Ort: Conservatoire de Luxembourg, Luxemburg
Vorband:

Amanda Palmer

Es waren sehr unterhaltsame drei Stunden. Doch darf ich das ob der Schwere der Geschichten, die ich in den nächsten Stunden hören werde, überhaupt so sagen?
Denn Belanglosigkeiten hat Amanda Palmer nicht zu berichten. Im Gegenteil. Sie wird von wichtigen, lebensverändernden Situationen erzählen, die mich keine Worte finden lassen. So empfinde ich es als schwierig und vielleicht sogar unwürdig, diese Geschichten, die nicht meine sind, mitzuteilen. Es ist ja nicht irgendein Tratsch und Klatsch des Nachbarn über seine Katze, den ich weitererzähle. Da hätte ich, ehrlich gesagt, keine Skrupel.
Amanda Palmer erzählt uns ihr halbes Leben, angefangen in Massachusetts, wie ihr Bruder sie musikalisch sozialisierte (‘Amanda, Madonna is ok, but you have to listen to The Cure!‘), über ihre Zeit als Austauschstudentin in Regensburg und über persönliche Schicksalsschläge. Und die sind es, die mich sprachlos zurücklassen: Ihre drei Abtreibungen und die Verarbeitungen der Bostoner Anschläge (Amanda Palmer lebte zur Zeit der Attentate in Boston) füllen unverblümt die ersten zwei Stunden und nach der Pause werden die Themen nicht minder emotional: ein Besuch in einem Gefängnis, in dem die ganz schweren Jungs mit Strafen größer 20 Jahren einsitzen (‘You killed a squirrel? That is rough, Amanda.‘), der Tod des besten Freundes und die erlittene Totgeburt füllen eine weitere Stunde. Es ging mir mitunter an die Nieren und ich bewundere die Art und Weise, wie Amanda Palmer uns völlig Fremden tiefste Einblicke in ihr Leben gab. Am Abend selbst dachte ich weniger darüber nach, aber an den nächsten Tagen wuchs mein Respekt vor dem, was und vor allem wie sie diesen Abend bestritt, immer stärker an. Boah, oft muss ich noch an die Geschichten denken.

This the strangest place on this tour. I am feeling like a teacher.

Sind wir hier richtig? Aus dem Haupteingang strömen Schulkinder, am Parkplatz vor der Tür warten die Eltern und das luxemburgische Militär. Das Musikkorps scheint auch hier zu üben. Teenager und Kiddies sitzen in der Cafeteria.
Aber das ist doch das Gebäude, das als Konzertort ausgewiesen ist? Ja, ist es.
Das Conservatoire, wer Französisch versteht ist klar im Vorteil, ist eine Musikschule am westlichen Stadtrand von Luxemburg. 1906 wurde sie gegründet und laut Wikipedia 1984 als Teil des Campus Geesseknäppchen neu errichtet. Der alte Gebäudekomplex war zu klein geworden. Das neue Gebäude verfügt auch über einen eigenen Konzertsaal mit einer großen Konzertorgel und spielt im Konzertleben der Stadt neben dem der Philharmonie Luxembourg eine bedeutende Rolle. Die Orgel sollte später noch zum Einsatz kommen…

Im Konzertsaal des Konversatoriums wird in anderthalb Stunden Amanda Palmer auftreten. Als wir den Merchstand in der Aula erblicken wissen wir, dass wir richtig sind.

Das Vorbild ihrer Their will be no intermission Tour lieferte Bruce Springsteen. Es ist eine der wenigen nicht heftigen Geschichten, die Amanda Palmer erzählt. Obwohl sie mit Bruce Springsteen nicht viel anfangen konnte und erst durch ihren Studienfreund David auf den Boss eingeschworen wurde (‘Amanda, nein! You should listen to Nebraska.‘) besuchte sie eine seiner Broadway Shows. In diesen Shows erzählte Bruce Springsteen über seine Kindheit, den Tod des Vaters und die Alzheimerkrankheit der Mutter. Das bestärkte sie – auch getrieben von der Aufforderung eines Yogalehrers (‘If you can you must‘) – ihre Geschichten auf die Bühne zu bringen. So entstand das Konzept zu Their will be no intermission: Schicksalserlebnisse in Verbindung mit den daraus entstandenen Songs.

Der Saal ist wunderbar und perfekt geeignet für diesen Abend. Die Sitze sind bequem, die Beinfreiheit ausreichend. Ein Sofa eines Therapeuten kann nicht bequemer sein. Den Vergleich finde ich gut, denn ich werde mich in den nächsten Stunden fühlen wie bei einer Therapiesitzung. Und er ist nicht allzu groß. Wir haben eine gute Sicht auf die Bühne. Doch die benötigen wir anfangs nicht. Mit der Ukulele in der Hand steht Amanda Palmer urplötzlich im linken der beiden Treppenaufgänge zu den Sitzreihen und spielt unverstärkt „Im my mind”. Das Konzert, bzw. – ja was eigentlich? – die Vorstellung beginnt. „Runs in the family“ bildet den musikalischen Einstieg in ihre Lebensgeschichte. Sie spielt es so, wie sie zuvor erzählt hatte, dass ihre Eltern nahezu daran verzweifelt sind, wie sie das heimische Klavier mit zu starken Anschlägen malträtierte und sehr oft dafür verantwortlich zeigte, dass der Klavierbauer immer wieder kleinere Reparaturen an dem Instrument vornehmen musste: laut, wild, roh. Amanda Palmer hämmerte auf die Tasten. Dann folgen all die anderen Erlebnisse. Musikalisch unterstützt durch fünf, sechs Songs, die sie entweder am Klavier oder auf der Ukulele spielt. Ein Highlight ist dabei definitiv das an der großen Konzertsaalorgel gespielte John Lennon Cover „Imagine“. Vor Konzertbeginn haben wir uns noch gefragt, ob auf dem Zettel, der an der Orgel liegt, ‘Berühren verboten‘ steht. Nun, es sind wohl eher die Noten und der Text zu „Imagine“.

Die Zeit rast förmlich. Als Amanda Palmer eine Pause ankündigt, ist es kurz vor 22 Uhr. Ups, ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit verging.
In der Pause unterhalten wir uns mit einem luxemburgischen Bekannten über seinen Bon Jovi Konzertbesuch im Londoner Wembley-Stadion. Unser Kontrastprogramm; dazu läuft The Cure aus den Lautsprecherboxen. Darkness and light.

Nach einer Viertelstunde übernimmt Amanda Palmer wieder das erzählen, bevor sie gegen 23 Uhr zum letzten Mal zur Ukulele greift. Zur Zugabe spielt sie „Ukulele Anthem” erneut mikrofonlos vor den ersten Reihen. Es ist eine Art Freischwimmer nach den nachdenklichen Momenten der vorherigen drei Stunden.
Ein Konzert, das lange nachhallt.

… and eat your fruit loops in the dark

Kontextkonzerte:
Amanda Palmer – Köln, 03.11.2012 / Luxor

Multimedia:

Amanda Palmer Conservatoire de Luxembourg 27.09.2019

Gepostet von Anna Radozda am Sonntag, 29. September 2019

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