Ort: Theater Colosseum, Essen
Vorband: Basis Bulat
Es war das Konzert des Jahres. Damals in Barcelona auf dem Primavera spielte Sufjan Stevens an zwei aufeinanderfolgende Abenden im auditori, einem riesengroßen Konzertsaal, der am Rande des Festivalgeländes liegt und in jedem Jahr für Konzerte von kleinen und großen Bands der eher ruhigen reserviert ist. Hier kann man dann Jazz und Weltmusik genießen, oder sich einfach nur in den bequemen Sitzen vom Festivalbrimborium ausruhen. Seinerzeit hatten wir Reservierungen für den ersten Abend und waren nach den knappen 3 Stunden vollends begeistert. Zum großen Finale standen alle vor und auf der Bühne, bunte Gummibälle segelten über unseren Köpfen und Konfetti auf uns hernieder. Es war ein tolles, buntes und abwechslungsreiches Konzert, ich denke immer noch gerne daran zurück und schaue mir ab und an noch ein paar Videos von diesem Abend auf YouTube an. Jeder, der dabei war, ging mit einem Lächeln. Danach war das Festival eigentlich gelaufen. Wer sollte das noch toppen? Wie konnte man sich nach so einer Reizüberflutung noch auf andere Bands konzentrieren? Natürlich folgten an diesem Abend und am nächsten Tag noch weitere Konzerte. Aber während diese in meinen Erinnerungen verblassen, blieb und bliebt der Sufjan Stevens Auftritt unvergessen.
Ab da war ich endgültig Fan. Doch bereits vorher faszinierten mich Sufjan Stevens Projekte und Arbeiten: Ein Musikalbum für jeden Bundesstaat der USA. Tollkühn erdacht und nie umgesetzt; neben Illinois bekam nur noch Michigan eines ab. Eine 5 CD Box mit knappen 50 Weihnachtsliedern; eines schöner als das andere, oder der Film und Soundtrack über den BQE, den Brooklyn-Queens Expressway in New York. Genauso bunt und abgedreht wie seinerzeit das Konzert. Mein Fazit lautete seitdem: Sufjan Stevens, ein großer Künstler und Sänger, der, wie so oft, viel zu wenig Beachtung findet und scheinbar gnadenlos unterschätzt wird. In der Weltpresse las ich noch nichts über ihn, das ist nicht richtig!
Das Colosseum in Essen war ausverkauft. Natürlich. Die Livequalitäten haben sich herumgesprochen und ich glaube, während seiner letzten Tour hatte er auch schon in Essen ein Konzert gegeben. Ein begeisterndes, Sufjan Stevens Konzerte sind per Definition begeisternd! Und da kommen natürlich alle gerne wieder. Überdies ist das Colosseum, einem Theater in einem alten Fabrikgebäude, ein gar nicht so großer Saal, wie es klingt. Aber ein schöner, mit bequemen Sitzen und herausragend guter Tonqualität.
Sufjan Stevens kann machen, was er will. Es ist immer alles großartig. Das Konzert war das komplette Gegenstück zu meinem letzten Konzert. Kein Bühnenbombst, keine Schwanenflügelkostüm, keine Ballons und keine neonfarbenen Klebebänder an sämtlichen Instrumenten und Requisiten. Die einzige Verkleidung, die sich die Band herausnahm waren olle Truckerkäppis im Zugabenblock, passend zu der Ansage „now we can play some older songs“. Haben sie dann auch gemacht, alte Songs gespielt:
„Concerning the UFO sighting near Highland, Illinois” aus dem Illinois Album, “The dress looks nice on you” und “To be alone with you” von Seven swans, ”John Wayne Gacy, Jr.” (wieder Illinois), und das gnadenlos schöne „Chicago“.
Das war der Abschluss eines Konzertes, das mir so viele Gänsehautmomente brachte, wie ich sie mir vorher gewünscht hatte.
Nach dem tollen Barcelona Erlebnis war das Essener Konzert natürlich gesetzt. (Und nach diesem Abend und dem Barcelona Abend ist jedes weitere Sufjan Stevens Konzert gesetzt). Meine Erwartungshaltung war neben viel Gänsehautmomenten aber gar nicht so groß. Ich dachte schon, dass es nicht so wild und bunt wie beim letzten Mal zugehen wird, denn das aktuelle Album Caroll & Lowell ist ein sehr ruhiges und persönliches Album. Hula-Hup Reifen und Konfetti passen da überhaupt nicht.
Familie, Glaube, Geschichte, Erinnerung, Landschaft, Mythos, Macht, Medizin – alles ist angelegt in den Liedern, aber nichts taugt mehr als Wegweiser oder zum Festhalten. Carrie & Lowell sickert durch die Risse, die sich im Fundament von Stevens’ Heimatland abzeichnen. Es ist ein beunruhigendes Album, denn es lässt offen, was darunterliegen könnte.
Wenigstens weiß man ganz genau, wo es hersickert. Carrie und Lowell aus dem Plattentitel sind Mutter und Stiefvater des Künstlers, sie waren in den Achtzigern ein paar Jahre verheiratet. Während Lowell als väterlicher Freund und Geschäftspartner bei Asthmatic Kitty Records eine wichtige Person in Stevens’ Leben blieb, wurde die meist abwesende, unter Depressionen und Drogensucht leidende Mutter zu einer noch wichtigeren Person. Als Carrie im Dezember 2012 starb, flogen ihrem Sohn die bisherigen 40 Jahre seines Lebens um die Ohren. Er fühlte sich besessen von ihrem Geist, kopierte ihre selbstzerstörerischen Gewohnheiten und vollendete seinen meltdown mit Alkohol-, Drogen- und Sexgeschichten, die man normalerweise vor der Führerscheinprüfung erledigt. (Spex)
Zurück zu den Wurzeln, so lese ich es in nahezu allen Plattenbesprechungen. Gitarre, Aufnahmegerät, Gesang. Kein weiterer Schnickschnack. Und genauso ist auch das Konzert: Vier Musiker unterstützen den Sänger und eine Videoleinwand, auf der passend alte Super 8 Familienfilmchen oder Landschaftsbilder projiziert werden, untermalt das ganze eher dezent als aufdringlich. Glitzerkram Fehlanzeige. Das Bühnenlicht ist dunkel, die Atmosphäre wirk mehr wie ein Familienfilmabend als ein Konzert.
Eine Atmosphäre zum hineinfallen und sich verlieren schön. Und musikalisch, hach…es fing schon an mit dem viel zu früh im Programm installierten „Should have known better“. Gibt es aktuell einen schöneren, traurigen und gleichzeitig so aufmunternden Song? Ich sehe keinen, und behaupte deswegen ‚nein‘. Sufjan Stevens ist ein Könner, ein herausragender Songschreiber. Neben Elliott Smith vielleicht der Beste, den es in den letzten 20 Jahren gab.
Wenn es nicht schon grandios wäre, spätestens hab diesem Moment wäre es der Fall. „Should have known better“, ein Bild von einem Song.
Nach einer Stunde wird es etwas elektrischer. „Vesiuvius“, „I want to be well“ boten einen schönen Kontrast zu dem vorherigen. Sufjan Stevens steht jetzt zum ersten Mal ohne ein Instrument bedienen zu müssen auf der Bühne. Die beiden Mädchen in der Reihe vor mir amüsieren sich über den zugegebenermaßen etwas staksig wirkenden Tanzstil des Sängers, der, wie man sah, in den letzten Jahren viel Zeit in der Mukkibude verbracht zu haben schien. Durch das T-Shirt war sein breites Kreuz nicht nur zu erahnen. Nein, da steht kein kleiner schmächtiger Mann auf der Bühne, der verträumt seine traurigen Lieder singt, Sufjan Stevens besitzt eine stattliche Figur und versprüht das angenehme Maß an Selbstbewusstsein, um so einen Abend machen zu kühnen. Er ist sich seiner Sachen sicher, so wirkt er auf mich. Seine Mitmusiker auch. „The hardest working liveband on earth“, sagt er nach der Vorstellung über seine vier Kollegen. Und ja, wenn ich so sehe, wer hier was alles spielen muss, teilweise sogar in den Songs die Instrumente wechseln darf, dann mag das stimmen.
Das ganze Konzert ist komplex und stark durcharrangiert. Man merkt es dem Konzert nicht an, aber zusammen mit der Filmchoreographie im Hintergrund bedeutet das, dass an jedem Abend die gleichen Songs in der gleichen Reihenfolge gespielt werden.
„Should have known better“ kam als dritter Song, das wusste ich also. Es ist mein Lieblingsstück auf der aktuellen Platte und ich freute mich sehr, als ich es in den Setlisten der vergangenen Tour-Konzerte entdeckte. Leider kam es an dritter Stelle, möchte ich sagen, und nicht später im Konzert. So früh war es etwas verschenkt, in all den nachfolgenden wunderschönen Momenten ging es etwas unter. Denn was waren das für Momente! Immer dann, wenn es aus den ruhigen Passagen in den Songs heraus lauter wurde, das Schlagzeug plötzlich wie ein 80er Jahre Schlagzeug klang und die Keyboards in langen Passagen für Dampf sorgten, das ich mich an „We built this city“ von Starship erinnert fühlte, fand ich es am schönsten. Das klang dann zwar teilweise etwas Bombast-Kitsch, aber das muss so sein.
Toll auch der umgekehrte Weg: Wenn aus dem ganzen Lärm heraus Sufjan Stevens plötzlich zur Blockflöte greift und einen abrupten Wechsel einläutet.
Oder wenn er auf der Akustikgitarre zupft und mit dem Knie das Windspiel, das an der Unterkante des Keyboardtisches angebracht war, bediente. Das klang wie ein sanftes Surren und untermalte die Gitarrenklänge flirrend. Ein Hintergrundgeräusch bloß, das nicht unbedingt hätte sein müssen. Aber es war doch gut, dass es da war.
Und ich saß in meinem Platzsessel und hörte zu, und staunte und war beeindruckt und ließ mich auf all das ein. „Should have known better“ zum heulen schön, „Eugene“, das darauf folgende „John my beloved“, herzzerreißend. Auch wenn ich die Personen, über die Sufjan Stevens diese Songs geschrieben hat, nicht kenne, aber irgendwie hat doch jeder von uns Menschen, die ihm beim hören dieser Stücke in den Sinn kommen. Ich zumindest habe sie und so wurde es für mich ein Konzert zum wegträumen, zum Gedanken durch den Kopf gehen lassen: Rückerinnerungen an schöne und andere Momente.
Die Stimmung ist entsprechend, der Saal ist Mucksmäuschen still, der Applaus nach jedem Stück riesengroß. Alle Musiker bewegen sich so behutsam über die Bühne, wie die Stücke klingen. Hektische Bewegungen gibt es nicht, gar vorsichtig wechseln die Musiker die Instrumente, legen sich die Gitarre um oder setzen sich auf den knarzigen Schemel ans Klavier.
Von Langweile jedoch keine Spur, denn die Band schafft es immer wieder, neue kleine Reize zu setzen. Wegen meiner könnte das unendlich so weitergehen, denn 19 Songs, so viele oder so wenige Stücke standen auf der Setlist, decken bei weitem nicht das Schaffensspektrum eines Sufjan Stevens ab.
Am Ende des Abends waren wir uns einig: ein Sufjan Stevens Konzert hat eine enorm lange Nachhaltigkeit: nein, es braucht kein weiteres Sufjan Stevens Konzert der gleichen Tour. Das Verlangen, das gleiche nochmals nach einem kurzen Zeitabstand zu sehen, ist nicht da. Nach so einer Präsentation hat man für eine lange Zeit genug. Schöner, einfühlsamer und besser geht es einfach nicht. Boah!
Kontextkonzerte:
Sufjan Stevens – Primavera Sound Festival, Barcelona 26.05.2011
Fotos: