Ort: Harmonie, Bonn
Vorband: White wine

TortoiseThe Catastrophist ist eines der Alben des Jahres, das ich bisher auch nicht gehört habe. Nach sieben Jahren ein neues Album der Band aus Chicago, die den Post-Rock in den 1990er Jahren mitprägte und mich seinerzeit mit einem mir merkwürdig vorkommenden Album komplett überforderte. 1995 hörte ich im Radio einen Instrumentalsong, und der Moderator machte im Anschluss ein Wortspiel über den Bandnamen und die Musik der Band. Die Band hieß Tortoise und mir blieb das bis zum nächsten Plattenkauf irgendwie im Gedächtnis. Also brachte ich Rhythms, Resolution & Clusters mit nach Hause. Und ich glaube, ich hörte die CD, ein Remixalbum, genau drei Mal. Das war mir zu anstrengend, zu unverständlich.

In den Jahren danach entdeckte ich dann Slint, Eleventh Dream day, viel später The sea and cake und ich lernte so nebenbei, dass all diese Bands etwas mit Tortoise zu tun haben. Sei es nur musikalisch oder das einzelne Musiker in dieser und jener Band mitmachten. So blieb der Name Tortoise immer in meinem Kopf. Als Anfang des Jahres dann The Catastrophist erschien, horchte ich kurz auf. Als ich die Band auf dem Primavera sah, war ich begeistert. „Swung from the gutters“ und „At odds with logic“, die letzten beiden Songs des damaligen Sets, (ich habe das nachgegoogelt), hauten mich förmlich weg. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich förmlich regungslos diesen letzten Konzertminuten zugehört habe. Es war mit das Beste, was ich dieses Jahr live sah.

Und so freute ich mich, als ich zufällig über die kleine Konzertreihe stolperte, die Tortoise auch nochmal in meine Nähe führte. Im Frühjahr noch hatte ich ihr Kulturkirchenkonzert verpassen müssen, dieses Mal kam mir die Absage einer Dienstreise so gelegen, dass ich umgehend ein Ticket für die Bonner Harmonie klarmachte.

Die Band kommt mit zwei Schlagzeugen. Mit zwei Schlagzeugern wäre falsch, weil John McEntire, John Herndon und Dan Bitney abwechselnd oder gemeinsam die beiden Instrumente besetzen. Bis auf Doug McCombs, der seiner Gitarre treu bleibt, ist Tortoise eine Sammlung von Multiinstrumentalisten. Jeff Parker spielt Gitarre, Bass und Glockenspiel, John Herndon Schlagzeug, Keyboard, Gitarre, Bass, Glockenspiel, John McEntire Gitarre, Keyboard und Elektrokrams, Dan Bitney Schlagzeug, Gitarre, Keyboard und Glockenspiel. Im Kern sind die heutigen Tortoise die der Gründerzeit. Einzig Jeff Parker kam erst Ende der 1990er Jahre zur Band. Zufall oder nicht, er sieht auch am jüngsten von den Fünfen aus.
Die beiden Schlagzeuge stehen am Bühnenrand. Die Rhythmussektion ist damit zwangsläufig der Blickfang. Ich habe keine Ahnung, ob die beiden Damen hinter mir Tortoise kennen, aber in der Umbaupause unterhalten sie sich darüber, wie toll es doch sei, eine Band mit zwei Schlagzeugern zu sehen. Diese ‘würden sich dann ja gegenseitig pushen‘. Dass nur selten beide Schlagzeuge besetzt sein würden, werden sie dann ja sehen. Hinten stehen ein Keyboard, ein Synthesizer und ein mit einem Dell Computer gekoppelter Sampler. Rechts und links der Schlagzeuge die Glockenspiele, ganz hinten noch ein Keyboard. Eine der wenigen Bands, die ich kenne, die keinen Apple nutzen, denke ich. Warum auch immer ich das denke.

Doch apropos, das Publikum ist gemischt. Ein paar Indiekids, ein paar ältere Jazzliebhaber und Typen wie ich; so würde ich aus meiner Beobachtersicht die Mischung bezeichnen. Vom Gefühl her passt das hervorragend zu Tortoise. Denn gerade das neue Album bedient sie alle. Es gibt ein paar Indiegitarren (nach wie vor), es gibt einige Synthiesongs, es gibt easy listening und jazziges. Von der Grundstruktur her ist es ein ruhiges Konzert und mir kommt der Abend eher wie ein Jazzkonzert vor. Das liegt an der Musik, logisch, aber auch am Ambiente des Konzertsaals.
Die Harmonie ist ein kleiner Laden; vorne ein Restaurant/Bar, hinten abgetrennt der Konzertsaal. Alles ist super ordentlich und sehr gemütlich. An der Wand hängen gerahmte Bilder bisher hier aufgetretener Künstler. Es sind Tische aufgestellt, das Publikum sitzt großenteils auf Hockern. Die Atmosphäre ist entspannt und ruhig. Tortoise Songs sind zuhör-Songs, tanzen würde schwer fallen. So ist die ausreichende Behockerung eine gute Sache, denn die Konzentration auf die Musik wird so nicht von müden Beinen abgelenkt.

Tortoise zeigen an diesem Abend eine enorme musikalische Vielfalt. Nach jedem Song wechseln die Musiker ihre Instrumente. Nach jedem Song wird eine andere Richtung präsentiert. Es ist Jazz, es sind Synthesizer, es ist easy listening. Aber immer sind die Songs instrumental. Bis auf eine Ausnahme: Bei „Yonder Blue“ wird der Refraingesang von Yo La Tengo’s Georgia Hubley eingespielt. „Yonder blue“ ist einer von zwei Songs, die auf dem aktuellen Album The Catastrophist mit Gesang – eben von Georgia Hubley – eingespielt wurden.
Die Band ist ein eingespielter Haufen. Das Konzert verläuft akkurat und ohne Aufreger. Kein Wunder, es sei ihr 100.stes Konzert in diesem Jahr, wie Doug McCombs zum Ende anmerkte. Das ist eine Menge, mein lieber Mann.

– We are a little bit worried about today.
– Do you like to talk about?
– Oh, no. Let’s play music.
– Oh come on, let’s talk about it.
– No.

Die Politik blieb für anderthalb Stunden draußen und der anbrechenden Nacht vorbehalten.

Die Vorband hat mich überrascht. White Wine kommen aus Leipzig und sind Joe Haege, Fritz Brückner sowie Christian Kuhr. Ich hatte bis dato noch nichts von White Wine gehört, auch die Referenznamen, sprich Bands, in denen die einzelnen Musiker bisher involviert waren, kannte ich nur vom Namen: 31knots, Tu Fawning, Menomena, Dodos, Zentralheizung of Death des Todes.
Irgendwie war ihr Sound von Beginn an spannend. Fagottklänge waren das erste, was ich höre, später dann ein elektronische Schlagzeug, Gitarren, ein richtiges Schlagzeug, Rasseln und Keyboard. Was dabei an Musik herauskam erinnerte mich an die experimentellen dEUS von Worst Case Scenario und My sister my clock, allgemein an Avantgarde Kram und windschiefen Indierock. Dass Joe Haege ein extrovertierter Frontmann ist, der auch vor zwei Ausflügen in den nahezu leeren Publikumsbereich nicht scheut, verstärkte die Wirkung der irgendwie aufgekratzten, aber doch melodiösen Stücke. Eine gute halbe Stunde spielten sie Sachen von ihrem aktuellen Album Who cares what the laser says?.

Beste Vorband des Jahres und bester Albumtitel des Jahres.

Kontextkonzert:
Tortoise – Primavera Sound Festival Barcelona, 03.06.2016

Fotos:

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