Ort: Luxor, Köln
Vorband: The strange death of liberal England

Slut - Köln, 10.11.2010

Jetzt ist es wieder soweit. Der nasskalte Herbst ist endgültig da und schleicht sich in der früh beginnenden Tagesdunkelheit über den Asphalt. Die Zeit der leichten Übergangsjacke ist vorbei. Sie alleine schafft es nicht mehr, ausreichend Wärme am Körper zu halten. Eine Fleecejacke für drunter gehört wieder zur Pflichtausstattung, wenn ich mich abends auf zugigen Bahnsteigen rumtreibe. Ach ja, und erst ein Schal macht das urbane Herbstoutfit komplett. Aber der leichte Sommerschal reicht noch allemal. Noch.
Warum erzähl ich das? Ganz einfach, weil ich gestern Abend mit gefühlten vier Jacken am oder um den Körper wie ein Muli bepackt im Luxor stand und drei Stunden Musik sah.
Oh nein, es ist nicht die Kniepigkeit für den Garderobeneuro, es sind die (berechtigten) Bedenken, den planmäßigen Heimzug zu verpassen, weil die Jackenrückgabe länger dauert als vorher berechnet. Garderobenschlangen sind eine sehr unberechenbare Spezies. Und natürlich schlängelt sie sich immer dann sehr gemächlich Richtung Ausgang, wenn man es eilig hat. Und da der öffentliche Personennahverkehr nicht im 24/7 Rhythmus schlägt, sondern die letztmögliche Verbindung um kurz nach Mitternacht den Bahnhof verlässt, kann es schon mal sehr blöd laufen.
Erst recht, wenn man sich auf der sicheren Seite fühlt. „Ach, die spielen 90 Minuten, die Vorband ’ne halbe Stunde, da ist Zeit genug.“
Bei The strange death of liberal England und Slut dachte ich genau so. „Da ist Zeit genug.“ Von wegen, und Gott sei Dank handelte ich anders. Ansonsten hätte ich a) entweder eher gehen müssen, um rechtzeitig meinen Kram zu bekommen, b) ohne Jacken nach Hause fahren dürfen oder c) mir am Heumarkt einen Platz in der ersten Reihe suchen können. Um diese Zeit wäre das bestimmt noch möglich gewesen. Denn erst um kurz nach Mitternacht war das Konzert beendet und es war weise, meine Klamotten nicht abzugeben. Ja, es lief nicht so, wie ich es mir vorher ausgemalt hatte.

Gestern war ich auch wegen der Vorband da. Die derzeit allgegenwärtigen The strange death of liberal England sollten den Abend eröffnen. Seit Wochen gibt es kaum einen Musikblog, der nicht ein Videointerview, eine Plattenbesprechung oder wenigstens eine kleine Randnotiz zu den vier Jungs und einem Mädel aus Portsmouth im posting hat. Auch ich war der Versuchung erlegen, meinen Senf zu ihrem Debütalbum „Drown your heart again“ abzugeben.
Denn es hat es verdient. Die Platte ist toll, und live soll die Band ebenso begeistern. Habe ich gelesen.
Heute kann ich sagen: Stimmt. Sänger Adam Woolway ist ein famoser Frontmann mit großer Ausstrahlung und Bühnenpräsenz. Mit aufgerissenen Augen fixiert er die ersten Reihen und ließ so kurzzeitig Assoziationen zu dem ähnlich starr blickenden Frontmann einer anderen Band aufkommen, der gestern mit seinem Solodebüt in einem anderen Klub der Stadt gastierte. Genau, ich meine Paule Smith. Wie voll war es eigentlich im Gebäude 9? Das Luxor war gut besucht.
Bereits nach den ersten Klängen des Openers war klar, wir hatten die richtige Entscheidung getroffen, hier hinzugehen und nicht ins Rechtsrheinische zu fahren.

The strange death of liberal England spielten sehr gute 40 Minuten. Und ich war sehr überrascht, wie gut sie live sind. Konzerte dieser Band scheinen wirklich das zu halten, was man von ihnen sagt bzw. über sie liest. Die vier spielten ein souveränes Set mit allen Hits („Come on you young philosophers!“, „Rising sea“, „Autumn“, „Shadows“) und einigen weiteren Songs.
Ihr Auftritt brachte ihnen viel Aufmerksamkeit und Applaus. Gute 40 Minuten durften sie ran, und das war keine Minute zu viel.

Also, Vorband top, da konnte nicht mehr viel anbrennen. „Hallo, wir haben gerade unsere ersten beiden Alben erneut veröffentlicht und dies ist unsere kleine Tour dazu. Daher – um keine Fragen aufkommen zu lassen – werden wir erst Songs von diesen beiden Alben spielen und zum Ende hin mixen wir dann ein bisschen.“ Das nenn ich mal eine etwas andere Konzertansage. Ich glaube, diese Erläuterung von Christian Neuburger direkt zu Beginn des Slut Sets war überflüssig. Nachdem, was ich so beobachtet hatte, schien es mir, als ob alle Bescheid wussten.

Ich war nie ein sonderlich großer Slut Fan. Ende der 90er habe ich die Band zwei, dreimal in Vorprogrammen gesehen, an die ich mich nicht mehr näher erinnern kann. Dabei sind die Bayern eine deutsche Indieinstitution. (Also nur die fünf, nicht alle Bayern, und erst recht nicht der FC Bayern.) Die sollte ich eigentlich auf der Pfanne haben. Aber erst neulich entdeckte ich wieder ihr erstes Album in meinem CD-Regal. Und damit die Schönheit ihrer Songs. Wie konnte es mir nur gelingen, diese Band an mir vorbeiziehen zu lassen? Ich begreife es nicht.
Eine Stunde lang spielten die Ingolstädter gute, schöne Indiegitarrenmusik. So viele tolle, zeitlos klingende Songs hatte ich von ihnen nicht erwartet. Ich werde regelrecht überrollt von der Wucht ihrer Stücke und von dem hohen Grad an Melodieverständnis, das die fünf dabei an den Tag legen.
Es war ein Brett, das mir da entgegengeworfen wurde.
Knochentrockene Gitarren, schlicht und ergreifende Melodien. Großartig! Von Song zu Song kletterte der Abend in der Jahreskonzertrangliste nach oben.
„For exercise and amusement“ von 1996 und „Interference“ von 1998, das waren die Eckdaten der ersten Stunde. „Interference“, das wunderbare „I know“, “Soda“ oder „Homesick“ die dazugehörigen Songs. Passend zu den dunkleren Gitarren war die Bühne dezent bestückt. 5 schmale Leinwände reflektierten zart die Videoprojektionen, weißes und rotes Licht dominiert in der Bühnenbeleuchtung. Hier passte alles. Das war allergrößte Abendunterhaltung. Slut konzentrierten sich auf das Wesentliche. Für Deko- der Arty-Schnickschnack blieb kein Platz. Sehr beruhigend, das zu sehen. Das Luxor nahm die alten Songs dankbar auf. Leichtes Kopfnicken, zartes mitsingen, geschlossene Augen und verträumtes Grinsen gehörten gestern zur Publikumsgrundausstattung. Mir ging es da nicht anders.
Ein wild durchgetanztes „Cloudy day“ beendete den ersten Teil des Slut Konzertes. Bis dahin war ich schon völlig von den Socken. Ich hatte alles wichtige gehört, ich hätte gehen können. Machte ich natürlich nicht, denn der Abend war noch nicht vorüber.
Sechs weitere Songs sollten folgen, und, wie angekündigt, der „For exercise and amusement“ und „Interference“ Rahmen wurde dabei nicht mehr ganz so ernst genommen. „Mackie Messer“ und „Easy to love“ durften bei einem Slut Konzert natürlich nicht fehlen. Sie kamen jetzt. Zwei Kracher zur rechten Zeit. Den Abschluss und letzte Zugabe bildete nochmals alter Kram, „Virus“ vom 96er Album. Wie ich gestern Abend spontan feststellen musste, eines der besten Indiemädchenlieder, die je geschrieben wurden.
Ein feiner Song, ein würdiger Abschluss eines tollen Abends!

Multimedia:
Fotos: frank@flickr

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