Ort: Huxley’s Neue Welt, Berlin
Vorband: Lonski & Classen, Black English

Yann Tiersen

Als ich gegen halb zwölf Huxley’s Neue Welt verlasse und die Stufen zur U-Bahn Station Hermannplatz hinuntersteigen, sind die Betonstufen mit roten Tropfen gesprenkelt. In den Fußstapfen der vor uns gehenden verwischen die Tropfen noch leicht, es kann also noch nicht allzu lange her sein, dass hier jemand stark blutend die U-Bahnstation verlassen hat. Denn dass das Blut sein muß, ist offensichtlich.
Schneller als es lieb ist, werde ich also aus den träumerisch schönen, mal laut und mal leise gespielten Soundtracks des Franzosen Yann Tiersen gerissen, die mir nach dem tollen Konzert im Berliner Huxley’s Neue Welt noch im Ohr kleben. Back to Berlin, willkommen in der realen Welt einer Großstadt, die nicht immer viel mit der Schönheit von Jean Michel Jarre’esken Synthieklängen, schwungvollen Violinen oder melancholischen Klavierstücken gemein hat. All das konnten wir noch Minuten zuvor in der ersten Etage des Veranstaltungsortes Huxley’s Neue Welt mehr als genießen. Nun ist es meilenweit weg.
Das Huxley’s ist einer der wenigen Konzertsäle, die ich kenne, die in der ersten 1. Etage eines Gebäudes liegen. Überhaupt ist mir das in Deutschland noch nicht untergekommen, ähnlich wie im Glasgower Barrowlands oder der New Yorker Irving Plaza Treppenstufen zu einem Konzertraum zu erklingen. In Berlin war es nun soweit, und als wir oben ankamen, empfing uns ein großer, deckenhoher Saal in schönstem Altbauambiente. Nett, sehr nett und schön anzusehen. Groß und weitläufig wirkt der mit einem Holzboden ausgestattete Raum, die Bühne dagegen, genauso wie die Tribüne im hinteren Bereich aus einer Stahlkonstruktion, scheint lieblos hier hineingeflantscht worden zu sein; sie ist aber wohl eine Dauerinstallation.
Neben und hinter der Bühne ist noch genügend Platz für allerlei Dinge: die Sanitäter sitzen gemütlich auf einer Bierbank, Kinder (wahrscheinlich Familie der Musiker) spielen umher und die leeren Getränkekisten der angrenzenden Theke sind luftig bequem aufgestapelt. Es ist genügend Platz, und der Anblick entbehrt nicht einer gewissen Gemütlichkeit, die sich rasch auf mich überträgt.
Ruhig geht es zu, unaufgeregt. Der Saal ist gut besucht, aber sicher nicht ganz ausverkauft. Oder aber im vernünftigen Maße ausverkauft. So bleibt auch vor der Bühne genug Platz, um dem Nachbarn nicht allzu nah auf die Pelle rücken zu müssen. Gerade bei ruhigen, eher soundtrackhaften Konzerten ein nicht zu unterschätzender Punkt.

Denn dass dieser Abend eher ein ruhiger und instrumentallastiger als tanzbarer Abend werden wird, war schnell klar. Mit den Infinity– Songs „Meteorites“ und „Slippery stones“ beginnt Yann Tiersen das Konzert. Der Franzose kann viele Musikstile, als ausgewiesener Multiinstrumentalist spielt er gefühlt 100 Instrumente, an diesem Abend überwiegen jedoch seine ruhigeren Elemente. Sein aktuelles Album Infinity ist nicht so dramatisch laut wie zum Beispiel Dust Lane und nicht so düster rockig wie L’Absente, beides ältere Alben des Franzosen. Infinity klingt mystischer und tatsächlich irgendwie nach Island, wo es teilweise aufgenommen wurde.
Und Infinity ist das Haupt Thema dieses Konzertabends. So sitzt er an seinem Synthesizer und wir stellen dummerweise fest, dass wir an der falschen Bühnenseite stehen. Mehr als seinen Rücken sehen wir so vorerst nicht. Egal, denn Yann Tiersen ist nicht der Alleinunterhalter, der gerade mit seiner Band auf Tour ist, Yann Tiersen ist eher einer von sechs Musikern, die Yann Tiersen Songs spielen. So singt der Keyboarder/ Gitarrist/ Trommler vor uns sehr viele Songs, so übernimmt der Bassist die Ansagen. Yann Tiersen bewegt sich wie einer von ihnen, nicht wie der Chef einer Musikerbande. Wir als Publikum sind also nicht zwangsläufig auf ihn fixiert. Wir können uns ablenken lassen, den anderen Musikern zuschauen.
Denn es passiert auch viel spannendes: die Musiker wechseln fast nach jedem Song ihre Instrumente und tauschen Plätze, immer wieder eingespielte Samples (wie zum Beispiel vor „Ar Maen Bihan“) überbrücken die Sekunden zwischen den einzelnen Stücken. Auch Yann Tiersen bleibt nicht vor seinem Synthie sitzen. Er spielt Gitarre, Geige, und ein zweites Keyboard. Also genug Gelegenheiten für uns, den Franzosen auch von vorne zu betrachten.
Ein erster größerer Jubel kommt auf, als die Band zum ersten Mal zum Die fabelhafte Welt der Amelie Soundtrack greift. „La Dispute“ erfreut viele Leute im Publikum, ich erkenne das Stück erst gegen Ende, als das Geräusch der klappernden Filmrolle das Stück langsam ausblendet. Den Film, zum dem Yann Tiersen den Soundtrack schrieb und der ihn auch außerhalb Frankreichs bekannter machte, kenne ich gar überhaupt nicht.

In diesen Minuten ist bereits die Hälfte des Sets erreicht, und das Konzert steigert sich von Song zu Song. Manchmal ist es schwierig, bei Konzerten, in denen die Instrumente überwiegen und das Zuhören im Vordergrund steht, den richtigen Zugriff zu bekommen. An diesem Abend war das kein Problem, von Anfang an waren die Anstrengungen des Touristentages kein Thema und es fiel mir leicht, mich auf die Musik zu konzentrieren. Das war aber auch nicht schwer, da die Band immer noch eine Schüppe drauflegen konnte. Die Geige zum Beispiel holte Yann Tiersen erst sehr spät hervor, spielte sie dann jedoch so phänomenal, dass es von den Kennern Szenenapplaus gab. Die Geigenstücke waren die ‚lautesten‘ des Abends, und somit natürlich meine liebsten. („Palestine“, „Chapter 19“).
Aber auch die anderen Songs war großartig. Es gab es immer wieder was neues zu entdecken, hier die Automatica, da ein Sample, Geigen, Rasseln, Synthesizer.
Mal Chanson, mal Rock, dann wieder ein Klavier, das mich an Sophie Hunger erinnerte („Rue des Cascades“) und immer wieder die hier gar nicht schlimmen und kaugummigeschwängerten Synthieblöcke aus meist Songs des aktuellen Albums. Es war ein großes kunterbuntes Allerlei, das mich kurzweilig durch das Konzert führte.

Zum finalen „Lights“ durften die zuvor eine gute Viertelstunde lang den Abend eröffnenden Lonski & Classen mit auf die Bühne. Sie bildeten den „Lights“-Hintergrundchor, in dem pikanterweise die Musiker der eigentlichen Vorband Black English fehlten. Aber die waren in meinen Ohren auch entbehrlich; Black English war die schwächste Band des Abends. Man macht es mir immer schwer, wenn man zu offensichtlich einer anderen Band nacheifert. Hier war es so, dass der Sänger stimmlich (dafür kann er sicher nichts) und gesangstechnisch (dafür kann er sicher sehr viel) eine zu starke Ähnlichkeit zu Matt Berninger heraufbeschwor, die er auch noch durch Berninger typisches Bühnengehabe untermauerte. Und da nahezu jede Kopie schlechter ist als das Original, ist damit alles gesagt.
Viel angenehmer und deutlich besser war der Kurzauftritt der Berliner Lonski & Classen, die den Abend mit Elektroklängen sehr schön eröffneten. Das passte besser zu Yann Tiersen als die Poprocker aus Amerika.

Zwei Dinge muss ich noch kurz feststellen: Nein, Yann Tiersen sieht aus der Ferne nicht aus wie Christoph Waltz, wie jemand neben mir irgendwann bemerkte und – viel wichtiger – dank Shazam weiß ich nun, wie fürchterlich Angus & Julia Stone klingen. Ich hatte immer vermutet, dass ich die Musik des Geschwister-Duos nicht mag. Nachdem in der Umbaupause Werbefernsehen-Folk lief und die vor uns stehenden den Song Shazam-ten, habe ich Gewissheit.

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