Ort: Stadtgarten, Köln
Vorband:

Tocotronic

Ich fuhr an diesem Abend mit zwiespältigen Gefühlen in den Stadtgarten.
Tocotronic. Sagten mir ihre letzten Konzerte nicht eigentlich nichts mehr? Hatte ich mich nicht bei jedem Konzert etwas über sie geärgert, gab es nicht immer irgendwas, was mich nach diesen Abenden unzufrieden grummelnd nach Hause fahren ließ?
Tocotronic. Eigentlich waren sie doch live durch für mich.

Ja, so richtig dicke waren wir nicht mehr. Mein ganz großes bedingungsloses Fantum endete irgendwann zwischen K.O.O.K und dem weißen Album Tocotronic. Wann genau und warum, weiß ich nicht mehr. Vielleicht, so habe ich es mir abends überlegt, fehlte mir in dieser Phase das klassisch krachige der frühen Platten, vielleicht war ich noch nicht bereit und einverstanden, ihren nächsten musikalischen Schritt voll mitzugehen.
So kaufte ich eher halbherzig aber nicht nur aus Pflichtgefühl, ihre Platten und ging weiter auf ihre Konzerte. Ja, ihre Platten hörte ich nach wie vor sehr regelmäßig und oft. Unterschwellig sagte ich mir jedoch immer: Früher waren sie besser.

Meine Überraschung war groß, als ich beim ersten Durchlauf des aktuellen roten Albums erkannte, dass mir die Platte außerordentlich gut gefällt. Nachdem ich die Band im Kulturfernsehen mit ihrer Single „Die Erwachsenen“ gesehen hatte, war ich neugierig auf das neue Album. Im Internet entdeckte ich anderntags einen Vorabstream des erst in den nächsten Tagen zur Veröffentlichung anstehenden Albums. Ich hörte ihn so nebenbei. Wie man das eben mit Internetstreams so macht. Eine Art Fahrstuhlmusik am Computer. man arbeitet, und in einem zweiten Browserfenster läuft ein Musikstream.
Erneut fiel mir „Die Erwachsenen“ auf. Tatsächlich, der Bass und die Gitarre klingen wirklich ein bisschen nach The Cure und New Order. Als mir der Gedanke bereits bei ihrem Fernsehauftritt kam, mochte ich das noch gar nicht so recht glauben. Aber auch gleich der erste Song „Prolog“ des neuen Albums ließ mich aufhorchen, ebenso ein Stück weiter hinter in der Titelliste. Ich war beeindruckt, und das hatte ich nicht erwartet.
Voller Überschwang schrieb ich am Morgen vor dem Konzert einem Freund, „es sei ihr bestes Album seit 15 Jahren.“ Ob das jetzt so ganz genau passt, ich laß es mal dahingestellt, aber es trifft meine Begeisterung und Vorfreude auf den Abend im Kölner Stadtgarten voll und ganz.

Das Konzert war ein kleines. Quasi als warm-up Gigs vor der Festival und großen Konzerttour Saison im Sommer und Herbst hatten Tocotronic vier, fünf Konzerte in kleinen Läden angekündigt. Allesamt waren nach zwei Tagen ausverkauft. Ich hatte mich jedoch rechtzeitig um ein Ticket bemüht und stand nun, pünktlich um 20 Uhr, vor der Bühne. Als Betatester für die Tour- und Festival Setlist. Als live-vorab-Hörer der neuen Songs. Letzteres warf gleich die nächste Frage auf. Was werden Tocotronic an diesem Abend spielen? Nur die neuen Sachen?

Vor vielen, vielen Jahren sah ich die Hamburger zu ersten Mal. Es war beim 1996er Haldern, an einem Freitagabend zwischen Blumfeld und den Afghan Whigs. Das zweite Mal dann in Wattenscheid auf einer Freilichtbühne. Damals bespielte die Band zusammen mit den Sternen und anderen ein kleines Festival. Bis zu ihrem Auftritt saßen Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Jan Müller mit Freunden eine Reihe hinter uns auf den Sitzstufen des Freilufttheaters und schauten die Bands vor- und nach ihnen. Es war die Zeit von Wir kommen um uns zu beschweren und der Trainingsjacken. Die 1990er Jahre eben.

Doch von dieser Ära ist nichts mehr übrig. Schon lange nicht mehr. Erst ging der Krach, dann wichen die Trainingsjacken schwarzen Hemden. Ist das gut? Ja.
Denn auch Rockstars werden älter. Die Haare werden gräulich, die Hüftringe etwas breiter. So wie bei uns. Tocotronic sind mittlerweile zu viert, Rick McPhail unterstützt seit einigen Jahren an Gitarre und Synthesizern. Und Dirk von Lowtzow schrieb kürzlich Musik für eine Oper, wie ich letztens in Berlin erfuhr. „Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte“ heisst sie. Klingt wie ein Tocotronic Song.

Dieser Konzertabend war also ein kleiner, und es war ein wunderschöner! 100%ig spielte es der Schönheit des Abend in die Karten, dass Tocotronic „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung“ eben nicht spielten. Darüber hatte ich mich während ihrer letzten Konzerte geärgert. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung“! Quatsch. Das möchte ich nicht mehr sein. Seit Jahren nicht mehr. Ich wollte dieses Lied von Mittvierzigern nicht mehr hören. Ich nahm es ihnen nicht mehr ab. Es sagte mir nichts mehr. „Die Erwachsenen“ dagegen schon eher.
Im Stadtgarten spielten sie also nicht „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung“, stattdessen vom ersten Album „Freiburg“ und „Samstag ist Selbstmord“. Das geht.
„Samstag ist Selbstmord“ ist neben „Hi Freaks“ mein Tocotroniclieblingslied. Beide Stücke standen auf der Setlist. Noch ein Grund, den Abend wunderbar zu finden.
Mein wunderbar-finden begann mit „Hi Freaks“. Als die Band das Stück anstimmte, machte es plötzlich klick und aus einem bis dahin ganz okayen Konzertabend wurde ein sehr guter Konzertabend. Die gesamte Setlist erschien mir ab da perfekt. Tocotronic spielten einen guten Mix aus bekannten Sachen und neuen Stücken. „Die Grenzen des guten Geschmacks 2“ und „This boy is Tocotronic“ waren herausragend. Die neuen Stücke waren live so wie ich es aus dem Stream in Erinnerung hatte. Interessant fand ich, dass sie gefühlt gar nicht wie neue Songs klangen; es hätten auch gute alte B-Seiten sein können. Das zwischen „This boy is Tocotronic“ und „Freiburg“ eingeklemmte „Jungfernfahrt“ merkte man die aktuelle zeitliche Ära überhaupt nicht an. Die erhöre ich neben „Die Erwachsenen“ vielleicht noch bei „Rebel boy“. Die vier, fünf anderen neuen Songs passten gut zu den alten Stücken. Wie ich fand eine harmonische Setlist, die Tocotronic zusammengestellt hatten.
Das Konzert an sich war unaufgeregt. Nichts lenkte mich von der Musik ab. Ich schaute mich um, hörte der Musik zu. Tocotronic sind eine Familien- und Mehrgenerationenband geworden. Im Stadtgarten tanzt der Mittvierzigjährige neben einer 20jährigen. Und beide recken die Hände in die Luft und rufen „Let there be rock“.
Das ist schön anzusehen und ich bin endgültig erstaunt über mich selbst, als mir bewusst wird, dass ich auch an „Let there be rock“ hier und heute nichts zu mäkeln habe.

An diesem Abend passte alles, und auch nach dem Liveerlebnis bleibe ich dabei: das rote Album ist die beste Toco Platte seit 15 Jahren.

Kontextkonzerte:
Tocotronic – Gamescom Köln, 24.08.2013
BootBooHook Festival – Hannover, 24.08.2012
Tocotronic – Juicy Beats Festival, 31.07.2010
Tocotronic – Köln, 04.03.2010

Fotos:

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