Ort: Elbphilharmonie, Hamburg
Vorband:

Yann TiersenIle d’Ouessant. Eine Insel vor der bretonischen Küste. Die Ile d’Ouessant ist das westlichste Gebiet Frankreichs, lese ich im Internet. Ich sitze im Zug und bin auf der Rückfahrt vom gestrigen Yann Tiersen Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie. Die Ile d’Ouessant ist sowas wie Land’s End im Meer. Warum mich diese Insel so interessiert, hat mit dem gestrigen Abend zu tun. Natürlich. Auf der Ile d’Ouessant lebt Yann Tiersen und über just diese Insel handelt sein aktuelles, aber nicht mehr ganz so neues, Album Eusa.
Eusa ist ein Natursoundtrack, den der Franzose mit dem Klavier eingespielt hat. Unterlegt hat er seine Klimpertöne dabei nur mit allerlei Naturgeräuschen, auf weitere Instrumente verzichtete Yann Tiersen. 18 Tracks beinhaltet Eusa, kurze Interludi wechseln sich mit Songs ab. Ich kannte das Album bisher nicht, ich habe all das auf meiner Rückfahrt recherchiert und nachgelesen. Das vorabendliche Konzert hatte mich neugierig gemacht, mehr über die Songs zu erfahren, die ich dort gute 90 Minuten lang hörte.

Ey, schlecht vorbereitet, könnte man sagen, sonst hättest du doch gewusst, dass Yann Tiersen in der Elbphilharmonie ein Solokonzert geben wird und dort nur diesen Soundtrack auf die Bühne bringt. Ja, ich war ein wenig schlechter vorbereitet. Hätte ich von Eusa gewusst, hätte ich mir das Album sicher mal vorher angehört. Aber hey, bei so einem tollen Musiker ist das doch ein bisschen egal. Seine Qualität steht außer Frage und so ist es kein Fehler, sich mal überraschen zu lassen. Bei Yann Tiersen kann ich doch beruhigt die Katze im Sack kaufen, bzw. ein Konzert – noch dazu in der Elbphilharmonie – unvorbereitet besuchen. Denn egal ob solo am Klavier, oder mit Band und Sängerinnen vom Band, ein Yann Tiersen Konzert ist immer ein Erlebnis. Erst recht in der Elbphilharmonie. Enttäuschung ist da quasi per Definition ausgeschlossen.
So erlebe ich die 18 Tracks von Eusa live in der Elbphilharmonie zum ersten Mal. Kein schlechter Ort, um Musik kennenzulernen. 53:23 Minuten lang dauerte der Vortrag des Albums. Das Tonbandgerät, welches der einzige musikalische Begleiter des Klavier spielenden Yann Tiersen war, stoppte genau nach 53:23 Minuten.

Die Elbphilharmonie ist natürlich ausverkauft (ist sie ja immer) und sie ist ein wunderbarer Ort, an dem sicherlich jeder Musiker mindestens einmal gerne musizieren möchte. Warum also nicht auch der französische Multiinstrumentalist, Komponist und Produzent Yann Tiersen, der leider bei uns ein Schattendasein genießt und der mit seiner letzten Konzerttournee weit weniger große Säle bespielte als die Elbphilharmonie.
Hierzulande verknüpft man mit dem Namen Yann Tiersen meist seine Arbeiten zu den Filmen Die fabelhafte Welt der Amélie und Good Bye Lenin!. Beide Soundtracks sind schon gute 17 Jahre alt. Ob alle Filmfans darüber hinaus auch seine tollen Alben Dust lane oder Infinity gehört haben, weiß ich nicht. Ich habe die Filme nicht gesehen, aber ich kenne die beiden Alben. Sie sind von großer, dunkler melancholischer Schönheit und haben nur wenig mit den Soundtracks gemein. Hier klingen seine Songs nach einem dunklen Postrock Soundtrack; auf Infinity taucht urplötzlich eine Frauenstimme auf („Ar Maen Bihan“) und singt auf Isländisch sphärische Zeilen. Die Songs erinnern mich an Science Fiction Filme wie Alien oder The ring. Das Geigenspiel wirkt bedrohlich, nicht umschmeichelnd, die Synthesizersounds treibend. „Palestine“ von Dust lane ist so ein wunderbarer Song, der nach all dem klingt.

Auf der Bühne stehen ein Klavier, ein Tonbandgerät, ein zweites Mikrofon und am vorderen Bühnenrand zwei weiße Schubladenkästen. Das Bühnenbild ist reduziert, die vier Glühlampen als Bühnenbeleuchtung tun ihr Übriges, um diese Bild zu untermauern.

Um 20 Uhr tapst Yann Tiersen in grauer Wohnzimmerstrickjacke auf die Bühne. Ein bisschen verschlurft sieht er aus, so ganz anders wie das Philharmonie gestylte Publikum in den ersten und hinteren Reihen. Seine erste Amtshandlung gilt dem Tonbandgerät. Er schaltet es ein und leichtes Wind- und Meeresrauschen rauscht diffus durch die Lautsprecheranlage der Elbphilharmonie. Langsam legt er nach einigen Sekunden die Hände auf die Klaviatur und beginnt erst ganz leise, dann immer intensiver die Tasten zu drücken. Schnell werden die Naturtöne vom Band und das Klavierspiel zu einer Einheit. Die Spielsequenzen sind auf die Sekunde genau perfekt getimet. Kein Klavierton stört zwischenzeitliches Vogelgezwitscher, sanft ummantelt das Windrauschen die molligen Klaviertöne. Für 53:23 Minuten bildet sich ein Gesamtkunstwerk, das sich verdammt gut anhört.
Ohne Pause und Unterbrechung spielt Yann Tiersen, nur einmal, als nicht ganz klar war, ob ein Song zu Ende ist oder ob es nur eine sehr leise und sehr ruhige Sequenz in einem Songübergang ist, wird zart applaudiert.

Dieser Soundtrack lässt Platz zum Gedanken schweifen lassen. An welchem Ort mag ich mich befinden, welches Meeresrauschen höre ich? Nun, ich sehe gedanklich nicht das Mittelmeer. Ich sehe vielmehr schroffe Strände und eine zerklüftete Landschaft. Dünengras, viel Wind, dunkle Wolken, unwirsches Wetter, das sind die Bilder, die mir durch den Kopf gehen. Die Musik ist genauso grau und melancholisch.

Dass die Musik von Eusa als Soundtrack zur Ile d’Ouessant genau meine Bilder trifft, wußte ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht. Dass ich aber beim Hören genau diese Assoziationen habe, die Yann Tiersen beim Komponieren vorfand, werte ich als Qualitätszeugnis für die Musik.
Nach 53:23 Minuten schaltet sich das Tonbandgerät ab, das Konzert ist aber noch nicht vorbei. Yann Tiersen erhebt sich nicht für eine Abschiedsverbeugung, sondern er geht an das Mikrofon, öffnet den davorliegenden Geigenkasten, holt die Geige heraus und spielt weiter. Das Tonbandgerät bleibt stumm und so folgere ich, dass dieser und die nachfolgenden Stücke nicht von Eusa stammen. Nach der Geige geht die Reise weiter zu den beiden weißen Schubladenkästen, die für mich unsichtbar, zwei Spielpianos verbergen. Beidhändig greift er in die Tasten, spielt mit geschlossenen Augen einen Plastiksound, der so anders klingt als die Stücke davor.

Zweimal rochiert Yann Tiersen so zwischen den drei Instrumenten, greift zwischendurch auch einmal zur Melodica, bevor er zur Zugabe zurückapplaudiert wird. Noch ein Klavierstück, noch einmal die Geige, dann geht das Saallicht an. Qualität statt Quantität, sowohl bei der Spieldauer als auch bei der Instrumentalisierung. Yann Tiersen ist ein ganz Großer!

Kontextkonzerte:
Yann Tiersen – Berlin, 04.10.2014 / Huxley’s Neue Welt

Schreibe einen Kommentar