Ort: Botanique, Brüssel
Vorband: Her name is Calla

I like Trains

Wir haben da so ein Traditionsding. Wenn es die Zeit erlaubt, und die erlaubte es bisher immer, kehren wir vor einem Konzertbesuch in der Brüsseler Botanique in einen in der Nebenstraße gelegenen türkischen Imbiss ein. Snack Le Botanique  heißt der Laden und er macht, wie so viele Gebäude und somit auch Imbissstuben in der belgischen Hauptstadt, einen leicht abgeramschten Eindruck. Aber das ist nur äußerlich, denn seitdem wir hier vor Jahren zum ersten Mal einkehrten, wurden wir nie enttäuscht.
Und so kommen wir immer wieder und schaffen zwischen Autofahrt und Konzert mit Pommes, Dürüm und Döner eine magenfüllende Grundlage für den Abend. Das letzte Mal war ich vor gut einem Jahr hier. Seitdem hat sich einiges geändert. Alles neu, könnte ich meinen und es scheint, als ob der Imbiss gentrifiziert worden wäre. An der hinteren Wand hängt eine New York Fototapete (allerdings eine ohne Blick auf Manhattan, sondern den East River entlang), das Mobiliar wurde ausgetauscht und an der Theke werde ich nun gefragt, welche Soßen und Salate ich zu meinem Dürüm/Döner haben möchte. Und es gibt Menüs zum Komplettpreis. Gott sei Dank hat sich die Qualität nicht verändert, der Laden ist nach wie vor top und weiterhin ein Imbissstubentip in der Nähe der Botanique.
Den Magen voller bester belgischer Pommes betraten wir Gegen halb acht die Botanique, wir waren entspannt im Zeitplan (bei Autofahrten nach Brüssel geht dieser nicht immer auf, daher ist das erwähnenswert) und wir konnten den Bands beim Merchaufbau vor der Rotonde zuschauen. Das I like Trains Konzert sollte im mittleren der drei Botanique Konzertsäle stattfinden. Ein kleinerer liegt im Keller, der grössere Saal weiter hinten in dem Gebäude, das vormals die Orangerie des königlichen botanischen Gartens war.
Her name is Calla lernte ich vor einigen Jahren kennen. Irgendwann mailte mich die Band an und fragte nach, ob ich nicht das ein oder andere Album der Band auf meinem Blog vorstellen möchte. Ich schrieb mit Sophie Green, der Violinistin der Band, ein paar Mal hin und her und war angetan von dem melodiösen Postrock der Band. Cello und Geige zur Gitarre von Tom Morris, das machte einen guten Eindruck und stimmte mich souverän auf den Abend ein.
Der Weg für I like Trains war damit bereitet.
Die Engländer feiern dieser Tage ihr 10 jähriges Bandjubiläum mit einer kleinen Tour durch sechs Städte Englands und Belgien sowie den Niederlanden. Ihr Geburtstagskuchen, soviel wurde im Vorfeld bekannt, bestand aus dem Spielen der kompletten Progress Reform EP und weiteren Songs aus der ersten Bandphase. In Songtiteln bedeutet dies, an diesem Abend hören wir:
01: Terra Nova, 02: No military parade, 03: A Rook house for Bobby, 04: Citizen, 05: The accident, 06: Stainless steel, 07: The Beeching Report.

Genau in der Reihenfolge. Ja, wenn es blöd läuft kommt ihr Kracher „Terra Nova“ – schon eines der besten 50 Lieder der Menschheit – direkt zu Beginn des Konzertes. „Terra Nova“ ist einer dieser Songs, die man nie vergisst. Dazu wird auf der Rückseitigen Leinwand, die leider nicht immer visuell gut ausgeleuchtet ist, der Weg von Robert Falcon Scott zum Südpol abgebildet. („Terra Nova“ handelt von der Entdeckung des Südpols)
Es kam blöd, aber das ärgerte mich nur kurzzeitig. Zu wunderbar ist diese EP, als dass „Terra Nova“ zu lange im Gedächtnis bleiben würde, „A rook house for Bobby“, nicht weniger schwach, „The accident“, „Stainless steel“ ebenso wenig. Allein schon für diese vier Songs hatte sich der Brüsselausflug mehr als gelohnt, neben dem Dürüm und dem belgischen Bier.

Albenkonzerte sind aus der Natur der Sache unüberraschende Konzerte, man weiß immer, welcher Song als nächstes kommt. Im Fall von Progress Reform – die übrigens kürzlich wiederveröffentlicht wurde – fiel das jedoch nicht ins Gewicht, da die Songs der EP schön aufeinander abgestimmt sind, und jeder für sich eine andere, dunkel-melancholische Geschichte erzählt.
Es gibt keine musikalischen Extravaganzen, alle Stücke der 2006er EP werden mit schweren Gitarren und düsteren Melodien vorgetragen, also sehr passend zu den Textinhalten, die nun wirklich nicht frohe Geschichten erzählen – ein weitverbreitetes Lieblingszitat sind die Anfangszeilen aus „Stainless steel“: Don’t go into the kitchen. That’s where the knives are.

Und wenn der baritone Gesang von David Martin erklingt, sein Oberkörper im Takt von links nach rechts schwankt, dann ist das einfach toll.
Vor einigen Jahren tourten I like Trains im Vorprogramm von Get well soon. Dass das zusammenpasst, fiel mir bei „Citizen“ auf und ein. Dieser Song hat viel von den GWS Stücken auf Listen! Those Lost at Sea Sing a Song on Christmas Day oder umgekehrt.
Das war noch die Zeit der Eisenbahnuniformen, die ich live leider nie gesehen habe. Mittlerweile belassen es I like Trains bei klassisch schwarzen T-Shirts als Bühnenoutfit. Meine Einstiegsdroge war He who saw the deep, ihr zweites Album. Aber allen voran die Progress Reform EP, die ich mir auf Empfehlung nur wenige Tage nach dem Albumkauf und nach meinem ersten I like Trains Konzert zugelegt hatte, ist so überragend, dass ich die Engländer noch mehr mochte als direkt nach diesem Konzert.

I like Trains erzählen auf dieser EP mit jedem Song eine andere wunderbar romantisch-melancholische Geschichte: Sei es über den Wettlauf zum Südpol, den skandalträchtigen Schwach-WM-Rückkampf Fisher- Spasski in Belgrad (“A rook house for Bobby“) oder wie in „The Beeching report“ die Reformbemühungen der britischen Regierung, die Eisenbahngesellschaft Großbritanniens zu sanieren. Musikalischer Geschichtsunterricht in Miniaturform.

Dabei verstehen es I like Trains wie kaum eine andere Band, die nordenglische Tristesse in ihre Musik zu fassen. Das wirkt immer elegisch und endet meist in minutenlangen Gitarren. Bei „Terra Nova“ hielten sie sich noch exakt an die 5 Minuten Albumlänge des Stückes, die letzten beiden Songs des regulären Sets ließen sie dagegen gemächlich ineinander schmelzen („The voice of reason“, “Spencer Perceval“).
Es waren zwei von fünf Songs, die nicht zur Progress Reform EP gehörten und die im Anschluss gespielt wurden. Da Progress Reform mit 37 Minuten für eine EP zwar eine gute, für ein Konzert aber eher eine suboptimale Länge hat, wurden Songs aus dem ersten I like Trains Album Elegies to Lessons learnt mit ins Programm genommen.
Die 10 Jahres Feier besann sich also komplett auf die Anfangszeit von I like Trains. Zumindest im regulären Konzertteil.
In der Zugabe wurden mit „The father’s son“ und „Reykjavik“ auch das aktuelle Album und sein Vorgänger bespielt und die Werksshow komplettiert.
Das passte.

Kontextkonzerte:
I like Trains – Köln, 19.01.2011 Gebäude 9
I like Trains – Köln, 29.10.2012 Gebäude 9

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