Bochum. Ruhrtriennale 2024. Sandra Hüller sings PJ Harvey.

Ich bin irritiert, beeindruckt, angespannt. Sandra Hüller kniet auf dem mit Erde aufgefüllten Theaterboden und singt „Grow, grow, grow“, von PJ Harveys 2007er Album White Chalk. Es ist der erste Song des Abends, die Theaterinszenierung erst wenige Minuten alt. Um sie herum wirbeln die Tänzer*innen der (La)Horde wild und intensiv. Auf der über der Bühne installierten breiten Videoleinwand werden im POV – Stil Videoaufnahmen der Tänzer*innen projiziert. Die Szenerie fühlt sich dunkel, beklemmend, erdrückend an. Zumindest empfinde ich sie so. Ich bin sehr beeindruckt und frage mich leise: ‘Was passiert hier?’, ‘Geht das jetzt so weiter?‘, ‘Halte ich das durch?’. Ich gestehe, ich hatte das so nicht erwartet. Wir sitzen in der zweiten Reihe, wenige Meter von der Bühne entfernt, auf Augenhöhe mit den Akteuren. Und damit irgendwie mittendrin. Wir spüren den aufgewirbelten Staub und schmecken den Bühnennebel. Wenn Sandra Hüller „Rid of me“ oder „C’mon Billy“ singt und mir dabei – wenn auch nur mittelkurz – in die Augen schaut, ist das auf eine gewisse Art und Weise einschüchternd.

I want absolute beauty. Sandra Hüller singt Songs der legendären Sängerin und Songwriterin PJ Harvey’ nennt sich die Inszenierung.
Als ich im Frühjahr in der Ankündigung der diesjährigen Ruhrtriennale diese Veranstaltung entdeckte, war mir klar, es braucht Tickets. Und die müssten rasch beschafft werden, ich ging davon aus, dass die insgesamt neun Termine durch den aktuellen Sandra Hüller Hype rasch ausverkauft sein würden. Ich lag so falsch nicht, bereits einige Tage später waren alle Kartenkontingente so gut wie weg. Im Laufe der Zeit vergaß ich dann ein bisschen die Veranstaltung und je näher der Termin rückte, desto gleichgültiger wurde sie mir. Was erst sehr spannend klang, relativierte sich. So richtig neugierig wurde ich erst wieder, als ich Berichte über die ersten Aufführungen las. Es schien so, dass jeder, der bereits eine Veranstaltung miterleben durfte, begeistert und beeindruckt war. Dann möchte ich mir das Event auch nicht entgehen lassen.

Die Fahrt nach Bochum verlief gut und entspannt. Überraschenderweise war an diesem Sonntagnachmittag wenig los auf den Autobahnen, so dass wir zeitig in Bochum waren. Es blieb gar noch Zeit für einen Spaziergang rund um das Bochumer Jahrhunderthallengelände und einen kleinen Abstecher ins angegliederte Café. Lange war ich nicht mehr hier, es hat sich viel verändert.

Kurz vor Beginn gibt das Programmheft erste Informationen: Veranstaltungsdauer 80 Minuten ohne Pause (oh, dann wird’s abends nicht zu spät) und eine 26 Songs umfassende Setlist, die in vier Blöcke unterteilt ist. Aha, okay. Etwas mehr als ein ‘aha, okay’ dann, als ich den Saal betrete. Der Bühnenboden ist mit Erde bedeckt, am Rand stehen Lampen und Stühle. (Wie sich nachher herausstellt, werden sich hier die Tänzer*innen der (La)Horde zwischen den einzelnen Performances umziehen). Die Zuschauertribüne spiegelt sich im Bühnenhintergrund. Die Instrumente sind hinter der eigentlichen Tanzfläche aufgebaut. Die Musiker (Schlagzeuger, Gitarrist, Keyboarder) warten einsatzbereit. Dann kommen die Tänzer*innen auf die Bühne gerannt, später Sandra Hüller.

I sowed a seed
Underneath the oak tree
I trod it in
With my boots, I trampled it down
Grow, grow, grow, grow

Sandra Hüller kniet auf dem boden und vergräbt Saatgut, aus der später am Abend ein Baum wird. Mit ‚Grow‘ ist der erste Block überschrieben, ‚Love and personal and political disappointments‘ nennt sich der zweite Block. Es sind die beklemmensten Episoden der Aufführung. Der dritte Teil, ‚Big exit‘, beinhaltet Songs vom Album Stories from the City, Stories from the Sea und wirkt klarer, farbenfroher. So kommt es mir zumindest vor. Thom Yorkes Gesangspart in „This mess we’re in“ übernimmt einer der Tänzer.

Die Aufführung reiht einen Song an den nächsten. Die Tanzperformance und Sandra Hüllers Gesang sind stark und gut in Szene gesetzt. Die Zeit vergeht rasend schnell, so gut, so intensiv kurzweilig ist die Inszenierung. Um halb zehn ist alles vorbei. Der Applaus ist groß. Ich habe durchgehalten. Aber verstanden habe ich das alles (noch) nicht. Sehr baff und sprachlos verlassen wir die Jahrhunderthalle. Wow! Absolut beeindruckend.

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