Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein! Ja, früher Mal, jedoch ohne Trainingsjacke und Cordhose, dafür mit x auf dem Handrücken, ohne den Sinn wirklich verstanden zu haben. Modeerscheinungen. Ähnlich wie kleine U2 Aufnäher knapp unter dem Kragen der Jeansjacke.
Herrje, das ist lange her, Michael Ende hat zwar nicht mein Leben zerstört, aber die Symptome der Generation X spürte ich allemal. Genauso wie diese drei Hamburger, die all diese tollen Parolen, diese Gedankengänge, denen man nur wissend zustimmen konnte, in famose Songtexte umwurschtelten. Das traf den Nerv und Tocotronic waren die Generationenmusik, die all das sagte, was man dachte.
In späteren Jahren kam dann der Bruch. Ihr wurdet komisch, oder ich merkwürdig, und eure Platten sagten mir nicht mehr viel. Live hatte ich Euch überdies nie verstanden. Bis auf ein, zwei Konzerte Mitte der 90er spürte ich immer eine Distanz zwischen mir und eurer Liveperformance. Es gelang mir nie, sie zu überwinden. Eure Konzerte wurden für mich schnell langweilig, die ewig neunmalklugen Ansagen nervten mich sehr und das Bühnendrumherum gefiel mir nicht. Einmal verließ ich euer Konzert noch vor der Zugabe, zur nächsten Tour kaufte ich mir erst gar keine Karte. Das weiße Album gefiel mir sehr, aber kurze Festivalauftritte, die ich von Tocotronic zwangsläufig sah, bestätigten mich immer wieder in meinen Gedanken, dass zwischen dem „die Platten mögen“ und „Live klasse finden“ unüberbrückbare Hürden stehen.
Als dann die Tour zur neuen Platte Schall & Wahn angekündigt wurde, kaufte ich mal wieder ein Tocotronic Ticket. In dieser Woche fragte ich mich des Öfteren, warum ich das tat. Das Album hatte ich nie wirklich konzentriert durchgehört, und durch meine in der Vergangenheit angesammelten Liveeindrücke erwartete ich auch keinen herausragenden Abend. Entsprechend gering war meine Vorfreude und ich hatte mich innerlich schon mit einem nicht so dollen Abend angefreundet.
Jedoch das war eine glatte Fehleinschätzung. Ich hatte die Rechnung ohne Tocotronic gemacht.

Erster Eindruck: Die Tocos haben die Uniformität abgelegt. Den schwarzen Hemden der Touren um die Jahrtausendwende folgte der selbstbestimmte Freizeitlook. T-Shirt, Hemd oder Polohemd, jeder so wie er möchte.
Zweiter Eindruck: Tocotronic gibt es 2010 ohne Keyboards. Das vierte Mitglied, Rick McPhail, zupfte nur die Gitarre. (Die Frage, ob er nicht ursprünglich als Keyboarder zur K.O.O.K. Tour in die Band kam, konnten wir nicht lösen.)
Dritter Eindruck: Trotzdem ist alles wie bisher. Als Opener spielten sie meinen Schall und Wahn Favoriten „Eure Liebe tötet mich“ und ich fragte mich, wie kann es jetzt nur besser werden. Es folgten die nächsten beiden Songs des Albums und alles sah danach aus, dass auch dieses Konzert auf eines meiner typischen Tocotronic Liveerlebnisse hinauslaufen wird.
Dann kam nach 20 Minuten „Aber hier leben, nein danke!“ und alles änderte sich. Seit langer Zeit kam ich wieder in ein Tocotronic Konzert. Einen richtigen Grund gibt es dafür nicht, ich merkte nur, wie sich auf einmal eine Tür öffnete, und mich herein bat. Endgültig war es dann, als Arne Zank sein Schlagzeug verließ, nach vorne kam und „Ich werde nie mehr alleine sein“ anstimmte. Auf diesen Moment hatte ich viele Jahre gewartet, ich glaube, in Wattenscheid auf der Freilichtbühne hatte ich Arne zum letzten Mal live ohne Schlagzeug am Bühnenrand stehen sehen. Ein tolles anderthalb Minutenstück, jenseits von aller Gesangskunst. „Bitte gebt mir meinen Verstand zurück“ noch schnell hinterhergeschoben, ich war begeistert. Viele andere auch, und so pogte und wogte das E-Werk vor sich hin. Das hatte ich nicht gedacht, dass die Tocos noch einmal in diese Kiste greifen. Sehr schön! Jetzt hatten sie gewonnen. Da sich Dirk von Lowtzow auch seine umständlichen Songansagen schenkte, die Rockstargesten mir nicht so viel ausmachten, konnte mit diesem Tocotronic Konzert nichts mehr schief gehen. Die Setlist gab ihr übriges. Kein Song vom weißen Album, nur „Let there be rock“ von K.O.O.K. Die Zeit um die Jahrtausendwende scheint also nicht nur stylisch zu den Akten gelegt worden zu sein.
So freute ich mich über lange nicht mehr gehörtes: „Jungs, hier kommt der Masterplan“, oder „Drüben auf dem Hügel“. Als zweite Zugabe noch „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ als Sahneklecks obendrauf. Bemerkenswert.
Bemerkenswert war auch die Umbaupausenmusik. Sanfte, sphärische, walartige Klänge säuselten durch den Raum und sorgten für eine entspannte Atmosphäre. Als Abspann nach der letzten Zugabe und dem kleinen Gitarrenfeedbackexkurs klang chansoneskes aus den Lautsprechern. Nein, nicht Marlene Dietrich oder die Knef, wie unser Umfeld vermutete. Das passte nicht. Unser Tipp lautete Milva. (stimmte jedoch auch nicht, wie ich heute per Mail erfahren habe: Ingrid Caven war’s!)
Kein Konzert des Jahres aber eine große Überraschung. Tocotronic sind mit ihren Anfängen zurück. Wenn das keine Nachricht ist. Wer also die 90er Tocotronic mag, dem sei der Besuch dieser Tour ans Herz gelegt. Wir sind hier nicht in Seattle, oder doch?

Multimedia:
Fotos: frank@flickr

Kontextkonzerte:
Bochum Total 2007

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