Ort: Palladium, Köln
Vorband: Muna
Ich habe mein Ticket vergessen. Nach hunderten Konzertfahrten ist es zum ersten Mal passiert, dass ich in der Bahn aufschrecke und hektisch in meiner Tasche wühle, nur um dann festzustellen, nein, es ist nicht da. Nein, es ist nicht da. Aber Gott sei Dank leben wir in Deutschland im fast-digitalen Zeitalter und Tickets kommen per pdf und nicht mehr nur als Hardcopy. Würden wir woanders leben, hätten wir direkt ein Handyticket, also nur noch den QR-Code in irgendeiner App, aber eventim hat keine Ticket-App, dafür aber ein Ticketdirect, für das man sich beim Kauf entscheiden kann. Dann kommt das Ticket per Mail oder Downloadknopf im pdf Format zum ausdrucken. Ausdrucken, werden viele sagen, mache ich schon lange nicht mehr. Ich schon. Vielleicht nur aus reiner Gewohnheit und um später den Papierzettel archivieren zu können. So wie früher mit den Hardtickets. Seit Jahren sammle ich alle Tickets oder ausgedruckten pdfs in einer Schatulle. Doch jetzt liegt der Ausdruck zuhause, ich bin im Zug vor Weilerswist und versuche hektisch, mein eventim Passwort zu rekapitulieren. Es klappt beim zweiten Anlauf und rasch ist das Ticket erneut gedownloadet.
Okay, das hat geklappt. 45 Minuten später betrete ich das Palladium, die Vorband hat gerade angefangen. Es ist 10 vor acht und der Saal ist voll. Also so voll, dass ich nur mit Mühe in den Bereich vor die Theke an der Außenseite komme. Dort stehe ich eigentlich immer ganz gut, auch an diesem Abend. Einziger Nachteil: wenn man es nicht mehr weit genug nach vorne schafft, hat man einen der Pfosten im Sichtfeld. Heute schaffe ich es nicht mehr weit genug in Richtung Bühne. Ich habe einen der Pfeiler direkt im Sichtfeld. An diesem Abend ist seitlich der Bühne viel mehr abgesperrt als sonst und der Weg zum Erste Hilfe Bereich wird zurecht gnadenlos freigehalten. Kurz vor Ende der Umbaupause werden einige Mädchen hier hinkommen, um sich von der stickigen Hallenluft und der Enge der vorderen Reihen zu erholen. Die unzähligen Wasserflaschen, die permanent in die Zuschauer gereicht werden, helfen nicht allen.
Bereits zur Vorband ist die Vorfreude groß. Nicht bei mir, Muna kenne ich nicht und in den nächsten 40 Minuten liefern sie mir nur wenig Argumente, sie näher kennenzulernen. Der Bassist sieht aus wie Flea und tanzt Discofox. Davor posen die Sängerin, Gitarristin und Bassistin mal mehr, mal weniger nervig. Ich lasse Muna an mir vorbeiplätschern, die Unterstützung im vorderen Bereich des Palladiums ist dagegen mehr als wohlwollend. Ja, Muna ist zielgruppenorient ausgewählt. Musikalisch passt das ganz gut zu Boygenius. Als zum letzten Song die drei Boygeniusse auf die Bühne kommen, startet erstmals ein kollektives Gekreische. Es wird nicht das letzte Mal sein und die weiteren Male ist es sogar noch kreischiger! ‘War bestimmt auch so bei den Beatles’, denke ich und irgendwie bin ich irritiert. Und ich bin etwas überfordert. Auf dem Weg ins Palladium las ich zwar, dass sie demnächst im Madison Square Garden und in der Hollywood Bowl spielen und dachte, ‘ah okay, in den USA sind sie groß’, doch jetzt begreife ich, dass Boygenius auch hier groß sind. Aber wie und warum sind sie nur so schnell so groß geworden? Nach nur einem Album und zwei Hände voll gemeinsamer Songs?! Für mich ein Mysterium.
Klar, das Lucy Dacus Konzert letztes Jahr im Luxor war überragend schön, auch Julien Baker beeindruckte mich in der Kulturkirche. Aber das waren ganz andere Kategorien. Die Säle waren kleiner und gerade bei Julien Baker waren null Anzeichen von Hysterie. Das Publikum in der Kulturkirche war sicherlich doppelt so alt wie jetzt im Palladium. Beide Konzerte liefern mir keine richtige Erklärung für den steilen Aufstieg auf der Bandbeliebtheitsskala bei unter 25-Jährigen. Wie es bei Phoebe Bridgers war, die im E-Werk – und damit als einzige der drei in einer größeren Halle – auftrat, weiß ich nicht. Ihr Konzert habe ich verpasst. Natürlich wusste ich, dass das Palladium ausverkauft ist. Ist es seit langem. Ich hatte aber keine Ahnung um den Hype, den Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus mittlerweile verbreiten. Next Stopp dann mindestens Mitsubishi Halle, wenn nicht größer.
Zum Konzert. Ha ha, mit der Einspielung von Thin Lizzys „The boys are back in town“ beginnt das Konzert. Ein toller Einfall, wie ich finde. Das Licht geht aus, doch niemand kommt auf die Bühne. Den Opener singen Boygenius nämlich in den Katakomben des Palladiums. Eng zusammen stehen sie um ein Mikrofon herum. „Without you without them“ ist der erste Song des Abends, der erste Song des Boygenius Debüts The record. In verrauschten Bildern wird die Performance auf die Leinwand, die den gesamten Bühnenhintergrund umspannt, in den Saal übertragen.
Zwei Minuten später sind sie da. Phoebe Bridgers, Julien Baker, Lucy Dacus. Von links nach rechts. Dahinter auf Podesten unterschiedlicher Höhen die Band: Bassistin, Keyboarderin, Schlagzeugerin. Soweit ich das von meinem Standort aus überblicken kann, sind das alle Musikerinnen auf der Bühne. Da ich etwas später im Palladium bin, stehe ich ungünstig abseits der Bühne. Überdies ist einer dieser unsäglichen Pfosten, von denen es im Palladium 8 bis 10 gibt, in meinem Blickfeld. Es kann also sein, dass ich irgendetwas überhaupt nicht gesehen habe.
Neben mir stehen ein paar Eltern und blicken nicht sonderlich interessiert. Die Tochter ist sicherlich weiter vorne. Alle anderen um mich herum versuchen, das Beste aus dem vergleichsweise schlechten Platz zu machen. Egal, Handys mit Videoaufnahmen und zu starkem Digitalzoom oder Fotos mit zu kleiner Bühne und zu vielen Köpfen wechseln sich vor meinen Augen ab. Die Atmosphäre in der Halle ist angenehm und tolerant, die Musik von der Bühne ausnahmslos großartig. Boygenius spielen gute eindreiviertel Stunden, neben den gemeinsamen Songs auch Solo Sachen. Lucy Dacus beginnt mit „Please stay“ (einer der schönsten Songs, die ich kenne, nebenbei bemerkt), dann Julien Baker mit „Favor“ und Phoebe Bridgers singt „Graceland too“. Jede lässt jeder ihren Freiraum, nimmt sich zurück und ist gleichzeitig da, wenn sie gebraucht wird. Es ist ein konkurrenzloses Miteinander. Alle machen alles zusammen. Obwohl hier drei eigenständige und erfolgreiche Musikerinnen auf der Bühne stehen, habe ich nie den Eindruck, dass jede ihre eigene kleine Show abzieht. Selbst in den Solosongs sind sie irgendwie zu dritt, und sei es nur, dass Lucy Dacus bei „Graceland too“ die Keyboards spielt und Phoebe Bridgers auf diese Art unterstützt.
Eine Agentur hätte Boygenius nicht besser casten können. Julien Baker ist die mit den großen Rockgesten und die, die am impulsivsten auf der Bühne agiert. Phoebe Bridgers ist die, die am meisten mit dem Publikum spricht und die Interaktion sucht. Und dann ist da noch Lucy Dacus. Sie ist keines von beiden, sie wirkt von allen am unaufgeregtesten und ruhigsten. Ich finde, Lucy Dacus hat die schönste Stimme. Zusammen ergänzen sie sich perfekt und harmonieren bestens miteinander. Ihr mehrstimmiger Gesang klingt toll; musikalisch sind sie eh eine Klasse für sich. Solo, als auch zusammen als Band. Sie rocken, sie folken, sie balladen. Und egal, was sie machen, wenn Julien Baker zur E-Gitarre greift, geht ein jaulen und kreischen durch die ersten Reihen. Das ist auch nach einer Stunde Konzert noch so. Irgendwann habe ich mich tatsächlich daran gewöhnt.
Und immer wieder gibt es Unterbrechungen. Boygenius haben ein Auge auf ihre Fans. Wer braucht noch Wasser? Wo fehlt noch Wasser? Karrenweise schaffen die Ordner Plastikflaschen in die Halle und verteilen diese an hochgereckten Hände.
Vor der Zugabe bahne ich mir einen Weg nach hinten und dann raus. Die Bahn und so. Das vorgezogene Geburtstagspräsent und Ständchen an Phoebe Bridgers (die am nächsten Tag ihren Geburtstag feiern wird, dass klang während des Konzerts schon mal durch) in Form einer Torte verpasse ich dadurch. Manchmal geht eben nicht alles und da die vorherigen Minuten so grandios waren, ist es okay.
Himmel, was war das für ein tolles ‘großes’ Indierockkonzert. Vielleicht das Beste, das ich seit langem gesehen habe. Wenn Indierock in die großen Hallen geht, möge er bitte so aussehen. Es war ein Abend, der einfach Spaß machte.
Kontextkonzerte:
–
