Ort: Tempodrom, Berlin
Vorband:

New Order

Alaaf. In Berlin ist vom Karneval allerdings und Gott sei Dank nicht viel zu spüren. Die Panzerknackerbande im U-Bahnhof Stadtmitte ist die einzige und traurige karnevalistische Erscheinung an diesem Abend. Karneval ist nicht des Preußens Tasse Tee.
Ich nähere mich dem Tempodrom, einer kreisrunden Arena im Zirkuszeltstil. Es ist bereits voll, als ich den Vorraum betrete. Das wundert nicht, den das Berliner Konzert ist, wie alle anderen New Order Shows der Tour, seit Wochen ausverkauft. Die Ü40 Gesellschaft hat mal wieder zugeschlagen und will sich den Abend voll Jugenderinnerungen nicht entgehen lassen. Ob jemand die neue Platte Music complete kennt? Ich tue es nicht. Waiting for the Sirens‘ Call, und das ist auch schon wieder gut 10 Jahre her, ist das letzte musikalische Zeichen, das ich von der Band habe. New Order, die Band, die die Kirmesdisco in Indiekreisen etabliert habt. Sie sind wieder da. Music complete sei weniger ‚rockig‘, so lese ich.

Als ich den Innenraum betrete, wummert der Technobass. Die Bühne ist leer, die Briten um mich herum schon angenehm voll. Genauso wie das Herrenklo. Himmel! Wenn die Schlange vor dem Herrenörtchen länger ist als vor dem Damenklo ist man entweder im Fussballstadion oder bei einem Britpopkonzert. New Order sind natürlich kein Britpop, aber sowas ähnliches. Und immer noch eine Art Jungensband. Oder Herrenband, wir sind ja nicht mehr in den 1990ern.
Es ist ihr einziges Deutschlandkonzert der Tour, und wer nicht gerade in der Nähe der belgischen Grenze wohnt, um sie live in Brüssel zu sehen, ist hier. Und auch überraschend viele Briten. Easyjet scheint es möglich zu machen. Der Stimmung ist das natürlich sehr zuträglich, auch dem Unterhaltungswert eines Konzertbeobachters. Es macht Spaß und steigert die Vorfreude, sich im rund des Innenraums umzuschauen.
Mein letztes New Order liegt lange zurück. Über ein Jahrzehnt. Es war in Köln, im Palladium, Anfang der 2000er Jahre. Die Band und vor allem Bernard Sumner hatten damals wenig Lust. Das Konzert begann verspätet und war sehr kurz. In einem Wort: es war grottenschlecht. Ursprünglich hatte ich danach mit der Band abgeschlossen, aber im Laufe der Zeit vergisst man ja so vieles. Auch schlechte Konzerte. (Und auch gute new Order Konzerte. In der nachrecherche bemerke ich, dass ich New Order auch 2011 in Brüssel gesehen habe. Pah, von wegen, jahre her!)

Das Live Album Live at Bestival setzte die Relationen neu ins Licht. ‚Sind ja live doch nicht so schlecht‘, denke ich jedes Mal, wenn ich Live at Bestival höre. Und da New Order New Order sind, stand es außer Frage, sie wieder sehen zu wollen. Große Hoffnungen auf ein außergewöhnlich gutes Konzert hegte ich trotz allem nicht. Bernard Sumner wird immer noch nicht richtig singen können, und ihr Ibiza-House Gestampfe wird mir mit der Zeit sicher nervig.
Dass es aber an diesem Abend anders kommt, ist somit schwer zu erklären. Natürlich ist da immer noch der schiefe Gesang, natürlich sind da die nahezu durchgängig die House-Klaviere und Ibiza-Sounds. Aber beides zusammen passt in den zwei Stunden Konzert irgendwie überein. Der Gesang stört nicht weiter, die Rave-Disco Beats dominieren und wummern so stark und schön (schön und Disco-Beat muss kein Widerspruch sein), dass das Konzert mit der ersten Sekunde Tanzspass verbreitet. Und tanzen muss man. Spätestens bei der Zugabe „Blue Monday“ beherzigt und versteht das jeder, „Blue Monday“ wird der krönende Abschluss des Abends.

I see a ship in the harbor

Das funktioniert auch in der Dorfdisco. Aber eben nicht nur dort.

In den 1980er Jahren gab es in Nordrhein Westfalen den Radiosender BFBS, den Rundfunksender der britischen Streitkräfte. Wenn Schulferien waren hörte ich morgens sehr oft BFBS. Jugendradio a la 1live gab es damals noch nicht, und BFBS hatte einfach die beste Musik von allen empfangbaren Radiosendern. „Blue Monday“ oder genauer „Blue Monday 88“ lief damals nahezu jeden Tag. Nach einigen Wochen habe ich es gehasst. Ich konnte mich mit der Remixversion und dem energischeren Tanzbeat nicht so recht anfreunden. Überdies war „Blue Monday 88“ gefühlt ewig lang, so dass ich immer ungeduldig auf den nächsten Song warten musste.
Live ist das natürlich eine ganz andere Hausnummer. Und wer dazu „Love Bizarre Triangle“, „Temptation“ und „True faith“ aufbietet, macht vieles richtig. Alles amtliche Welthits, die jedes Konzert zu einem besonderen machen, wenn sie den besonders gespielt werden. An diesem Abend spielen sie sie besonders; besonders lang. Waren das alles Mixversionen? Ich hatte den Eindruck, ohne dass ich mich besonders in der Mixhistorie der New Order Songs auskenne.
Diese Songs helfen über die schwächeren Momente des Konzertes hinweg. Denn ja, die Stücke von Music complete sind nicht durch die Bank stark. Sie wirken zeitweise wie Füllmaterial zwischen den Knallern. Der Vorteil an New Order Songs ist, man kann sie sich schön hören. Der Beat macht da einiges wett. Ich nehme als Songs wie „Tutti Frutti“ mit, wie ich früher in der Disco auch die schwächeren Songs einfach weggetanzt habe in dem wohlweislichen Gedanken, dass gleich wieder ein Lieblingslied kommt. So funktionieren auch die gewöhnungsbedürftigen Dancefloorsachen des neuen Albums gut. Leider kommt bei all dem Beat die ‚rockigeren‘ Stücke etwas zu kurz. Von Get ready spielen sie nur „Crystal“. Der einzige und kleine Wermutstropfen. Denn das eigentlich tolle an New Order Songs ist ja dieser Bass. Er ist nur rhythmusgebend, sondern auch melodienbestimmend. Genau wie bei The Cure. Ich mag das sehr, und da ich ihn an diesem Abend sehr oft höre, ist die Songauswahl okay.
New Order und Bernard Sumner scheinen an diesem Abend Bock zu haben. Einmal jedoch fühle ich mich an das Palladiumkonzert erinnert. Es ist der Moment nach „Temptation“, als der Sänger kurz und knapp ans Mikrofon tritt ‚That‘s it, ich bin kaputt‘ sagt und von der Bühne verschwindet. Ein Blick auf die Uhr lässt mich aber entspannen. Die haben da tatsächlich schon gute 100 Minuten gespielt. Da sei dem bald 60jährigen die Kaputtheit gegönnt. Dass seine Stimme gegen Ende des Konzertes immer dünner wurde, hatten wir schon festgestellt.
Zur Zugabe reicht die Luft aber noch, Zweifel hatte ich daran auch nicht wirklich. „Atmosphere“ und „Love will tear us apart“ müssen noch kommen; und sie kamen. Im Hintergrund läuft dazu der Schriftzug „Forever Joy Division“ über die Leinwand und es ist das Konterfei von Ian Curtis zu sehen.
Und dann „Blue Monday“. Richtig, das fehlte noch. Auch wenn es thematisch nicht gut zu den Joy Division Stücken passt, es muss gespielt werden.

I see a ship in the harbor

Bernard Sumner steht zusammen mit Keyboarderin Gillian Gilbert hinter den Keyboards. Sie sehen aus wie ein altes Ehepaar bei der gemeinsamen Küchenarbeit.

Wie sagte doch der Conférencier zu Beginn : “Please welcome New Order, the best Band of the entire world.“ Recht hat er! Aber sowas von Recht!

Setlist:
01: Singularity
02: Ceremony
03: Crystal
04: Age of consent
05: 5 8 6
06: Restless
07: Lonesome tonight
08: Your silent face
09: Tutti Frutti
10: People on the High Line
11: Bizarre Love Triangle
12: Waiting for the Sirens‘ Call
13: Plastic
14: The Perfect kiss
15: True faith
16: Temptation
Zugabe:
17: Atmosphere
18: Love will tear us apart
19: Blue monday

Kontextkonzerte:
New Order – Brüssel, 17.10.2011 / Ancienne Belgique

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