlich ist das nicht. My back was a bridge for you to cross ist die erste Anohni and the Johnsons Veröffentlichung seit Ewigkeiten und wann Anohni das letzte Mal auf Tour durch Europa war, ich kann mich nicht erinnern.
Ein paar Minuten nach acht kommen erst die Orchestermusiker auf die Bühne, dann eine Tänzerin mit einer Art Hirschgeweih und in einem wehenden weißen Umhang. Bühnenperformance Teil 1 beginnt. Eine weitere wird im späteren Verlauf folgen. Dabei ist weiß die Farbe des Abends: auch die Musiker und Anohni weiße Kleidung. Es ist ein stimmiges Bild, dass uns visuell präsentiert wird.
Vormittags hatte ich noch Gelegenheit, kurz ein, zwei Sachen von der aktuellen Anohni and the Johnsons CD My back was a bridge for you to cross zu hören. Den ersten der beiden mir bekannten Songs spielen sie gleich zu Beginn. „Why am i alive now?“ ist ein schöner Popsong, bei dem erst Anohnis Stimme im Vordergrund steht und im Laufe des Songs von Streichern und Trompeten in den Hintergrund gespielt wird. Er klingt wie ein Soundtrack von Loveboat oder Hart aber herzlich. wird. Bereits vormittags fixte mich der Song an und auch in der Liveversion überzeugt er total und packt mich sofort.
Da ich nicht so tief im Anohni Universum drin bin, frage ich mich, wer hier die Johnsons sind. Sind die Johnsons die acht, neun Musiker, die einen Halbkreis um Anohni herum bilden? Oder ist es nur ein Name, der als Referenz zu ihren früheren Gruppen (The Johnsons, Antony and the Johnsons) zu sehen ist?
Anohni founded the NYC-based experimental theater group The Johnsons in 1995, named in honor of the NYC trans and human-rights activist Marsha P. Johnson. She assembled a group of musicians in 1997 to record her first album and began performing concerts in NYC as „Antony and the Johnsons“ in 1997.
Wikipedia
Wie auch immer, ich finde das Konzert von der ersten Minute an atemberaubend. Im Zelt herrscht eine ganz besondere Atmosphäre zwischen intensivem Zuhören und Sprachlosigkeit. Musikalisch ist es abwechslungsreich. Sind die neuen Songs opulent und soulig produziert („It must change“ ist ein toller Keziah Jones -hafter Soulpopsong), klingen die älteren Sachen ruhiger und reduzierter. „You are my sister“ kommt zum Beispiel ganz leise daher, genauso wie das melodramatische „Cut the world“, dass im Vor- und Abspann mit Filmsequenzen angereichert wird. Sie spielen größtenteils Songs von Anohnis Solo Album Hopelessness, I am a bird und dem aktuellen My back was a bridge for you to cross.
Videosequenzen gibt es übrigens während des Konzertes öfter, Anohni spricht dazu live die Dialoge oder synchronisiert in Eigenregie eigene Texte. So genau erkenne ich das nicht.
Immer wieder gibt es langanhaltenden Applaus. Auch für die Worte, die Anohni zwischendurch spricht. Dann erzählt sie über ihr Leben, über das Schicksal von Freunden, über Ängste, Wünsche, Hoffnungen.
Ein kleines Klavierzwischenspiel unterbricht das Konzert nach guten 70 Minuten. Mit gelbgoldener Maske kehrt Anhoni auf die Bühne zurück. Zuvor sahen wir noch eine kurze Tanzperformance der als Fabelwesen verkleideten Tänzerin. Anohni and the Johnsons spielen die letzten Songs: „Drone bomb me“, „Man is the baby“, „Her eyes are underneath the ground“.
Zugabe. Das Klavier, an dem Anohni jetzt sitzt, steht außerhalb meines Blickfeldes. Bevor sie solo „Hope there’s someone“ vom 2005er Album I am a bird now spielt, läuft ein weiteres Video. Es zeigt die Performance eines The Johnsons Mitglieds, das mittlerweile verstorben ist. Ihren Namen verstehe ich nicht. In einem langen Monolog berichtet Anohni ausführlich über ihr Schicksal und die Lebenswege der anderen Mitglieder ihrer – wie Anohni es nennt – ‘trans family’. Auch sie sind mittlerweile alle verstorben: Page, Chloe und Julia.
Dann geht das Licht. Es ist 22.15 Uhr. Der Regen draußen hat aufgehört. Wir gehen zum Ausgang. Ich verlasse nicht oft nachdenklich ein Konzert. Hier tue ich es. Ein großartiger, ein intensiver Abend ist vorbei. Es war gut, alle ‘eigentlichs’ außer Acht zu lassen. Es war ein guter, ein in meiner Erinnerung bleibender Konzertbesuch in Gent.
Die Rückfahrt bringt Temperaturen um die 10 Grad. Die defekte Klimaanlage vermisse ich jetzt nicht.
Setlist:
01: Why am I alive now?
02: 4 Degrees
03: Manta Ray
04: Cut the world
05: Hopelessness
06: It must change
07: You are my sister
08: Sometimes I feel like a motherless child
09: Can’t
10: Everglade
11: Another world
12: Drone bomb me
13: Man is the baby
14: Her eyes are underneath the ground
Zugabe:
15: Hope there’s someone
Kontextkonzerte:
Gent Jazz Festival – Gent, 16.07.2016