Ort: Harmonie, Bonn
Vorband: The sun and the wolf

Die Nerven

„Scheiss auf deutsche Texte“, ein Song von den Sternen aus dem Jahr 1996. Seinerzeit und in den Jahren zuvor war es in Popkreisen eher die Ausnahme, auf deutsch zu singen. Erst als der Underground Overground wurde und der HipHop immer wichtiger, wurden die Charts von deutschsingenden Bands erklommen. Eine Diskussion über eine Quotenregelung im öffentlich-rechtlichen Radio – wie man sie Anfang der 1990er Jahren diskutierte und forderte – wurde hinfällig. Fettes Brot, Die fantastischen Vier, Blumfeld, Tocotronic, Tomte waren der Anfang, später folgte eine ganze Reihe weiterer Bands. Heutzutage ist das mit der Sprache kein Thema mehr. Ich fand es eh eine komische Diskussion. Die Sprache ist doch ziemlich egal, Hauptsache die Musik stimmt.

„Du hast ja eben hoffentlich bemerkt, wovon die Rede war“, fragte der Mann in der Bar
während er für einen Freund simultan übersetzte. Ich sagte dazu „Alles klar“.
Und ich scheiß auf deutsche Texte.

Die Nerven und Messer waren meine muttersprachlichen Bandentdeckungen der letzten beiden Jahre. Postpunk, Gitarren. Das ist immer gut. Die beiden Alben Fun und Die Unsichtbaren hörte ich verdammt oft, es waren mir treue Begleiter bei meinen sonntäglichen Waldläufen. Diese Hibbeligkeit, dieses nach-vorne gehen passte und passt einfach zur sportlichen Aktivität. „Albtraum“, „Hörst du mir zu“, „Neonlicht“ und „Angeschossen“ sind irgendwie Zeitgeist. Die Nerven und Messer sind in ihrer Herangehensweise unterschiedlich, ihre Songs arg anders, aber Gemeinsamkeiten sind vorhanden. Dass beide Alben auf dem gleichen Label veröffentlicht wurden, ist sicher kein Zufall. Bei Messer bin ich gerade nicht auf dem aktuellen Stand der Dinge, die Nerven haben mittlerweile ein Nachfolgealbum veröffentlicht. Out. Und ich bin begeistert!

Vor vier Tagen hörte ich Out im Stream. Mal kurz reinskippen, während ich am Rechner noch Emails checke und umhersurfe. Doch alle Nebentätigkeiten konnte ich direkt einstellen. Gleich der erste Song „Die Unschuld in Person“ fesselte mich, er zwang mich gar, richtig zuzuhören. „Die Unschuld in Person“ ist ein Knaller. Die nächsten 40 Minuten saß ich vor dem Rechner, obwohl ich besseres zu tun hatte. Ungeduldig wartete ich auf den nächsten Song, ich war auf jeden einzelnen gespannt. Wie wird er klingen, was wird er bringen. Ich konnte es kaum abwarten, bis ein Lied endete und das nächste begann. Ich musste wissen, wie das Album weitergeht. Vorspulen war nicht, denn jeder einzelne Song ist einfach zu gut ist, um ihn abzuwürgen. Was war hier los? Was ist dieses Out für ein Album! Mittlerweile bin ich mir sicher, es ist eines der Alben des Jahres.
Ich muss lange nachdenken, bis mir einfällt, wann mir das zum letzten Mal mit einer Platte passiert ist: Ausharren und ungeduldig auf den nächsten Song warten.
Tja, zwei gute Alben en bloc, da warte ich ungeduldig auf einen Liveeindruck. Letztes Jahr im Dezember fiel er dem WeekendFest zum Opfer, im Sommer hatte ich dann von jetzt auf gleich keine Lust mehr auf den eingeplanten Phonopop Besuch. Als nun die ersten Tourdaten auch das Gebäude 9 ins Spiel brachten, war klar: hingehen. Als ich dann vor vier Tagen noch von dem Bonn Termin im Rahmen des Rockpalast Crossroads Festivals erfuhr, war unter dem frischen Höreindruck des neuen Albums auch klar: Hingehen.
Was mir beim Album hören sofort in den Sinn kam, war Blumfelds Ich-Maschine. Nicht nur die Retro Gitarre in „Die Unschuld in Person“ klingt nach Blumfelds frühen Sachen. Immer wieder höre und habe ich diese Assoziation, sie setzt sich bei fast allen Songs des Albums durch. Live ist das irgendwie anders. Da habe ich sie zu keinem Zeitpunkt gespürt und hätte ich vorher nicht Out gehört, ich wäre nie auf die Idee gekommen, diesen Vergleich heranzuziehen.

Mit „Die Unschuld in Person“ und „Albtraum“, eröffnen Julian Knoth, Max Rieger und Kevin Kuhn das Konzert und es scheint so, als wäre alles klar. Kurz und knackig, heftig und ‚punkrockig‘ (mir fällt nix besseres als Umschreibung ein) sind die ersten Minuten.
Doch wenige Augenblicke später ist nichts klar. Song drei oder vier ist überraschend lang; monoton spielen die Nerven unendlich lang den Gitarrenpart, stehen dabei wie angewurzelt und blicken leer über das Publikum hinweg in die Ferne. Act like Joy Division, möchte ich sagen. Auch wenn wir die britische Band live nie erlebt haben, irgendwie habe ich das Gefühl, ein Joy Division Konzert wäre so wie diese Minuten des Nerven Konzerts. Musikalisch als auch visuell.
Und ach ja, das Publikum. Es ist das falsche. Die Nerven ersetzen an diesem Abend, dem zweiten des Crossroads Rockpalast Festivals, eine andere Band, die ihr Konzert leider absagen musste. Und sie sind am falschen Ort. Der Rockpalast und gerade das Crossroads stehen für bodenständigen Rock, Bluesrock, Gitarrensoli und Musiker, die Schiebermützen tragen. Das Publikum ist entsprechend gepolt, durchschnittlich mittelalt und musikalisch eher den Stones, Deep purple, Black Rebel Motorcycle Club (BRMC) und ähnlichen Konsorten näherstehend als etwa Postpunk. Vor einigen Jahren sah ich hier …and you will know us by the trail of dead, die hatten es auch schwer und damals wie heute sprang der Funke zwischen Band und Publikum nie über.
Klar, man hatte in die Band ‚vorher mal kurz reingehört‘, so wie in alle anderen Sachen auch, die man in den nächsten Tagen hier sieht. Das Crossroads ist eine dieser Veranstaltungen, zu denen man geht, weil der Laden schön ist, das ein Rockpalast Ding ist und weil man sich als musikinteressierter Mensch doch gerne mal an vier Abenden für je drei Stunden zwei neue, unbekannte Bands anguckt. Es ist eine Musikveranstaltung mit Menschen, die sich während der Umbaupause eher über Rage against the machine Alben unterhalten als über Fugazi. Eine Fanveranstaltung ist das nicht, was hier stattfindet. Sicher, zwei Hände voll sind genau wegen den Nerven hier, aber sie reißen es nicht raus. Die Atmosphäre erinnert mich an diese SWF3 New Pop Veranstaltungen, in die ich auf 3sat immer mal wieder kurz aus Versehen reinzappe: fein in Szene gesetzt, perfekter Sound, aber auf diese Art und Weise steril wie ein OP Saal. Die Stimmung in der Harmonie ist komisch, und die Nerven tun gut daran, den einen oder anderen Song ineinander übergehen zu lassen.

Nach dem famosen Auftakt wird das Konzert ruhiger. Spielen sie die Songs länger als auf Platte? Es kommt mir so vor, Immer wieder höre ich lange Gitarrenparts. Das nimmt zwar viel von der Dynamik und von der Hibelligkeit der Plattenaufnahme, hat aber seinen Charme. „Hörst Du mir zu?“ wird unendlich schön gedehnt. Wäre das Konzert nach diesen ersten drei, vier Songs vorbei, es hätte und es wäre alles über die Nerven gesagt. Aber es ist noch nicht vorbei.

„Die Nerven sind das Beste, das ich gesehen habe, seit die Pixies auf ihrer ersten Tour im Vorprogramm von My Bloody Valentine spielten“.

Das sagt John Bramwell, der Sänger von I am Kloot. Das laß‘ ich mal so stehen. Die Nerven sagen nachher, dass sie vor dem Konzert sehr nervös gewesen seien. Das merke ich ihnen nicht an, das Set wirkt eingeübt und die Band eingespielt. „Barfuß durch die Scherben“ mit seinem sich anschleichenden Tanzflächenbeat hält das Tempo moderat bei. Das Konzert entwickelt sich wirklich nicht zu dieser heftigen Auseinandersetzung, die ich erwartet habe. Beispielhaft entdecke ich hierfür das nicht geschriene sondern geflüsterte ‚wie ohrenbetäubend muss ich noch werden‘ in „Nie wieder scheitern“. Die Songs bleiben auf dem Boden, die Lärmausbrüche beschränken sich auf wenige Augenblicke.
Sie spielen das Joy Division Cover „No love lost“ monoton und unaufgeregt. Schlagzeuger Kevin Kuhn singt einige Textpasssagen so schief und schräg, wie ich in einer Karaokebude Oasis‘ „Wonderwall“. Beides klingt nicht gut, stört aber im jeweiligen Umfeld nicht. Ich hätte mir lieber ein anders Cover gewünscht: „Ein Stern, der deinen Namen trägt“ von DJ Ötzi. Ich wette, dass hätte niemand in der Harmonie erkannt.
Die Nerven überzeugen mich. Das Konzert ist rund, es macht Spaß. „Der letzte Tanzende“ nach dem Joy Division Ding setzt den vorletzten Höhepunkt, „Nie wieder scheitern“ den letzten.
Die Nerven sind hier und jetzt nicht gescheitert. Es bleibt Gefühl, dass die Band an einem wichtigen Punkt ihrer Karriere angekommen ist. Wenn es gut läuft, und die Läden der anstehenden Tour voll sind, werden das bestimmt die letzten kleinen Konzerte der Nerven gewesen sein. Zu wünschen wäre es ihnen.

Die Band ist toll, und live eine Wucht. John Bramwell hat Recht!

Wenn während des Konzertes der Band The sun and the wolf der Barkeeper immer und immer wieder die Bierdeckel rechtwinklig auf dem Tresen ausrichtet und in 4×7 Matrizen verlegt, dann scheint ihm das Drumherum und die Musik nicht sonderlich nahezugehen. Und ich sag mal so, er war damit nicht allein.
The sun and the wolf mit Altherrenrock zu deklarieren ist vielleicht unfair, aber irgendwie ist das nun mal. Nicht mein paar Schuhe. Für viele im Publikum aber waren The sun and the wolf die bessere Band an diesem Abend.

Ich schaue mir die Nerven im Dezember noch einmal live an. Im Gebäude 9, vielleicht (noch) ihre natürlicherere Umgebung.

Setlist:
01. Die Unschuld in Person
02. Albtraum
03. Hörst Du mir zu?
04. Barfuß durch die Scherben
05. Irgendwann geht’s zurück
06. Blaue Flecken
07. Jugend ohne Geld
08. Dreck
09. Gerade deswegen
10. No Love Lost
11. Der letzte Tanzende
12. Morgen breche ich aus
13. Angst
14. Nie wieder scheitern

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