Ort: Columbiahalle, Berlin
Vorband: World Gang

Modest Mouse

Isaac Brock windet sich. Er reißt und zerrt an seiner Gitarre, drückt sie gegen seinen Oberkörper. Mit aufgerissenen Augen blickt er ins Publikum, dann wieder verschreckt zu Boden. Der Anführer von Modest Mouse spielt nicht nur seine Songs, er durchlebt und durchleidet sie regelrecht.
Seine Jugendjahre seien nicht leicht gewesen, las ich irgendwo. Schreibt er deswegen meist traurige Songs, die oberflächlich kaum einer als traurige Songs ausmacht? Schreit und tobt Isaac Brocks deswegen mehr als das er singt? Ich kenne einen ruhigen, ausgeglichen Song von Modest Mouse, es ist das wundervolle „The world at large“. Sie spielen ihn auch an diesem Abend. Als erste Zugabe.

Vor zu vielen Jahren waren Modest Mouse das letzte Mal in meiner Nähe unterwegs. Damals hieß ihr gerade veröffentlichtes Album We were dead before the ship even sank und Johnny Marr spielte noch Gitarre bei den Amis. Ihr Konzert in der Live Music Hall war schön. Wann war das doch gleich? 2007, 2006?
Vor ungefähr einem Jahr wollten wir Modest Mouse dann endlich mal wiedersehen. Groß war bereits die Vorfreude, als ein paar Monate zuvor erst ein neues Album, das erste seit jenem We were dead… aus dem Jahr 2007 und später eben eine Tour angekündigt wurden. Doch leider wurde die Albumveröffentlichung vertagt, wie schon ein paar Mal zuvor, und im Anschluss logischerweise die Tour abgesagt bzw. verschoben. Es blieb somit beim weiter warten und der Vorfreude, das da nochmal was kommen möge. Mindestens ein neues Album, mindestens eine weitere Tour. Mehr verlangt der Fan ja nicht. Und viel ist das doch nicht?
Im Frühjahr diesen Jahres war das Warten endlich vorbei: Strangers to ourselves wurde veröffentlicht und ein (!) Deutschlandkonzert angekündigt. Natürlich in Berlin, wo sonst. Da die üblichen und näheren Veranstaltungsorte wortwörtlich von Modest Mouse links liegen gelassen wurden, von Berlin ging es via Utrecht nach Großbritannien, hieß die Devise: Nix wie nach Berlin! Es hilft ja nichts, wenn die Band nicht zum Fan kommt, fährt der Fan eben zur Band.
Wenig überraschend wurde einige Tage nach Konzertankündigung der Veranstaltungsort den Bedingungen angepasst. Die größere Columbiahalle sollte es nun sein, ich war scheinbar nicht der Einzige, der auf Modest Mouse gewartet hat. Dass der Laden ausverkauft ist, versteht sich von selbst.

Es war einer dieser Konzertausflüge, die ich gerne auf mich nehme. Tags zuvor hin, tags drauf wieder zurück. Dazwischen etwas Stadtkultur und ein schöner Konzertabend. So lässt es sich aushalten, wenn es die Urlaubstage hergeben. Sie gaben es her und so war auch das angekündigte Sommerwetter keine größere Belastung. Also zumindest nicht vor und nach dem Konzert. Währenddessen war es natürlich fürchterlich verschwitzt und stickig, und ich stellte mir mehrmals die Frage, warum um Himmels Willen in Deutschland noch immer Skrupel bestehen, Konzertsäle auf eisige Temperaturen herunterzukühlen. Die Technik ist doch da. Und andere machen das auch. Hach, klebrige fremde Arme sind was Feines, und turnhallenmiefgeschwängerte Luft auch. Ich hoffe auf ein Einsehen in, sagen wir mal, drei bis fünf Jahren.
Ich komme zeitig an der Columbiahalle an. Unter den Oberrängen wollten ich unter keinen Umständen stehen, zu blechern und matschig sei hier der Sound, hieß es vorher. Zeitig bedeutet jetzt aber nicht sonderlich früh. Denn das Berliner Konzertpublikum ist in mindestens zweierlei Hinsicht berechenbar. Es kommt sehr zeitnah und meist erst während der Vorgruppe in den Konzertsaal. Das ist eine angenehme Marotte, es erspart einem viel unnütze Warterei vor der leeren Bühne. Eine Viertelstunde vor Konzertbeginn komme ich noch bequem bis ganz nach vorne.
Leider, und das ist die Berechenbarkeit Nummer zwei, gehört rücksichtslosestes Reindrängeln auch auf diese Liste. Nirgendwo empfinde ich es so schlimm wie in Berlin. Aber auch der späte Konzertgast erhebt eben Anspruch auf einen vorderen Stehplatz. Ob man ihm das eingestehen darf, ich glaube nein. Dass dieses egoistische Verhalten immer auf Kosten vieler andere geht, sieht er natürlich nicht. Ich kann das in der Columbiahalle beobachten, öfter als mir lieb war.

Ich hatte gedacht, das Publikum sei durchschnittlich älter. Ich irre, viele twentysomethings stehen in den ersten Reihen. Modest Mouse hatten ihre Hochphase vor knapp 10 Jahren, als erst Good news for people who like bad news (2004) und darauf folgend We were dead before the ship even sank (2007) die Charts stürmten. Daher liefen meine Altersrechnungen eher auf ein 35plus, ist aber nicht weiter wichtig.
Nach einer viel zu langen Umbaupause starten Modest Mouse mit einem längeren Intro und „Of course we know“. Die Band ist zu acht, spielt später auch zu neunt, als Trompete und Horn das von Isaac Brocks gespielte Banjo begleiten, was in Summe den schwächsten Song des Abends ergab („This devil’s workday“).
Ich mag diese irren Modest Mouse Ausflüge nicht, auch auf Strangers to ourselves sind mit „Pistol” ein solches Stück, das ich meist wegskippe. Dann doch lieber die dicken, klassischen Mathrock-Rocksongs: „The Ground walks, with time in a box”, wo vier Gitarren für die nötige Schwere sorgen, oder „Float on” und „Dashboard”, in denen das doppelte Schlagzeug die nötige Vertracktheit bringt.
Überhaupt stehen enorm viele Instrumente auf der Bühne. Ich zähle neben den beiden Schlagzeugen vier oder fünf Keyboards und Tasteninstrumente. Hinzu kommen die drei permanenten Gitarren, die beiden Bläser und nicht zu vergessen, Isaac Brocks‘, Jim Fairchild‘s und Lisa Molinaro‘s Gesang.

Isaac Brocks scheint ein komischer Kauz. In vielen kleinen Augenblicken wundere ich mich über den Modest Mouse Sänger. In nahezu jeder Songpause nimmt er ein Plektrum aus dem Halter und steckt es sich in den Mund. Anfangs noch dachte ich, er sei ein exessiver Kaugummikauer, bis ich merke, dass es sein Plektrum ist, auf dem er lutscht und kaut wie ich auf einem Minzbonbon. Man musste fürchten, dass er es vergisst und runterschluckt. Dazu starrt er mit großen Augen in die Menge, fixiert den ein oder anderen und sieht dabei aus, als würde er gleich ohne Grund lospoltern. Aber dann erzählt er nur. Irgendwas.
Überdies machen ihm seine Haare Probleme. Die sind nicht sonderlich lang, aber die Länge reicht, damit sie ihm ins Gesicht fallen. Und das mag er scheinbar nicht. Für seine Fischermütze ist es ihm jedoch in der Mitte des Konzertes zu warm, er erkundigt sich also im Publikum nach einem luftigeren Barett, bekommt aber nur zwei Haarspangen gereicht, die er erst mühsam fixiert, die dann aber sehr schnell wieder aus den Haaren rutschen. Und wieder erzählte er irgendwas.
Reden mag er gerne. Er findet den Fotografen vor ihm toll, dann ist irgendwas mit einem T-Shirt im Publikum. Ich verstehe sein Kauderwelsch nur bruchstückhaft. Als er längere Zeit mit einem Mädchen aus der ersten Reihe spricht, dauert es der Frau neben mir zu lang. ‚Shut up‘ ruft sie und wartet – genau wie die Band – ungeduldig darauf, dass es weitergeht. Isaac Brooks hört das, fragt erst ungläubig nach, ob sie das ernst meine, besinnt sich dann aber seiner Kernaufgabe und stimmt „Dashboard“ an.
„Dashboard“ ist einer von Modest Mouse’s Welthits. Er stammt aus der bisher besten Phase der Band, in der sie vom Kritikerliebling zum Musikzeitschriftenleserliebling wurden. Das Konzert ist bereits fortgeschritten, ich eigentlich schon glücksbedudelt. Die Amis haben bis dahin alles richtig gemacht, viele alte und ein paar neue Songs gespielt. Alles zusammen fühlt sich gut an, Modest Mouse machen großen Spass!
Noch richtiger machen sie den Abschluss des Konzertes, der mit „Doin‘ the Cockroach“, „Fire it up” und „The ground walks, with time in a box” überragend gut ist.
Am richtigsten entwickelt sich die Zugabe. Isaac Brocks E-Zigarette muss mittlerweile einer echten weichen, soweit waren wir schon. „The world at large” als erste und ein langgezogenes “The good times are killing me” als sechste und letzte Zugabe sind Höhepunkte des Abends. Ebenso „Float on“, schön passend in Kombination mit dem älteren „Interstate 8“ und dem neueren „Spitting venom“. Geht es besser? Ein bisschen vielleicht, es fehlen mir „We’ve got everything“ und „Florida“, aber ich sollte nicht zu viel verlangen. Zwei Stunden waren um und es war mehr, als ich vorher gedacht hatte. Und nun war es auch gut. Die Hitze drängt mich nach draußen.

Mathrock, Indierock, Post-Alternative, keine Ahnung, wie vielen Genres Modest Mouse zugeschrieben werden, aber in diesen Momenten erfüllten sie alle.

Für 2016 ist bereits das nächste Modest Mouse Album geplant, lese ich im Musikexpress. Dann soll auf wenigstens einem Song Ex-Nirvana-Bassist Krist Novoselic an der Gitarre zu hören sein. Ich bin gespannt.

World Gang. Das Vorprogramm ist ein DJ Set. DJ Sets im Vorprogramm empfinde ich meist schon als anstrengend, die wirklich guten, die ich sah, kann ich an einer Hand abzählen. Und wenn sich die beiden Akteure dann auch noch unter einer Goldfolie verkriechen, um ihre Computer zu bedienen (wobei ich mich frage, wie sie das machten, wenn sie doch mit beiden Armen die Folie über ihren Köpfen hochhalten mussten), macht das alles noch weniger Sinn. Im Publikum tanzt niemand. Ein schwacher Auftritt, auch, weil ich die Tracks nicht besonders innovativ finde.

Setlist:
01. Of course we know
02. Tiny cities made of ashes
03. Lampshades on fire
04. Ocean breathes salty
05. Dramamine
06. Dance Hall
07. Wicked campaign
08. Bukowski
09. This Devil’s workday
10. Coyotes
11. Dashboard
12. Doin‘ the cockroach
13. Fire it up
14. The Ground walks, with time in a box
Zugabe:
15. The world at large
16. Interstate 8
17. The tortoise and the tourist
18. Float on
19. Spitting Venom
20. The good times are killing me

Kontextkonzerte:
Modest Mouse – Köln, 03.07.2007 / Live Music Hall

Fotos:

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