Ort: Botanique, Brüssel
Vorband: Deathcrash
Codeine. Beats per Millennium.
‘Fast so langsam wie der ICE am Nachmittag zwischen Aachen und Lüttich’, schrieb ich am Abend scherzhaft unter meinen Videopost vom Codeine Konzert. Aber Moment, zwischen Aachen und Lüttich existiert doch eine Hochgeschwindigkeitsstrecke entlang der Autobahn. Das stimmt, aber an diesem tag fuhr der ICE durch die Ardennen, und statt 15 Minuten Fahrzeit dauerte die Reise in diesem Streckenteilstück beinahe eine Stunde. Dafür fuhren wir durch enorm viele kleine Tunnel, durchqueren Städte wie Verviers und Welkenraedt, die durch aus einen Ausflug lohnen und konnten die Aussicht auf Felder und Wälder und hügelige Landschaften genießen.
Im Stress waren wir nicht, selbst um halb fünf waren wir immer noch zeitig in der belgischen Hauptstadt und zum obligatorischen einmal-im-Jahr-in-die-Botanique Konzert, wo an diesem Abend Codeine spielen sollten. Ich hatte das Konzert lange auf dem Schirm, entschied mich aber erst 10 Tage vorher dazu, wirklich hinzufahren. Relativ günstige Zugtickets (also günstig für eine Buchung 10 Tage vor Reisebeginn, warum kosten Tickets eigentlich nicht zeitunabhängig immer den gleichen Preis?) und eine gute Bleibe gaben schließlich den Ausschlag für ein ‘ja, hinfahren’. Noch vor ein paar Jahren wären wir einfach mit dem Auto hin und gut. Naja, im höheren Alter macht man Dinge anders.
Die Sonne drückt spätnachmittags wie im Hochsommer. In der Metro ist es kaum auszuhalten und auch in der Botanique steht die Luft. Nach halbstündiger Fahrt sind wir pünktlich vor Ort. Die Terrasse ist noch voll und der Saal leer, als wir auf die Vorgruppe warten. Draußen oder drinnen ist da egal; es ist überall gleich warm. Den Pflanzendschungel auf dem Weg zur Orangerie gibt es ja schon lange nicht mehr, sonst wäre die Luftfeuchtigkeit noch um ein paar Einheiten höher. Aber auch so reicht es.
Deathcrash eröffnen. Die Londoner Band klingt wie Mogwai vor 15 Jahren. Oder wie Godspeed You! Black Emperor. Das junge Quartett spielt Gitarrenrock mit elegischen Gitarrenparts und leise/laut Passagen. Dazu singt Sänger und Gitarrist Tiernan Banks enorm unaufdringlich und sanft. Ich denke jeder hat eine Ahnung davon, wie sich das anhört. Und wie gut das zu Codeine passt. Ihr aktuelles Album heißt Less und erschien vor einigen Monaten. In ihrem 30 Minuten Slot spielen sie drei Songs, vielleicht auch vier. Mehr aber auf keinen Fall. Deathcrash wirken auf mich durchaus interessant, ihre Gitarrenwände und Rhythmuswechsel werden selbst in den 10 Minuten Songs nie langweilig oder zäh. Ein guter, ein sehr passender Opener. Es ist ein schönes Konzert.
Nach einer halbstündigen Umbaupause stehen dann Codeine auf der Bühne. Mit diesem Konzert mache ich mein Chris Brokaw Triple komplett, nachdem ich dieses Jahr schon Come und vor einigen Jahren ein Solokonzert von ihm in Düsseldorf gesehen habe. Im Gegensatz zu Come sitzt Chris Brokaw bei Codeine am Schlagzeug. Die Gitarren spielen hier John Engle und Stephen Immerwahr, dessen Gitarre ein Bass ist. Mit Codeine veröffentlicht Chris Brokaw seine ersten Alben. Das war 1989, als die drei Protagonisten Codeine in New York ins Leben riefen. 1990 veröffentlichten sie das erste Album, Frigid Stars LP, zwei Jahre später die EP Barely Real und weitere zwei Jahre später mit The White Birch ihr zweites und letztes Album. Danach löste sich die Band auf; Chris Brokaw hatte zu diesem Zeitpunkt Codeine bereits verlassen.
Allerdings stimmt das mit den zwei Alben so bedingt. Denn da ist noch Dessau. Dessau wurde 2022 veröffentlicht, ein Album mit Songs aus der Phase von 1991 und 1992. Wie sagt man so, ein lost songs Album, ein Album also mit bisher unveröffentlichtem Material. Im Fall von Dessau stimmt das nicht ganz. Einige der acht Songs, die während der Aufnahmesessions im Harold Dessau Aufnahmestudio entstanden, fanden später ihren Weg in mehreren Versionen auf die EP und das letzte Album. Die damaligen Originalversionen sind jetzt auf Dessau zu hören. Warum Dessau seinerzeit nicht als reguläres zweites Codeine Album auf den Markt kam, erklärt Stephen Immerwahr kurz während des Konzerts. Man war mit der Qualität der Aufnahmen nicht ganz einverstanden. In einem Radio Deutschlandfunk Feature höre und lerne ich später, dass Stephen Immerwahr merkwürdig hohe Töne in seinen Gesangsaufnahmen hörte und seine Bandkollegen darum bat, die Aufnahmen nicht zu verwenden. So wurden diese Tapes nicht veröffentlicht. Der jetzige Release von Dessau ist der Grund dieser 10 Konzerte, die Codeine in Europa und Großbritannien spielen. Oder besser gesagt, zelebrieren. Die Konzerte der Band sind Pilgerreisen von Ü45-Jährigen, wenn ich der Berichterstattungen in den sozialen Netzwerken glauben mag. Viele ihrer Konzerte sind ausverkauft. Wie lange haben Codeine nicht mehr in Europa gespielt? Sehr, sehr lange, und wer weiß, ob sie es noch einmal tun werden. Die Aufgeregtheit um die Konzerte ist also sehr gerechtfertigt.
Die Mehrheit des Publikum in Brüssel (und sicher auch bei den all den anderen Konzerten) hat Codeine schon vor 25-30 Jahren gehört. Will sagen, es ist alt genug. Die Aufgeregtheit ob des Konzertes spielt sich eher innerlich ab, sie zeigt sich nicht in hektischen Getue im Saal oder vor der Bühne. Entsprechend entspannt geht es zu, man wartet entspannt auf der Außenterrasse der Botanique, bis es losgeht. In der Orangerie gibt es genug Platz, um ungestört vom Nachbarn das Konzert schauen zu können. Es ist bei weitem nicht ausverkauft. Bei der Hitze des Tages ist das ein guter Umstand. Denn es ist elendig warm und nichts ist da nerviger, als den Atem des Hintermanns oder den verschwitzten Oberarm des Nebenmanns zu spüren. Aber in dieser Atmosphäre lässt es sich aushalten. Direkt vor mir steht Gitarrist John Engle und ich spüre förmlich, wie er unter der Hitze im Saal leidet. Es hilft aber nix, es ist Konzertzeit und so kämpft er sich durch die 14 Songs. Codeine spielen in ihrem gut 75-minütigen Set drei Songs vom Dessau Album („Tom“, „Jr“, „Sea“) sowie fünf Stücke vom ersten Album Frigid Stars LP. Es ist ein altes Set, logisch, die Band hat seit Jahrzehnten keine Songs geschrieben. Aber sie haben ein Cover aufgenommen: Joy Divisions „Atmosphere“. Der Song ist Teil des Soundtracks der 2017er Netflix Serie Tote Mädchen lügen nicht. Der älteste Song ist damit der aktuellste Song auf der Setlist.
Es war ein schönes Konzert.
Codeine played slow; Brokaw once said he could “play a snare hit, go get a drink and be back at the drumkit before the next beat”. They shared their feel for space and tension with Slint, then laying the quiet/loud foundations of post-rock over in Louisville, Kentucky – but Codeine had little interest in the loud part. “Our music didn’t build and then bust out,” says Brokaw. “We were almost anti-catharsis. There was austerity to what we were doing, a delicacy.”
www.theguardian.com
Setlist:
01: D
02: Cigarette machine
03: Barely real
04: Loss leader
05: Median
06: Washed up
07: Tom
08: Jr
09: Sea
10: Pickup song
11: Atmosphere
12: Pea
Zugabe:
13: Cave-In
14: Promise of love
15: Broken-hearted wine
Pingback: pretty-paracetamol hat mitgefilmt: Codeine - Loss leader