Ort: Junkyard, Dortmund
Vorband: –

Das nenne ich eine Punktlandung. Pünktlich um 22.00 Uhr beenden Wilco ihr fantastisches Konzert mit „I got you (at the end of the century)“. Damit haben sie den gesetzlich vorgegebenen Curfew sekundengenau eingehalten und die Zeit bis zur Sperrstunde bestmöglich ausgeschöpft. Zu Beginn der Zugabe mahnte Jeff Tweedy gar zur Eile, denn sie wollten keinen der Songs auslassen. ‚Es sei wichtig, dass alle Songs gespielt würden’, so der Bandleader. Und so eilten sie durch „Falling apart (right now)“, „California Stars“ und „Walken“, bevor mit „I got you (at the end of the century)“ das Konzert nach drei Stunden endete.
In den letzten Jahren mutierten Wilco zu einer Art Lieblingsband von mir. Angefangen hat es mit dem Plattencover von Yankee Hotel Foxtrot. Abgebildet sind dort die Wohntürme des The Marina City Komplexes in Downtown Chicago. Als wir vor Jahren in Chicago waren, war es eines der unabdingbaren Ziele, eine Fotoaufnahme der Türme von einer ähnlichen Position aus zu machen, die dem Bild auf dem Plattencover ähnelt.
Es gelang so einigermaßen, kostete aber einiges an wertvoller Sightseeing-Zeit. Neben dem Artwork hat die Platte eine Menge Hits, die zu meinen Lieblingsliedern wurden: „I am trying to break your heart“, „Heavy metal drummer“, „Jesus etc.“. Funfact: An diesem Abend hörte ich sie alle.
Mittlerweile finde ich am Wilco Indierock/ Americana/ Alternative Country viel Gefallen. Vor 15-20 Jahren war das noch nicht so. Damals konnte ich mit traditioneller amerikanischer Gitarrenmusik nicht allzu viel anfangen. Also punktuell natürlich schon, aber nicht in dem Maße, wie es jetzt der Fall ist. „Via Chicago“ mochte ich schon immer (aber den mag jeder!), und auch das Wilco Debüt A.M. finde ich schön. Abseits von Wilco stehe ich nun auch verstärkt auf Sachen von Bill Callahan, Lambchop oder Ryan Adams.
Also war es irgendwie klar, dass ich mir Wilco ansehen möchte. Auch wenn die Konkurrenz an diesem Freitag groß ist (allen voran Nine Inch Nails in der Lanxess Arena oder Efterklang in einer Kirche in Maastricht), kaufte ich mir ein Ticket für den Dortmunder Junkyard. Also raus in die Sonne anstatt in eine kühle Kirche oder in eine vielleicht gut klimatisierte Großraumarena.
Es ist warm an diesem Freitag. Oder besser gesagt: sommerlich. Der Begriff klingt schöner, ändert an der Wärme aber nichts. Ja, ich stehe nicht gerne in der Sonne und ich mag es nicht, wenn Temperaturen über 30 Grad klettern. beides passiert mir an diesem Abend im Junkyard, einem ehemaligen Schrottplatz, der zu einer Kulturlocation umgebaut/ aufgewertet wurde. Das Konzert wird um 19 Uhr starten. Zu diesem Zeitpunkt scheint die Sonne voll auf den Open-Air Platz und auf die Bühne. Um nicht länger als nötig – aber mit bestmöglichen Stehplatz während des Konzertes – vor Ort zu sein, fahre ich erst um kurz vor 18 Uhr aus der Stadt in Richtung Junkyard. Viel länger als eine knappe Stunde vor Konzertbeginn möchte ich nicht in der Sonne stehen. Auch wenn sie nur von hinten scheint.
Das Junkyard Gelände ist bereits gut besucht, aber es ist mir noch leicht möglich, nach vorne zu kommen. Seit 2016 existiert auf dem ehemaligen Schrottplatz das Kulturzentrum Junkyard. Ein Open-Air besuche ich hier zum ersten Mal, in der Halle sah ich vor Jahren Bohren & den Club of Gore. Es ist ein schöner Ort, der mich ein wenig an die Mad Max Filme erinnert. Rostige Container bilden die Kulisse im Junkyard und grenzen das Areal ab. Auf einem der Container steht ein alter Ford Ka. Die Bühne ist aus sechs bis acht Containern ‘zusammengeschustert’, über die ein Stahldach montiert ist. In weiteren Containern sind Essen- und Getränkestände untergebracht. Das Ambiente wirkt schroff und herzlich zugleich. Eine Blaupause für das Ruhrgebiet.
Da Wilco, wie auf der gesamten Tour, zwei Sets mit insgesamt 30 Songs spielen werden, ist der Konzertbeginn auf 19 Uhr vorverlegt worden. Dem ein oder anderen Besucher gefällt das nicht ganz so gut, wie ich den Gesprächen entnehme. Und ja, natürlich ist ein Open-Air viel schöner, wenn es kurz vor der blauen Stunde beginnt und in die Dunkelheit hineinführt. Aber der Lärmschutz gebietet ein Ende um spätestens 22 Uhr. In der kürzesten Nacht des Jahres ist es dann noch hell und beginnt erst, kuschelig dunkel zu werden. Und so stehen Jeff Tweedy, Gitarrist Nels Cline, Pat Sansone, John Stirratt, Mikael Jorgensen und der Schlagzeuger Glen Kotche pünktlich um 19 Uhr und in der prallen Sonne auf der Bühne. „Wishful Thinking“ vom 2004er Album A Ghost is born eröffnet das Konzert. Später im Set spielen sie von dem Grammy ausgezeichneten Album noch die Songs „Hummingbird“ und „Spiders (Kidsmoke)“. Überhaupt ist das Konzert eine Art Werkschau durch sämtliche Wilco Alben. Vom immer noch aktuellen Album Cousin aus dem Jahr 2023 spielen sie „Evicted“. Der neueste Song des Abends stammt allerdings von der EP Hot sun cool shroud. „Annihilation“ heißt er und sie spielen ihn absichtlich nach „Box full of letters“, dem ältesten Song des Abends. ‘Sie wollen damit die Entwicklung von Wilco demonstrieren’, wie Jeff Tweedy in der Abmoderation sagt.
Nach guten 90 Minuten beschließen Wilco ihr erstes Set mit „Either way“. Die Songzeile ‘Maybe the sun will shine today’ wird von Jeff Tweedy amüsiert kommentiert. Ich nutze die 20-minütige Pause, um mir ein Getränk zu holen und um mich mehr im Schatten zu positionieren. In der Sonne geschwitzt und Bildmaterial gesammelt hatte ich genug; den vorderen Bühnenplatz konnte ich nun aufgeben. „I am trying to break your heart“ und „Via Chicago“ habe ich bisher schon gehört, ich freue mich noch auf „Heavy Metal drummer“, „Hummingbird“ und „Jesus etc.“. Das sollten sie im zweiten Set spielen, die Setlisten der vorherigen Konzerten erzählen mir das zumindest so.
Eine bestimmte Einteilung der Songs in Set eins und Set zwei ist mir nicht ersichtlich. Es ist nicht so, dass ein Set z. B. nur ein Album oder eine Schaffensphase abbildet. Ich vermute daher, Set eins und Set zwei sind keiner bestimmten Idee nach zusammengesetzt. Oder ich bin zu dumm, sie zu erkennen.
Mein neuer Stehplatz stellt sich nach den ersten Songs als suboptimal heraus. Nun stehe ich zwar im Schatten, aber ich stehe auch in einer Gruppe frenetischer Gitarrensoliapplaudierer. nahezu jedes Mal, wenn Jeff Tweedy oder Nels Cline zum Gitarrensolo ansetzen, grölen und klatschen sie ihre Freude darüber hinaus. Es nervt ein wenig, sag’ ich mal.
Im Ganzen ist die Stimmung ausgesprochen gut. Es gibt viel Applaus nach den Songs, oft mehrere Dutzend Sekunden lang. Wilco zeigen sich dankbar, die Band ist trotz der sicherlich sehr nervigen direkten Sonneneinstrahlung auf die Bühne sehr guter Dinge und bestens gelaunt. Neben den bereits erwähnten A ghost is born Songs spielen sie im zweiten Set natürlich auch „Impossible Germany“. Der Song darf bei Deutschlandkonzerten nicht fehlen. Der zweite Teil ist mit einer Stunde etwas kürzer als der Erste. Und wer glaubt, das war es, der hat die Rechnung ohne die Zugabe gemacht. Natürlich kommt die Band nochmal zurück, spielt vier weitere Songs und ich habe das Gefühl, dass wenn es den Curfew nicht gäbe, sie durchaus noch ein, zwei Sachen spontan nachlegen würden.
Impossible Germany
Unlikely Japan
Wherever you go
Wherever you land
I’ll say what this means to me
I’ll do what I can
Impossible Germany
Unlikely Japan
Setlist:
01: Wishful thinking
02: Company in my back
03: Handshake drugs
04: I am trying to break your heart
05: One wing
06: Evicted
07: If I ever was a child
08: Via Chicago
09: Tired of taking it out on you
10: Forget the flowers
11: Bird without a tail / Base of my skull
12: Cruel country
13: Everyone hides
14: Quiet Amplifier
15: Either Way
Set 2:
16: At least that’s what you said
17: Cold Slope
18: Side with the seeds
19: Whole love
20: Jesus, etc.
21: Hummingbird
22: Impossible Germany
23: Box Full of Letters
24: Annihilation
25: Heavy Metal drummer
26: Spiders (Kidsmoke)
Zugabe:
27: Falling apart (right now)
28: California Stars
29: Walken
30: I got you (at the end of the century)
Kontextkonzerte:
Wilco – Köln, 13.09.2019 / Carlswerk Victoria
Wilco – Rolling Stone Weekender Weissenhäuser Strand, 11.11.2011