Das mit mir und den Konzerten war in diesem Jahr gar nicht so einfach. Ganz abgesehen davon, dass ich aufgrund meines Fernstudiums nicht mehr so viel freie Zeit übrig hatte, um mir die Nächte um die Ohren zu schlagen, es gab doch tatsächlich eine Phase Anfang des Jahres, in der ich auch kaum Lust verspürte, mir Livemusik anzuschauen. Viele gute Bands und schöne Abende gingen mir so durch die Lappen. Mist! Aber im Frühjahr legte sich diese alberne Marotte und ich war wieder Willens, mehr Musik zu sehen. Und der Sommer sollte noch manche Überraschung parat haben.
Sufjan Stevens zum Beispiel. Der Amerikaner, der so abgedrehte Dokumentationen über Highways produziert, die – bestimmt künstlerisch auf allerhöchstem Niveau – mich so überfordern, dass ich sie mir in einem Stück nicht anschauen kann, schoss dabei den Konzertvogel ab.
Es war der Donnerstagabend auf dem Primavera Festival. Im Internet reservierten wir Tickets für das Auditorium, einem Theater- und Konzertsaal mit begrenzter Sitzplatzkapazität und enormer Akustik. Dort sollte Sufjan Stevens um halb acht auftreten.
Sein Konzert wollten wir uns ansehen, parallel lief auf den anderen sechs Bühnen nicht viel, was wir großartig verpassen würden. Also stellten wir uns eine Stunde vorher an, ließen die Taschenkontrolle über uns ergehen und kamen pünktlich um halb acht im Saal an. Wir ergatterten uns noch Sitzplätze in der dritten reihe und ließen uns gemütlich nieder. Das wir die nächsten knapp drei Stunden hier verbringen würden, wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht. Egal, nachdem DM Stith das Vorprogramm darbot, gab es diese unglaubliche Stevens Show, die ich nicht in Worte fassen kann. Konfetti, Filmchen, Engelsflügel, ach, alles fällt mir gar nicht mehr ein. Aber Bilder sagen eh mehr als Worte.
Und Videos auch:
http://www.youtube.com/watch?v=PgROJZ45rFY
Der zweite konzertiale Jahreshöhepunkt waren Elbow.
Es war das Konzert, das mir direkt dieses Gänsehautkribbeln bescherte. An diesem Abend passte alles, die Vorband, das Publikum, die Musik. Guy Garvey und Kollegen verzauberten die Live Music Hall spätestens mit „Mirror Ball“. Ich war gefangen und wachte erst anderthalb Stunden wieder auf.
“We’ve got open arms for broken hearts.“ Manchester-melancholia im Herbst.
Gänsehäute passierten mir dieses Jahr nicht so oft. Eigentlich funktionierten sie nur in den wenigen Konzert-Kurzurlauben, in denen ich etwas abschalten konnte. 2011 war ich zu sehr mit anderen Dingen ausgelastet, um mich richtig auf die Konzerte einzulassen. Konsequent sind daher die Plätze drei und vier.
Wieder Barcelona und erstmals Amsterdam. Bettie Serveert spielen „Palomine“. Als ich die Ankündigung las war mir klar, da muss ich hin. Dass es dann im Paradiso trotz sehr warmer und schwüler Spätsommertemperaturen und einem sehr vollen Magen vom Abendessen (amerikanisch) im Restaurant gegenüber so gut werden würde, hätte ich dennoch nicht gedacht. Und als wir im Anschluss noch einer knappen Stunde Waters lauschen konnten, war der Konzertabend perfekt.
Wie man auch um 18 Uhr auf einem Festival als erste Band auf einer großen Bühne tausende von Menschen verzaubern kann, zeigten uns Warpaint. Es war windig, der Sand wehte über unsere Köpfe und es war eigentlich noch zu früh für den typischen Warpaint Bass. Egal, er funktionierte auch bei Sonnenschein und das Konzert war so beeindruckend, dass ich mir lange überlegte, ob ich mir Warpaint Wochen später in der Kulturkirche anschauen solle. Nicht, das ich mir den tollen Konzerteindruck durch ein „nur“ gutes Kulturkirchenkonzert versaue. Es ging nochmal gut, aber seit dem Kulturkirchenabend bin ich mir ziemlich sicher, dass ich Warpaint nie mehr so gut sehen werde wie an diesem Spätnachmittag in Barcelona.
Konzert des Jahres:
1. Sufjan Stevens – Primavera Festival
2. Elbow – Köln
3. Bettie Serveert – Amsterdam
4. Warpaint – Primavera Festival
5. Trail of dead / Rival Schools / Asobi Seksu – Luxemburg
5. Sebadoh – Köln
6. Low – Primavera Festival
7. TV on the Radio – Köln
10. Esben and the witch – Köln
Was ist denn der Unterschied zwischen einem Konzert des Jahres und dem Live-Act des Jahres?
Diese Frage ereilte mich vorgestern per Mail.
Nun, ich möchte das so erklären: ein Konzert des Jahres ist das Konzert, das mich begeistert hat, das mir Gänsehaut bescherte und / oder mich für zwei Stunden verzauberte. Ein Konzert des Jahres lässt mich die Welt um mich herum vergessen.
Ein Live-Act des Jahres beeindruckt mich, setzt mich in Erstaunen und überrascht mich mit einem spektakulären Auftritt. Im Gegensatz zum Konzert des Jahres muss der Live-Act mich aber nicht emotional umhauen. Lady Gaga oder Madonna sind per Definition immer Live-Acts des Jahres, genauso wie U2 Konzerte.
Sie sind aber nicht zwangsläufig Konzerte des Jahres. (U2 waren das 1990 vielleicht, quatsch, nicht vielleicht, bestimmt sogar!)
2011 sah ich ein Konzert von Suicide – der Band, die den Punk erfunden hatte – , das mich auf diese Art beeindruckt hat. Alan Vega, der alte Sack von mittlerweile über 70 Jahre alt, und sein Kollege bespielten die drittgrößte Primavera Bühne zur besten Prime Time um kurz nach elf Uhr und 7000 Menschen schauten zu. Das fand ich schon sehr erstaunlich, den Suicide sind nun wirklich keine Band der Stunde.
Suicide waren eine US-amerikanische No Wave-Band aus New York. Ihre aktive Zeit umfasste die 70er und frühen 80er Jahre. Danach gab es noch einige Reunions, die allerdings alle recht kurzzeitig waren. Ihre besondere Bedeutung liegt in der Vorbildfunktion für nachfolgende Bands und Musiker. 2002 veröffentlichten sie mit „American Supreme“ ihr vorerst letztes Album.
(wikipedia, das Indiemusiklexikon)
Beeindruckender jedoch war ihre Bühnenpräsenz. Oder besser das reduzierte Wesen einer Bühnenpräsenz. Anderthalb Keyboards und zwei Mikrofonständer, mehr Zeugs brauchte es nicht, um für eine gute Stunde ein Techno-Industrial-Punk (so würde man heute sagen) Krach auf uns loszulassen, dass wir ehrfürchtig die Flucht nach hinten ergriffen.
Es war unglaublich, wie die beiden Senioren unter Schwarzlichtblitzen und Weißlichtbefeuerung die Massen zusammenhielten und bei uns ungläubiges Kopfschütteln hervorriefen: „Was ist das denn!!! Grandios!“ Natürlich berührte uns die Musik nicht so sehr, natürlich waren wir nicht gefangen vom Zauber der Melodien. Aber es war eine wahnsinniger Auftritt, verdammt noch mal!
„Hellohellohellohello BarcaBarcaBarcaBarca!“
Daher:
Live-Act des Jahres:
1. Suicide