Ort: Veltins Arena, Gelsenkirchen
Vorband: –

Die Anfrage kam etwas überraschend. Ob ich nicht ein überschüssiges Ticket für das Bruce Springsteen Konzert im nächsten Sommer in Gelsenkirchen übernehmen möchte. Es sei zwar Innenraum, allerdings nicht front of stage. Nach kurzem, zwei sekündlichem Überlegen schlug ich ein. Bruce Springsteen muss ich einmal sehen. Vor Jahren noch hätte ich das Angebot definitiv ausgeschlagen, aber je älter ich werde, desto zugänglicher werde ich für Musik, die mir einmal wenig bis gar nichts sagte. Bruce Springsteen fällt in diese Kategorie. In den 1980er Jahren hörte ich zwar Born in the U.S.A., aber nur, weil es jeder hörte. Danach nahm ich nur noch seine Singles wahr, sie liefen ja andauernd im Radio: „Tougher than the rest“, „Streets of Philadelphia“, „Better days“.
Erst vor einigen Jahren entdeckte ich Nebraska, das Album vor Born in the U.S.A.. Manche behaupten, es sei Bruce Springsteens bestes Album. Ich weiß das nicht, mir gefällt jedoch die minimalistische Art des Albums sehr. „Atlantic City“, „Used cars“ und „Highway Patrolman“ höre ich sehr gerne. Ich möchte die Platte einmal jedem empfehlen, der von Bruce Springsteen bisher nur die großen Hits kennt. Auf Wikipedia lese ich eine, wie ich finde, perfekte ein-Satz Rezension des Albums.
Nebraska tells the stories of ordinary, blue-collar workers who try to succeed in life but fail at every turn.
Daher freute ich mich, als ich „Atlantic City“ auf den Setlisten der vorherigen Konzerte erspähte. Doch leider warte ich an diesem Abend auf „Atlantic City“ vergebens. Bruce Springsteen & die E Street Band spielen es in Gelsenkirchen nicht. Nun ja, das ruiniert mir nicht den Abend, es ist nur ein bisschen schade.
‘Bruuce, Bruuce, Bruuce.’ Vor Konzertbeginn und zwischendurch immer mal wieder hallt ein langgezogenes ‘Bruuce, Bruuce, Bruuce’ Rufe durch die Veltins Arena. Es herrscht Stadionatmosphäre. Die Stimmung ist gut. Fanrufe in einem Zweitligastadion sind nichts Ungewöhnliches.
Obwohl meine Anfahrt länger dauert als geplant, bin ich eine gute Stunde vor Konzertbeginn im Innenraum. Ich war unsicher, wie viel früher ich da sein sollte. Mein Ticket ist nicht für den front of stage Zugang gültig, und ich habe null Vorstellungen, ab wann der hintere Innenraumbereich voll sein würde. Jetzt weiß ich es und ich sag mal, ich hätte auch eine gute halbe Stunde später hier sein können, den Platz in der Nähe des Versorgungsganges, der den Bonzen- vom Normalo-Bereich trennt, hätte ich dann auch noch bekommen.
Ich bin also nächstmöglich dran an der Bühne, aber ideal ist das nicht. Ich hätte die 20 Euro mehr für das front of stage Ticket, das mir vor ein paar Wochen angeboten wurde, investieren sollen. Mein anderes Ticket hätte ich locker verkaufen können. Daher, für meinen Merkzettel: front of stage Tickets machen Sinn. Selbst wenn man die ersten Reihen nicht im Visier hat. Egal, so stehe ich jetzt hier und schaue zu, wie sich die Ränge langsam füllen.
Hinter mir unterhalten sich zwei Mittvierziger über ihre bisherigen Stadionkonzertbesuche in der Arena – bei Herbert Grönemeyer sei der Sound hier schlecht gewesen – und über Hosenkäufe im nahegelegenen Oberhausener Centro. (‘Wenn ich eine gutsitzende Hose finde, kaufe ich immer gleich zwei Stück.‘). Mir ist ein bisschen langweilig.
Pünktlich um 19.30 Uhr beginnt das Konzert. Der Boss kommt mit einem Lächeln auf die Bühne. „Surrender“ als Opener setzt direkt einen Maßstab. Wow. Und mein ‘wow’ wäre um ein vieles größer, wenn ich mehr hören würde. Der Sound ist nämlich unterirdisch, Bruce Springsteen höre ich fast gar nicht und die E Street Band nur sehr leise. Überdies hallt der Ton von den Seitenwänden des Stadions zurück. Beim zweiten Song ist es noch nicht viel besser und ich überlege ernsthaft, etwas weiter nach hinten und mehr in die Mitte zu gehen. Aber dafür ist mein Stehplatz eigentlich zu gut. So bleibe ich und ärgere mich noch ein, zwei Songs lang, bevor es akustisch besser wird. Besser, aber leider nicht supergut.
Vor dem dritten Song „Land of hope and dreams“ wird es erstmals politisch. Bruce Springsteen stellt seine Sicht der Dinge, die aktuell in den USA passieren, dar. Zum besseren Verständnis für alle wird die Ansprache Untertitel auf den Leinwänden eingeblendet; Nicht jeder ist sehr gut im Englischen oder hat gute Ohren, um den Boss zu verstehen/hören. Da wo ich stehe, ist Bruce Springsteen kaum zu hören. War der Gesang während der ersten beiden Songs vollkommen unverständlich, kommen die jetzigen Worte sehr dünn rüber. Ich höre sie kaum. Gut also, dass es Untertitel gibt. Die Untertitel bleiben auch während „Land of hope and dreams“. Ich frage mich, ob sie jetzt das gesamte Konzert über eingeblendet bleiben. Das fände ich schon ein bisschen nervig. Gott sei Dank ist das aber nicht so. „Land of hope and dreams“ wird von der Regie wohl als musikalische Ergänzung der Springsteen’schen Worte angesehen, daher – so vermute ich – wird dieser Song untertitelt. Es bleibt nicht sein einziges politisches Statement. Vor „My city is ruined“ ergreift Bruce Springsteen erneut das politische Wort.
Es ist der Sommer der politischen Konzerte/ Festivals. Dass man aber dabei nicht tausende von Leuten zum Mitgrölen politischer Parolen animieren muss, indem man immer wieder das Mikro in die Menge hält oder gar Todessprüche von der Bühne donnert, um auf Missstände und Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen, zeigt Bruce Springsteen sehr eindrucksvoll. Ja, man sollte es so machen, wie Bruce Springsteen es in Gelsenkirchen macht: politische Kritik emotional anklagend vortragen, jedoch ohne ein Anstacheln oder gar persönlich angreifend zu werden. Nennt Donald Trump Bruce Springsteen untalentiert, dumm, stark überschätzt und linksradikal, schlägt dieser nicht zurück, sondern kontert mit ein paar Fakten, die den Ist-Zustand beschreiben. Ohne persönlich zu werden, ohne Parolen zu dreschen. Wuchtig und kämpferisch klingt das auch.
Mir bleibt das James Baldwin Zitat noch etwas länger im Kopf: ‘Es gibt nicht so viel Menschlichkeit in der Welt, wie man es sich wünscht. Aber es gibt genug.’ Der Applaus ist riesengroß, die ‘Bruuce, Bruuce, Bruuce’ Rufe sehr laut. Das ist definitiv einer meiner Konzertmomente des Jahres.
Zu „The promised land“ steigt Bruce Springsteen die Stufen herab zu den ersten Reihen, lässt sich berühren, reicht Hände. Ein vielleicht sechsjähriges Mädchen, das auf den Schultern des Papas hockt, hält sehr lange seinen Arm. Bruce Springsteen verharrt, lächelt sie an, singt seinen Song zuende und schenkt ihr dann seine Mundharmonika. Auf der Videoleinwand ist die Szene für das gesamte Stadion gut zu beobachten. ‘Bruuce, Bruuce, Bruuce’ hallt es durch das Rund.
Mir im Gedächtnis bleibt auch „The river“, eine traurig schöne Ballade über das Scheitern und starke, aber schlussendlich vergebliche Hoffen auf eine bessere Zukunft. Gegen Ende des Songs singt Bruce Springsteen die letzten Textzeilen mit hängendem Kopf. Seine Augen sind dabei geschlossen. Nachdem das letzte Wort verklungen ist, singt er mit zitternden Lippen ein, zwei Minuten lang die Melodie alleine weiter. Es wird ganz leise in der Veltins Arena. Mich berührt das sehr.
„Hungry heart“ zuvor ist der erste Song, den alle mitsingen. Es ist der erste Hit des Abends. Interessanterweise, so lese ich im Internet, hat Bruce Springsteen den Song ursprünglich für die Ramones geschrieben.
Bruce Springsteen schrieb den Song „Hungry Heart“ ursprünglich für die Ramones auf Wunsch von Joey Ramone, behielt ihn aber schließlich auf Anraten seines Produzenten und Managers Jon Landau und nahm ihn selbst auf. Er wurde Springsteens erster großer Hit in den Billboard Hot 100 und erreichte Platz 5.
reddit.com
Die meisten Songs jedoch kommen an diesem Abend von seinem Überalbum Born in the U.S.A.. Allein drei davon spielt Bruce Springsteen & die E Street Band in der sieben Songs langen Zugabe. Leider fehlt „Downbound Train“, mein Lieblingssong des Albums. Auch das ist ein bisschen schade. Mit zwei Coverversionen endet dann das Konzert.
Puh, seit vier Stunden stehe ich jetzt hier rum. Es war sehr schön, aber langsam reicht es. Ich bin platt.
Ich bin kein sehr großer Bruce Springsteen Fan, daher war ich vor dem Konzert unsicher, wie ich den Abend erleben werde. Wird es für mich nach einer anfänglichen Begeisterung auf Strecke eher öde? Wird es mir gelingen, mich auf das Konzert einzulassen? Halte ich bis zum Ende durch? Werde ich nach dem Konzert ein großer Fan sein? Nein, ja, ja, nein (aber ein kleiner), sind meine Antworten auf die Fragen.
Himmel, war das großartig!
Die Rückfahrt geht doppelt so schnell. Freitagnachmittags durch das halbe Ruhrgebiet zu cruisen, ist der Endgegner. Abends um elf Uhr ist er das nicht mehr.
Am Morgen danach lese ich, dass sich ein Metallteil vom Videowürfel gelöst hat und im Innenraum drei Menschen – zum Glück nur leicht – verletzt. Ich habe das überhaupt nicht mitbekommen, obwohl es gar nicht so weit entfernt von mir passierte.
Setlist:
01: No surrender
02: My love will not let you down
03: Land of hope and dreams
04: Death to my hometown
05: Lonesome day
06: Rainmaker
07: Darkness on the edge of town
08: The promised land
09: Hungry heart
10: The river
11: Youngstown
12: Murder Incorporated
13: Long walk home
14: House of a thousand guitars
15: My city of ruins
16: I’m on fire
17: Because the night
18: Wrecking ball
19: The rising
20: Badlands
21: Thunder road
Zugabe:
22: Born in the U.S.A.
23: Born to run
24: Bobby Jean
25: Dancing in the dark
26: Tenth Avenue freeze-out
27: Twist and shout
28: Chimes of freedom
Kontextkonzerte:
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