Ort: Theater Kampnagel, Hamburg
Vorband:
„I know it’s early Gonzo, but what do you think, could it be the time for some physical contact?“ Jarvis Cocker steht am rechten Bühnenrand, zeigt mit der Hand auf das im Hintergrund flimmernde Dia und stellt diese Frage seinem musikalischen Partner Chilly Gonzales. Gonzo, wie ihn Jarvis Cocker nennt, zuckt mit den Achseln. War das ein ‘ja‘? Für Jarvis Cocker schon.

Er schreitet in Richtung Klavier, stellt sich hinter Chilly Gonzales und legt ihm die rechte Hand auf die Schulter, während er mit der Linken das Mikrofon hält. Als Vorbild dient das Dia an der Bühnenrückwand. Es zeigt Clara, die Tochter von Mark Twain, wie sie hinter ihrem Klavier spielenden Ehemann steht. Ihre rechte Hand ruht dabei auf seiner Schulter.
Das ist die erste Geschichte des Abends zum Zimmer mit der Nr. 29. Zimmer 29 befindet sich im oberen Stock des Hotels Chateau Marmont (das lernten wir bereits drei Dias zuvor) und beinhaltet neben dem typischen Hotelzimmermobiliar Bett, Tisch, Stuhl, Schrank auch ein Klavier. Wie das Klavier in das Hotelzimmer kommt, ist nicht mehr hieb und stichfest überliefert. Man vermutet aber, dass Claras Ehemann irgendwie seine Finger im Spiel hatte. Es ist eine von vielen Geschichten, die Jarvis Cocker und Chilly Gonzales an diesem Abend im Theater Kampnagel erzählen. Alle drehen sich um das Zimmer 29 im Hotel Chateau Marmont. Alle stehen irgendwie unter dem Motto: Wovon träumen Menschen, die in einer Traumfabrik leben. Neben der Geschichte über Clara und ihren Ehemann hören wir Dönekes von Jean Harlow und Howard Hughes, Geschichten über Eiscreme oder den Zimmerjungen.

Zu jeder dieser Geschichten haben Jarvis Cocker und Chilly Gonzales einen Song geschrieben. Die heißen den auch passenderweise „Clara“, „Song for the bell boy“, „Howard Hughes under the microscope” oder “Ice cream as Main Course” und es sind Songs ihres Konzeptalbums Room 29, das im Theater Kampnagel zur Aufführung kommt. Room 29 handelt von den Geschehnissen und den Episoden, die sich in diesem Zimmer oder in diesem Hotel abgespielt haben. Und davon gibt es einige; das Hotel Chateau Marmont war und ist eines der großen Hotels Hollywoods.

Wikipedia weiß zu berichten, dass hier John Belushi nach einer Überdosis tot aufgefunden wurde, dass Helmut Newton hier starb, als er mit seinem Cadillac gegen die Mauer der Hoteleinfahrt raste, oder dass James Dean aus einem der Hotelfenster und Jim Morrison gar vom Hoteldach sprang. Britney Spears hat im Chateau Marmont übrigens Hausverbot, warum weiß ich leider nicht. Doch von diesen Tragödien hören wir an diesem Abend nichts. Wir hören eher Anekdoten von Clara, der Hochzeitsnacht von Jean Harlow oder von Howard Hughes, wie er mit dem Teleskop die Mädels am Swimming Pool beobachtete. Und wir hören Reisetipps von den beiden Musikern. So erfahren wir, dass Jarvis Cocker immer erst die Vorhänge vor seinen Zimmerfenstern zuzieht, nervige Hintergrundmusik nicht erträgt und ein paar persönliche Dinge im Hotelzimmer drapiert, um so der Anonymität des Raumes ein bisschen zu entkommen. Ach, und wir erfahren noch eine Menge mehr.

Und während die beiden so plaudern, eigentlich redet jedoch nur Jarvis Cocker, und Chilly Gonzales wirft ab und an einen Kommentar ein, werden Bildsequenzen oder kurze Einspieler auf die Bühnenwand projiziert. Diese werden erklärt, kommentiert oder einfach nur gezeigt. Wir sehen Slapstick-Filmschnipsel aus den 1930er Jahren, die an Stan & Olli Filme erinnern. Wir sehen Jarvis Cocker, wie er durch das Hotelzimmer wandert, in der Badewanne oder im Bett liegt. Über eine gute Stunde lang entwickelt sich so ein Abend mit einer Mischung aus Musik, Theater und Kurzfilmen.
Als Zugabe spielen sie den einzigen Song, der nicht von Room 29 stammt, aber natürlich etwas mit dem Thema Hotel zu tun hat: „Paper-thin Hotel“ von Leonard Cohen. Ein traumhafter Vortrag, der den Abend würdevoll beschließt.

Tags drauf sitze ich im Zug zurück ins Rheinland. Im Gepäck die Intro und die aktuelle Spex. In beiden Musikzeitschriften prangen Chilly Gonzales und Jarvis Cocker auf dem Titelbild. Die Musikjournaille scheint diese Zusammenarbeit besonders zu finden, wenn sie ihr gleich in zwei Zeitschriften eine Titelstory gönnt. Nur der Musikexpress (denn habe ich auch gekauft, die Rückfahrt ist lang) entschied sich für Depeche Mode auf dem Cover, berichtet aber auch über das Room 29 Projekt. Ich denke zurück an die beiden Abende im Theater Kampnagel. Waren sie diesen Ausflug wert? Sind sie es wert, dass sie in der Presse so stark erwähnt werden? Ich denke ja. Sie waren schon besonders.

Kontextkonzerte:
Jarvis Cocker – Köln, 25.01.2007 / Live Music Hall
Jarvis Cocker – Berlin Festival 2009
Jarvis Cocker – Primavera Sound Barcelona, 27.05.2011

Fotos:

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