Ort: Kulturbahnhof Langendreer, Bochum
Vorband:

Die Sterne

Dieser fehlende Schneidezahn ließ mir lange Zeit keine Ruhe. Hatte meine Lüner Kieferorthopädien damals nicht immer gesagt, dass man mit schiefen (oder gar keinen Zähnen) nie im Fernsehen auftreten und bekannt wird – von berühmt erst gar nicht zu reden. Und so wurden mir alle Zahnspangenvariationen aufgezwungen: lose Spange, Spange mit Kopfgurt, feste Klammer. Scheinbar wollten meine Eltern, dass ich mal im Fernsehen auftrete, ich wollte das nie. Aber als Kind hat man die ungünstigere Ausgangsposition. Und wozu das ganze Malheur? Geholfen hat die Quälerei nur bedingt, aber meine Leichtgläubigkeit Zahnärzten gegenüber ist seit dieser Zeit fast auf den Nullpunkt gesunken.
Und überhaupt: Mit schlechten Zähnen wird man nicht berühmt! Wem als Antwort Frank Spilker nicht reicht (was ich durchaus verstehen könnte, denn die Sterne waren lange nicht im Fernsehen) dem rufe ich „Steve Buscemi“ entgegen. Und damit ist das Thema durch und die Überschätztheit kieferorthopädisch korrekter Zähne bewiesen. Aber spätestens mit der großen Verbreitung von Stevia als Zuckerersatz bekommen Zahnärzte sowieso ein Kundenproblem. Also genug der Sticheleien.
„Er hat immer Hunger, er muss immer essen“, meine Lieblingszeile von den Sternen und zugleich mein erster Sternekontakt. „Universal Tellerwäscher“ auf irgendeinem Kassettensampler. Lange ist das her, vielleicht 20 Jahre. In diesem Jahr werden die Sterne 20, so lese ich.

Begonnen hat die Geschichte im ostwestfälischen Provinznest Bad Salzuflen. Ende der Achziger veröffentlicht dort das Label „Fast Weltweit“ diverse Singles und Cassetten-Sampler. Aus diesem Umfeld stammen auch Jochen Distelmeyer (Blumfeld), Bernd Begemann und eben Frank Spilker. Der nennt seine zu der Zeit in wechselnder Besetzung auftretende Band Die Sterne.
1991 zieht Spilker nach Hamburg, lernt dort die anderen Bandmitglieder kennen und seitdem gibt es die Sterne, wie wir sie kennen. Nach ein paar Gigs als Serge-Gainsbourg-Coverband erscheinen erste Singles und Sampler-Beiträge bei L’Age D’Or. (laut)

Zur Feier hat die Band ein Album, besser eine EP mit alten Stücken neu aufgenommen. Ein Best-of aus den ersten Tagen plus zwei Coverversionen. „Sterne für Anfänger“.
In den 90ern waren die Sterne Teil der sogenannten Hamburger Schule, ein unsinniger Sammelbegriff für Bands, die deutschsprachige Popmusik abseits des Schlagers machten. Logisch, dass die Sterne dazugehörten, genauso wie Tocotronic und Blumfeld lebten und agierten sie in Hamburg und wurden die Aushängeschilder des deutschen Seattles.

Bald zählte man auch andere deutschsprachige Bands aus anderen Teilen des Landes zur Hamburger Schule. Es entstand zum Beispiel die „Hamburg-Ostwestfalen-Verbindung“: In Bad Salzuflen (Lippe) hatte sich eine eigene Szene deutschsprachiger Musik gebildet, aus der das Label Fast Weltweit entstanden ist. Zu den Gründern gehörten Frank Werner, Frank Spilker (Die Sterne), Michael Girke, Bernadette La Hengst (Die Braut haut ins Auge) und Jochen Distelmeyer (damals Bienenjäger, später Blumfeld). Die Hamburgverbindung entstand durch Bernd Begemann, der, auch aus Bad Salzuflen stammend, als erster nach Hamburg zog um dort die Band Die Antwort zu gründen. Dadurch traten immer wieder Fast-Weltweit-Bands in Hamburg auf, bis viele der Musiker schließlich selbst nach Hamburg zogen. Weitere Hamburger-Schule-Bands der ersten Generation stammen ebenfalls nicht aus Hamburg, wie Tilman Rossmys Die Regierung aus Essen, die Post-Funpunk Band Das neue Brot aus Emden, Mutter oder die Münsteraner Band Nagorny Karabach. (wikipedia)

Ich entdeckte die Sterne erst mit ihrem zweiten Album. Natürlich kannte ich „Universal Tellerwäscher“ (wer kannte es nicht?), aber um ehrlich zu sein war mir die Musik der Sterne immer zu „tanzbar“ und „funky“. Das lag mir damals nicht, es war mir zu weit weg vom Grunge und all dem SST Kram, den ich damals bevorzugt hörte. Für mich klangen die Sterne im Vergleich zu Blumfeld oder Tocotronic weniger rebellisch und wild (sie waren es natürlich nicht, ihre Sozialkritik war mindestens genauso hoch, sie schlug sich nur nicht im dramatischen Bass und lauten Gitarren nieder) und gerieten so ins Hintertreffen.

Die Sterne sind wohl die „funkigste“ Band Deutschlands. Wie kam es zu diesem Sound?
Nein, das stimmt nicht. Da würde man so richtigen Funk-Bands Unrecht tun, wie zum Beispiel den international bekannten und uns und Jan Delay in jeder Hinsicht überlegenen Whitefield Brothers. Wir sind eher eine vor sich hin rumpelnde Postpunk-Band, aber das hat ja auch seinen Charme. Das dachten wir jedenfalls vor zwanzig Jahren schon und so ist es dazu gekommen. Es gab einfach ein großes Interesse an uns bis dahin weitgehend unbekannter Funk-Musik.
(Interview)

Mit „Posen“ und „Von allen Gedanken schätz ich doch am meisten die Interessanten“ (bester Albentitel des Jahres 1997) kam ich später zu den Sternen. „Was hat dich bloss so ruiniert“ und „Ich scheiss auf deutsche Texte“ passten mir 1996 besser in den Kram als in den Jahren zuvor. Ich begann, die Sterne gut zu finden, auch weil ich dem Krach etwas abschwor und den ruhigeren Indiepop schätzen lernte. Und die Sterne gehörten dazu. Im neuen Jahrtausend wurde es dann ruhig zwischen uns, die Sterne Disco-sierung der letzten Jahren lief komplett an mir vorbei. Erst vor drei Jahren kam mir die Band wieder ins Gedächtnis zurück. Ich sah die Dokumentation „Sterne“ im Fernsehen. „Ach, die gibt’s ja auch noch!“. In einem Sommer dann war ich sehr angetan von ihrem Auftritt auf dem Juicy Beats und war, auch und gerade von den neuen Songs. Seitdem bin ich wieder aufmerksamer, verfolge die Sterne etwas konzentrierter.

Disco gab es auch gestern Abend im Bahnhof Langendreer. Und das nicht nur nach dem Konzert. Immer wenn Frank Spilker seine Gitarre ablegte, waren die Sterne bereit für ihre aktuellen Songs. Und er legte sie früh zur Seite und nahm sie erst spät wieder auf. Die obligatorischen „Big in Berlin“ (war nie mein Lieblingslied), „Universal Tellerwäscher“ (ist für immer mein Lieblingslied) und „Trrmmrr“ kamen früh, „Inseln“ und „Was hat dich bloß zu ruiniert“ gegen Ende des Konzertes. Dazwischen lag ein wundervoller und langer 24/7 Teil. Wer es bisher nicht wusste dem zeigte sich nun die gesamte Wandlung des Sternesounds. Weniger Tanzrhythmen der 90er, mehr Keyboards und Disco Beats aus den 90ern. Oh ja, die Sterne haben sich gewandelt. „Convienience Shop“, „Life in Quiz“, „Nach fest kommt lose“, “Depressionen aus der Hölle”, „Deine Pläne“ bildeten den stimmungsvollen Discoschwerpunkt. Frank Spilker tanzt wie ein Schlacks eben tanzen kann, sympathisch unbeholfen. Ach es war toll. Die Sterne schaffen es so unglaublich gut, Disco zwar nach Disco klingen zu lassen aber dabei nie die Oberflächlichkeit eines Discosounds zu erreichen. Diese prangern sie höchstens in ihren Texten an, musikalisch sind die mit Italo-Keyboard angereicherten Songs („Life in Quiz“) schlau.
„Wir spielen noch einen Song, den Schlussakkord“, kündigte Frank Spilker die letzten Sekunden des Konzerts an, nachdem sie mit „Neblige Lichter“ das große Ende bereits zelebrierten. Der Schlussakord dauert 10 Sekunden, dann waren gut 70 Minuten Konzert vergangen., als „Fickt das System“ als Zugabe das vermeintliche Ende des Abends bedeuteten. („Das Lied entstand vor 1992, damit ist das, was man überall liest, die Sterne würden dieses Jahr 20, als Lüge enttarnt.“ Spilker – kann man besser ein Über den Dingen stehen ausdrücken?).
Die Sterne müssen sich nichts mehr beweisen. Sie wollen nur unterhalten, einen netten Abend verbringen und Spass bei ihrer Arbeit haben. Und den hatten sie in Bochum. Und sie hatten noch eine offene Option: „Ob wir noch ein Stück spielen hängt von euch ab. Wenn mindestens fünf von euch auf die Bühne kommen und rauchen spielen wir noch einen Song. Ach ja, und tanzen müsst ihr natürlich auch.“ Schnell wurde so aus einem angenehmen Nichtraucherkonzert eine verqualmte Hinterhofkaschemmenkneipe. Dunstwolken nebelten uns zu, nicht nur von der Bühne. „Feuer frei“ war nun das Motto, „Stadt der Reichen“ ihr Soundtrack. Das mit dem Rauchen war keine gute Idee, denn auf einmal war es wieder wie früher.

Eine Vorband gab es an diesem Abend nicht. Stattdessen konnte man sich im angegliederten bahnhofs-Kino die Dokumentation „Sterne“ ansehen. Da ich sie bereits im Fernsehen gesehen hatte und eher enttäuscht war, ließ ich diese gelegenheit sausen.

Multimedia:
flickr

Kontextkonzerte:
Die Sterne – Dortmund, 31.07.2010

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