Ort: Muziekgieterij, Maastricht
Vorband: –
„Love rears its ugly head“. Das war mein Living Colour Dosenöffner.
Wie viele andere auch war ich Anfang der 1990er Jahre musikalisch ganz klar in Sachen Grunge unterwegs. Mudhoney, Soundgarden, Green River, Mother Love Bone, Nirvana. Wer war das nicht, nachdem er einmal „Smells like teen spirit“ gehört hatte? Aber auch der Crossover war ein musikalischer Bestandteil unserer kleinen Musikwelt. Uns, das waren meine beiden besten Freunde und ich. Nahezu täglich tarfen wir uns, hörten CDs, lasen GFanzines und Musikzeitschriften und erstellten Mixtapes.
Living Colour, Urban Dance Squad, Red Hot Chili Peppers, alte Bad Brains Sachen, die kannten wir auch. Denn neben Grunge hatte einer meiner Freunde früh ein Faible für Crossover entwickelt, und er kannte sich da gut aus. Die Red Hot Chili Peppers standen bei ihm irgendwann höher im Kurs als Nirvana, und um die Freaky Fukin Weirdoz live sehen zu können, mussten wir am zweiten Tag des Gießener Bizarre Festivals sehr früh vor der Bühne sein. Ich glaube, die Münchner Funkmetal Band spielte so gegen 12 Uhr mittags im Gießener Stadion. Ich folgte ihm beim Crossover zwar nicht ganz, aber doch teilweise. Und diese „Love rears ist ugly head“ fand ich phänomenal gut. Time’s Up, das erste ‘Hit’ Album von Living Colour, besaß er ebenso wie die nachfolgende Biscuits EP. Und ich demzufolge auch. Auf Kassette. „Love rears its ugly head“ und „This is the life“ von Time’s Up sowie „Information overload“ und „Talkin loud and sayin nothing“ von der Biscuit EP waren ab da sehr oft auf unseren Kassettenkompilationen zu hören. Die Songs hatten dabei genau eine Aufgabe: Brauchte es ein Bindeglied zwischen z. B. Temple of the Dog und Keziah Jones oder zwischen Terence Trent d’Arby/ Neneh Cherry und Stone Temple Pilots/ Sonic Youth boten sich Living Colour geradezu an. Ihre Mischung aus Rockgitarren und Soulfunk kittet das zusammen, was eigentlich gar nicht zusammen auf eine Kassettenseite passt. Das Triple „Plush“, „Leave it alone“ und „Where is life“ zum Beispiel. Das hatte etwas. Zumindest 1993 plus. Und ja, wir hatten einen etwas breit gefächerten und leicht merkwürdigen Musikgeschmack.
Zurück zu Living Colour. Durch Time’s Up und Stain wurden Living Colour bei uns in Südkirchen salonfähig und das führte dazu, dass ich mich nach der Grungehochphase auch mit Crossover, Bluesfunk und Soul beschäftigte. Für einige Wochen war gar ein Livealbum von Maceo Parker mein Nonplusultra und ein Konzertbesuch in Köln wurde nur dadurch verhindert, dass der Polo meines Kumpels mit Motorpanne irgendwo vor Remscheid liegen blieb. Living Colour, die Band um Vernon Reid und Sänger Corey Glover, sah ich seinerzeit und auch später nie live. Irgendwie hat es sich nie ergeben, und nachdem sich die Band 1996 aufgelöst hat, gab es keine Möglichkeit mehr. In den 2000er Jahren änderten sich meine musikalischen Interessen und Living Colour waren für mich von da an weg.
Weg, aber nicht völlig verschwunden.
Als vor einigen Wochen die Konzerte der 30 Jahre Stain Tour angekündigt wurden, zögerte ich keine Sekunde und kaufte mir ein Ticket für ihr Maastrichter Konzert. Warum nicht ein altes Lieblingsalbum noch einmal live hören? Auch wenn es blöd wird, ist es immer noch gut. Soweit die Gedanken eines Musikfans und Konzertgängers. Doch die können so falsch nicht sein. Stain ist immerhin das Album mit den nach „Love rears ist ugly head und „Talkin loud and sayin nothing“ drittbesten Living Colour Songs „Ausländer“, „Nothingness“, „Leave it alone“ und „This little pig“.
Überrascht war ich, als ich ein paar Tage vorher bemerkte, dass das Konzert im großen Saal der Muziekgieterij ausverkauft ist. Einen so starken Zuspruch hatte ich nicht erwartet. Living Colour, Crossover, Funkmetal, das weckt doch 2023 keine schlafenden Hunde. Denkste! Ein Blick auf ihr Tourprogramm zeigte mir dann, dass nahezu alle Konzerte der Stain Tour ausverkauft sind. Ui, ich bin scheinbar nicht der Einzige, der große Lust auf ein Retrokonzert hat. Dass die große Mehrheit des Publikums dabei Ü45 ist, ist selbsterklärend. Sicherlich ist das nicht nur in Maastricht so, wo ich auffallend viel graumeliertes Haar vor der Bühne ausmache. Pünktlich um 20 Uhr bin ich in der Muziekgieterij. Die Anfahrt und Parkplatzsuche haben auf Anhieb geklappt. Das Kuddelmuddel wie bei Archive, meinem letzten großen Muziekgieterij Konzert, bleibt an diesem Abend aus.
Ein großes Living Colour Banner hängt an der Bühnenrückwand. Eine Vorband gibt es an diesem Abend nicht, um halb neun betreten Living Colour in Form von Vernon Reid, Corey Glover, Will Calhoun und Doug A. Wimbish die Bühne. Es ist die 1990er Jahre Besetzung der Band. Nach einigen Doppelheadlinerkonzerten mit der Band Extreme in England sind sie nun solo auf dem Kontinent unterwegs. Maastricht ist dabei ihre erste Station. Wie wird es werden? Spielen sie noch weiteres Material abseits von Stain? Fragen, die setlist.fm mir nicht beantworten konnte, die Doppelkonzerte mit extreme verzeichneten nicht das komplette Album und auch nur knapp zwei Hände voll an Songs. Es schien so, als ob Living Colour bei der Tour die Vorbandrolle zugewiesen war.
Keine Vorband, keine Ablenkung. Die Konzentration gilt Stain, dem Album, das 1993 veröffentlicht wurde, und das im Mittelpunkt des Konzertes steht. Stain spielen sie in Reihenfolge und komplett. Die Songs eines Albums in Reihenfolge zu spielen, ist manchmal eine Gefahr. An diesem Abend jedoch nicht. „Ausländer“, „Nothingness“, „Leave it alone“, „This little pig“, die Hits der Platte sind so gut verteilt, dass das Konzert kein Hitgefälle aufweist und man nicht bereits nach 10 Minuten alles Wichtige vom Album gehört hat.
Durch die Struktur von Stain ist das Konzert quasi vorkonfektioniert. Überraschungen gibt während diesem Programmteil keine. Aber sie starten erst mit zwei anderen, älteren Songs. Quasi zum Warmspielen nutzen sie „Middle man“ vom ersten Album Vivid und das Talking Heads Cover „Memories can’t wait“, das auch auf dem Living Colour Debütalbum zu finden ist. Okay, warum nicht. „Memories can’t wait“ kommt mir beim Hören spontan wieder in den Sinn. (Zur Vorbereitung habe ich zuhause nicht alles von Living Colour gehört.)
Dann die 13 Songs des Albums. Gut, solide, ohne besondere Vorkommnisse. Der Besucher bekommt das, was er erwartet. Ganz schnell stellt sich bei mir ein gutes Konzertgefühl ein. Living Colour, bemerke ich schnell, sind gut gealtert. Ich kann den Songs gedankenverloren zuhören, muss nicht Sachen denken wie ‘puhh, das ist jetzt zäh.’ Oder fühle mich gar nach einigen Minuten des Wiedersehens gelangweilt. Hätte ja alles passieren können; ist mir bei anderen Reunions und Albumkonzerten schon passiert. Ich hadere ja sehr oft mit all den Reunions und Jubiläumsachen. Das meiste ist zwar immer noch schön aber gleichzeitig auch irgendwie nicht mehr gut hörbar. Der ganze Shoegaze aus den 1990er Jahren zum Beispiel, oder der Britpop von The La’s oder Shed Seven. Der Crossover von Living Colour empfinde ich dagegen als gut gealtert. Ich kann ihn noch gut hören. Klar, ich werde das jetzt nicht täglich machen oder so, aber während des Konzerts spürte ich keine Langeweile und auch den vorherigen Gedanken, vielleicht etwas eher zu gehen, ließ ich direkt fallen. Nein, dieses Konzert muss ich bis zum Ende sehen.
Nach dem Album höre ich ein kurzes Hip-Hop-Hommage Medley („White lines (don’t don’t do it)“/ „Apache“/ „The message“). Das passt, denn während der Ansagen lerne ich, dass der Bassist Doug A. Wimbish früher mit den Urgesteinen Grandmaster Flash, der Sugarhill Gang und weiteren Hip-Hop Größen (er zählte sie alle auf, ich habe ein schlechtes Gedächtnis) der damaligen Zeit zusammenspielte. Nebenbei frühstücken Living Colour so auch das just gefeierte 50-jährige Hip-Hop Jubiläum ab. Zur Erinnerung: das Genre Crossover crosste ursprünglich den Hip-Hop mit Rockgitarren. Im Anschluss folgen die Hits der Vorgängeralben. Klar, „Cult of personality“, das bei den MTV Music Awards drei Titel abräumte ( Best New Artist, Best Group Video, Best Stage Performance), darf bei einem Living Colour Konzert nicht fehlen, das eingangs besprochene „Love rears its ugly head“ schon mal gar nicht. Es sind die vielleicht größten Hits der Band, die gehören ins Programm.
Gute zwei Stunden spielen Living Colour all das, was ich erwartet habe. Es war ein sehr sympathisches Konzert, Living Colour eine sehr sympathische Band.
What’s your favorite color? Living Colour.
Setlist:
01: Middle man
02: Memories can’t wait
03: Go away
04: Ignorance is bliss
05: Leave it Alone
06: Bi
07: Mind your own business
08: Ausländer
09: Never satisfied
10: Nothingness
11: WTFF
12: Postman
13: This little pig
14: Hemp
15: Wall
16: White lines (don’t don’t do it) / Apache / The message
17: Glamour boys
18: Love rears its ugly head
19: Cult of personality
20: Time’s up
21: What’s your favorite color? (Theme song)
Kontextkonzerte:
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