Ort: Gebäude 9, Köln

Jochen Distelmeyer - Köln, 25.10.2010

Hamburger Schule Pop. (Kölner Stadtanzeiger)
Manche Tage verlaufen anders als andere. Und Montage erst recht. Für den frühen Abend war eine Eigentümerversammlung angesetzt. Zeitlich gar kein Problem, dachte ich noch vorher, Herr Distelmeyer sollte nicht vor halb zehn spielen und die Versammlung nicht ewig dauern. Um halb neun dachte ich so nicht mehr. Ich saß immer noch an diesem Tisch und diskutierte über Garagenstellplatzverordnungen, Mindestgrößen für Abstellflächen, Wege- und Nutzungsrechte, Plakatwände an denkmalgeschützten Hauswänden und zweckentfremdete Fahrradabstellräume. Ja ja, grau ist mitunter nicht nur die Theorie, sondern auch das wahre Leben. Und in diesem lief mir so langsam die Zeit davon. Als ich eine Viertelstunde später ins Auto stieg, und mich auf den Weg ins Gebäude 9 machte, hatte ich die Vorband logischerweise schon abgehakt.

Und innerlich auch schon den gesamten Abend. Ich mag es eher weniger, mich abzuhetzen und hopplahopp irgendwas zu erledigen. In gewissen Momenten mag ich Ruhe und Bedachtheit und so kam mir kurz der Gedanke, den kompletten Abend sausen zu lassen.
Wenn es jetzt im Gebäude 9 noch großartig voll ist, dann wäre mein Unglück komplett, dachte ich noch. Aber Glück gehabt Teil 1: Es war zwar voll, aber nicht großartig voll. Glück Teil 2: Ich kam genau pünktlich zu den ersten Klängen von „Wohin mit dem Hass“ in den Konzertsaal. Alle schlechten Gedanken und die Hektik davor waren zu diesem Zeitpunkt passé.
Herr Distelmeyer hatte gerade sein Konzert eröffnet. Das Sakko hing noch an seinem Körper, die E-Gitarre noch vor seinem Körper. Rotzig klangen die ersten Töne und ich war froh, schlussendlich doch hier zu sein. Alles schmeckte nach einem schönen Gitarrenabend in der Tradition der frühen Blumfeld Sachen.
Das käme mir sehr entgegen, denn in den letzten Jahren habe ich Jochen Distelmeyers musikalisches Schaffen komplett aus den Augen verloren. Beziehungsweise bewusst ignoriert. „Testament der Angst“ aus dem Jahr 2001 ist das letzte Album, was ich mir von Blumfeld gekauft und gehört habe. Seine anschließende pop- und schlageraffine Phase interessierte mich nicht, und auch sein erstes Soloalbum aus dem letzten Jahr ging an mir vorbei. Irgendwann kam dann noch eine Live CD Beilage in der Musikexpress. Die habe ich gehört, ein, zwei Mal und dann verloren.
Das sagt wohl alles darüber, wie es mit mir und dem Distelmeyer bestellt ist.

Trotzdem zögerte ich nicht, mir ein Ticket für das Konzert zu besorgen. Ein wenig Neugierde auf den bedeutendsten deutschen Musiker der 90er muss doch noch da sein.
Und der Beginn enttäuschte keineswegs. Der Rest des Abends übrigens auch nicht. Dass es nicht so „wuchtig“ weitergehen würde, wie es mit den ersten beiden Songs begann, war mir jedoch auch klar.
Jochen Distelmeyer sieht nicht nur alt aus (ich musste heute direkt nachschauen, Baujahr 67), sein Gesamtwerk bietet mittlerweile eine so große Facette, das Abwechslung garantiert ist. Nur 90er Hamburger Schule Gitarren wären da ungerecht.
So gab es viele Popanleihen in diesem Hopping durch die verschiedenen Alben, aber die ganz irren Schlagersachen bleiben aus. Irgendwann habe ich den Überblick verloren. Was ist vom Soloalbum, welche Stücke sind aus diesem Jahrtausend, welche aus dem letzten. In der ersten Hälfte des Konzertes, die nach einer Stunde beendet wurde, war es für mich nicht erkennbar.
Alles war Pop. Das Wuchtigere wurde entwuchtet, das Leise und Sanftmütige aufgebauscht. Das klingt nach Einheitsbrei, aber natürlich war es das nicht, vielmehr war es eine muntere Reise durch Distelmeyer’sche Songs.
Der zweite Part, sechs Songs umfassend, lag schwerpunktmäßig auf der „Ich Maschine“. „Von der Unmöglichkeit Nein zu sagen, ohne sich umzubringen“, „Sex.Bomben“ und „Aus Kriegstagesbüchern“ kamen hintereinander weg. Toll!
Distelmeyer covert Blumfeld.
Mit seichteren Gitarren entschärft passten die alten Hits gut ins neue Jahrtausend und zu einem älter gewordenen Musiker, der die Texte seiner Songs erlebt hat, aber rückblickend die Dinge abgeklärter sieht. Jetzt hatte sich der Abend für mich definitiv gelohnt.
Aber er war immer noch nicht vorbei. „1000 Tränen tief“, „graue Wolken“, „So lebe ich“. Was für eine feine Kombination. Zur digitalen Rhythmusmaschine sang Jochen Distelmeyer lasziv rauchend und tanzend: „Komm zu mir in der Nacht – wir halten uns umschlungen – bis der Tag erwacht – küss mich dann wie zum ersten Mal“.
Das hatte was von französischen Chansonniers und sah lustig ungelenk aus. Zu diesem Zeitpunkt stand er alleine auf der Bühne, seine Band kam erst gegen Ende des Songs zurück. Gemeinsam spielten sie noch in gefühlten Endlosversionen „graue Wolken“ und „So lebe ich“. Gerade letzteres, und zu diesem Zeitpunkt standen Herr Distelmeyer und Band bereits über zwei Stunden auf der Bühne, schien unzählbare Strophen zu haben. Ein never-ending Song, der aber doch irgendwann ein Ende hatte.
„Das war’s. Kommt gut nach Hause. Vielen Dank.“
Und auch wenn die Seitentür des Gebäudes 9 schon geöffnet wurde, das war es noch nicht ganz. Die vier auf der Bühne spielten noch eine Zugabe und erst dann war endgültig Feierabend.
Die vielen Minuten Distelmeyer sind um.
Gut war’s.

Multimedia:
Fotos: frank@flickr

Kontextkonzerte:
Die Sterne – Juicy Beats Festival, 31.07.2010
Tocotronic – Juicy Beats Festival, 31.07.2010
Tocotronic – Köln, 04.03.2010

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