Ort: Blues Alley, Washington D.C.
Vorband: –
Der Tag beginnt mild. Das feuchtwarme Wetter der letzten beiden Tage ist verdunstet. Der Himmel leuchtet klar. Dieser 11.9. beginnt so routiniert wie jeder andere Tag, wahrscheinlich begann vor 7 Jahren der Tag ähnlich normal.
Am Abend werden wir zum zweiten Mal das Blues Alley aufsuchen, Washingtons legendären Jazzklub, wie ihn der Reiseführer des National Geografic tituliert. Das erste Mal, im Frühjahr diesen Jahres, entpuppte sich der Besuch als eine angenehme Überraschung. Jazz mit Zwiebelsuppe in schönster Backsteinbauatmosphäre. Larry Coryell spielte seinerzeit groß auf, und der Abend wurde meine ersten Live Jazzerfahrung.
Wir stiegen schon vor der Pentagon Metrostation in die blauen Linie um, befürchteten wir doch einen größeren Verkehrsstau wegen der Gedenkfeier, die dieses Jahr schwerpunktmäßig am Pentagon stattfand, auch um dort ein neues Memorial für die Pentagon-Opfer des 11.9. einzuweihen. Überraschenderweise gab es am Vormittag keine Zeichen, die auf die Anschläge deuteten. Keine Gedenkminute, kein Erinnerungssatz. Das hatte ich so nicht erwartet.
Gegen 18 Uhr erreichten wir die Metrostation Foggy Bottom. Von hier ist es zu Fuß ein Katzensprung nach Georgetown. Näher kommt die Metro auch nicht an den ältesten Stadtteil Washingtons heran. Genauer gesagt: Georgetown gab es bereits, als Washington von Herrn L`Enfant geplant wurde.
Das Blues Alley ist bereits gut gefüllt, als wir dort eintreffen. Der Kellner weist uns an einen Tisch in der ersten Reihe. Eine sehr gute Wahl. Die Vorfreude, die sich im Raum langsam breitmacht und die förmlich mit den Fingern zu greifen ist, wird größer.
Doch vor dem musikalischen Genuss will erstmal der Magen beschäftigt werden. ‚A dream of a grilled chicken with Caesars salad‘ klingt nicht nur gut, sondern schmeckt auch vorzüglich. Dazu ein Yuengling Beer, und pünktlich um 20 Uhr betraten vier Musiker unter großem Applaus die kleine Bühne des Blues Alley. Das komplette Billy Cobham Spectrum gab sich die Ehre. Am Bass Victor Bailey, an der Gitarre Dean Brown und an den Boards Tom Coster. Als uns letzterer vor 10 Minuten darauf aufmerksam machte, nicht mit unseren Füßen die Boxenkabel zu lösen, hätte ich ihn spontan für den Bandroadie gehalten. In seinem verwaschenen Jeanshemd, dem Cappie auf dem Kopf und dem grauen Stoppelbart sieht er eher wie ein schlechter Straßenmusiker oder eben Roadie aus als wie ein begnadeter Keyboarder. Man soll halt nicht von den Äußerlichkeiten auf……na egal.
Die ersten beiden Songs, “Mirage” und “Crosswinds” zeigen direkt, wohin die Reise geht. Jazz-Rock steht heute auf dem Programm. Genauso wie den Urban Jazz von Larry Coryell eine mir unbekannte Spielart des Jazz. der Sound ist dann auch ungewöhnlich laut und wuchtig, das Schlagzeug dominant ausgesteuert.
Billy Cobham bestimmt den Takt. Er sitzt mit weißem T-Shirt und Stirnband hinter seinem Drumset und hat jederzeit alles unter Kontrolle.
Die Songs dauern scheinbar endlos. Sie werden immer wieder zerstückelt und zersetzt durch einzelne Instrumentalsoli. Dabei ist viel Innovation mit im Spiel. Die vier Freunde haben sichtlich Spaß daran, die jeweils anderen mit überraschenden Soloansätzen zu verblüffen. Dann wird gelacht und gegrinst. jeder der vier hat so seine dominanten Instrumentalparts, und jeder könnt dem anderen seine kleinen Ausflüge. Das Zusammenspiel ist dabei jederzeit 100% harmonisch. Sie kriegen immer wieder die Kurve, und gerade Billy Cobham schafft geniale Übergänge und Einleitungen. Man fühlt das jahrelange zusammen musizieren in jeder Sekunde des Sets.
Dean Brown beeindruckt mich am meisten. In seinem schwarzen T-Shirt, den Jeans und den schwarzen Schuhen ist er am ehesten “jazzy” gekleidet. Sein Gitarrenspiel ist grandios. Die Gitarre klingt sehr rockig, die Soli dabei nie peinlich. Jeder Ton wird mimisch unterstützt. Zuckt die Gitarre, zuckt es auch im Gesicht. Wimmert das Instrument, scheint Deans gesamter Körper mitzuleiden.
Tom Coster starrt mit weit aufgerissenen Augen auf sein Keyboard. Nach jedem Song fliegen die Notenblätter auf den Boden, und er kramt in einer Plastikkiste die neuen hervor. Sein Keyboard klingt manchmal hallig nach 1980er und 1970er Jahren Glamrock, öfter aber nach diesem typischen diddidadididdi Sound, den wahrscheinlich jeder kennt und der einem so vertraut erscheint wie die täglichen Umweltgeräusche. Gesang vermisse ich nicht. Ich denke sogar, dass er eher stören würde als die Kompositionen zu unterstützen. Schnell macht sich typische Jazzclubatmosphäre breit. Das Blues Alley ist ein wunderbarer Ort für Konzerte. Jeder der einmal in Washington ist sollte hier unbedingt vorbei schauen. Lohnt sich auch für Nicht-Jazzkenner.
Ich kenne kein einziges Stück, mein Fuss und Kopf wippen aber sofort mit. Wunderbar! So muss Musik funktionieren!
Mit “Composition of Panama” und “Title stress” wird der Abend beschlossen. Nach 80 Minuten ist mein Ausflug in den Jazz-Rock beendet.
Gegen kurz vor 22 Uhr müssen wir dann den Club verlassen. Die zweite Show des Abends muss vorbereitet werden. Die Tische werden neu eingedeckt.
Wir gehen zurück zur Metrostation. Am Potomac sitzen die Pärchen und genießen den lauen Spätsommerabend. Eine leichte Brise vom Fluss her bringt Abkühlung. Washington zeigt sich von seiner schönen Seite.
Auf dem Weg von der Metro zur Unterkunft müssen wir eine Umweg fahren. Ein Teil der Route 1 ist gesperrt.
‚There is an incident‘,
berichtet uns der Police-Officer. Er sagt ‚incident‘, nicht ‚accident‘. Vier Meilen weiter haben vier Polizeiwagen einen weißen Pick-Up gestoppt. Der Fahrer lehnt an der Motorhaube.